21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil21.06.2017

Produkthaftung bei Impfstoffen: Indizienbündel kann zum Beweis des Ursachen­zusammen­hangs zwischen Fehler eines Impfstoffs und Krankheit ausreichend seinEuGH zu den Voraussetzungen beim Beweisen eines Impfschadens

Der Fehler eines Impfstoffs und der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem Fehler und einer Krankheit können bei fehlendem wissen­schaft­lichem Konsens durch ein Bündel ernsthafter, klarer und überein­stim­mender Indizien bewiesen werden. Die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, fehlende Vorerkrankungen bei der geimpften Person selbst und in ihrer Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle des Auftretens der Krankheit nach solchen Verabreichungen können gegebenenfalls hinreichende Indizien für die Erbringung dieses Beweises darstellen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Zwischen Ende 1998 und Mitte 1999 wurde Herr J.W. mit einem von Sanofi Pasteur hergestellten Impfstoff gegen Hepatitis B geimpft. Von August 1999 an traten bei Herrn W. verschiedene Beschwerden auf, die im November 2000 zur Diagnose einer Multiplen Sklerose führten. Im Jahr 2011 starb Herr W. Bereits 2006 hatten Herr W. und seine Familie Klage gegen Sanofi Pasteur auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihm durch den Impfstoff entstanden sei.

Nationales Gericht verweist auf fehlende Beweise für Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheit

Die mit der Rechtssache befasste Cour d’appel de Paris (Berufungs­gericht Paris, Frankreich)stellte u.a. fest, dass es keinen wissen­schaft­lichen Konsens gebe, auf den ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Hepatitis B und dem Auftreten der Multiplen Sklerose gestützt werden könne. Sie entschied, dass ein solcher ursächlicher Zusammenhang nicht bewiesen worden sei, und wies die Klage ab.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Die mit einer Kassa­ti­o­ns­be­schwerde gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris befasste Cour de cassation (französischer Kassa­ti­o­ns­ge­richtshof) möchte vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob sich das Gericht trotz des Fehlens eines wissen­schaft­lichen Konsenses und unter Berück­sich­tigung dessen, dass es nach der Richtlinie der Union über die Haftung für fehlerhafte Produkte* Sache des Geschädigten sei, den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zu beweisen, auf ernsthafte, klare und überein­stimmende Indizien stützen könne, um den Fehler eines Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und der Krankheit festzustellen. Im vorliegenden Fall wird insbesondere auf den ausgezeichneten früheren Gesund­heits­zustand von Herrn W., auf fehlende Vorerkrankungen in seiner Familie sowie auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Krankheit Bezug genommen.

Summe an Indizien als Beweis zwischen Fehler des Impfstoffs und Krankheit möglich

In seinem Urteil sieht der Gerichtshof eine Beweisregel als mit der Richtlinie vereinbar an, wonach das Gericht bei Nichtvorliegen sicherer und unwiderlegbarer Beweise auf der Grundlage eines Bündels ernsthafter, klarer und überein­stim­mender Indizien auf einen Fehler des Impfstoffs und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und einer Krankheit schließen kann, wenn ihm dieses Indizienbündel gestattet, mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrschein­lichkeit davon auszugehen, dass diese Schluss­fol­gerung der Wirklichkeit entspricht. Eine solche Regel ist nämlich nicht geeignet, zu einer Umkehrung der bei dem Geschädigten liegenden Beweislast zu führen, da der Geschädigte die verschiedenen Indizien zu beweisen hat, die es zusam­men­ge­nommen dem Gericht ermöglichen, sich vom Vorliegen des Fehlers des Impfstoffs und des ursächlichen Zusammenhangs zwischen diesem und dem erlittenen Schaden zu überzeugen.

Medizinische Forschung als einziger zulässiger Beweis würde mögliche Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers übermäßig erschweren

Der Ausschluss aller anderen Arten der Beweisführung außer dem auf medizinischer Forschung beruhenden sicheren Beweis hätte darüber hinaus die Wirkung, die Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers übermäßig schwierig oder, wenn aufgrund der medizinischen Forschung ein ursächlicher Zusammenhang weder bewiesen noch widerlegt werden kann, gar unmöglich zu machen, wo durch die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sowie deren Ziele (nämlich der Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher und die Gewährleistung einer gerechten Verteilung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller) beeinträchtigt würden.

Vorgelegte Indizien müssen hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sein

Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass die nationalen Gerichte dafür Sorge tragen müssen, dass die vorgelegten Indizien tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um den Schluss zuzulassen, dass das Vorliegen eines Fehlers des Produkts unter Berück­sich­tigung auch der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente als die plausibelste Erklärung für den Eintritt des Schadens erscheint. Zudem muss das nationale Gericht seine eigene freie Würdigung bezüglich der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, bis zu dem Zeitpunkt bewahren, in dem es sich in der Lage sieht, zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen.

Indizien für Fehler des Impfstoffs im vorliegenden Fall wahrscheinlich ausreichend

Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, das Fehlen einschlägiger Vorerkrankungen des Betroffenen und seiner Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle, in denen diese Krankheit nach solchen Impfungen aufgetreten ist, a priori Indizien darzustellen scheinen, die zusam­men­ge­nommen das nationale Gericht dazu veranlassen könnten, davon auszugehen, dass der Geschädigte seiner Beweislast Genüge getan hat. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn diese Indizien das Gericht zur Annahme bewegen, dass zum einen die Verabreichung des Impfstoffs die plausibelste Erklärung für das Auftreten der Krankheit darstellt und zum anderen der Impfstoff nicht die Sicherheit bietet, die man berech­tig­terweise erwarten darf.

Beweisführung durch Vermutungen unzulässig

Darüber hinaus führt der Gerichtshof aus, dass weder der nationale Gesetzgeber noch die nationalen Gerichte eine Art der Beweisführung durch Vermutungen einführen können, die es gestattete, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs automatisch zu begründen, wenn bestimmte konkrete, im Voraus festgelegte Indizien vorliegen: eine solche Art der Beweisführung hätte nämlich zur Folge, dass die von der Richtlinie vorgesehene Beweislastregel beeinträchtigt würde.

Erläuterungen

* Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwal­tungs­vor­schriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. 1985, L 210, S. 29).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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