22.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil19.01.2010

EuGH: Deutsche Regelung zu Kündi­gungs­fristen verstoßen gegen EU-Recht zur Alters­dis­kri­mi­nierungNicht­be­rück­sich­tigung von Beschäf­ti­gungs­zeiten vor dem 25. Lebensjahr diskriminiert Arbeitnehmer zu Unrecht

Die deutsche Regelung, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäf­ti­gungs­zeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden, verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 und ist vom nationalen Gericht auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten erfor­der­li­chenfalls unangewendet zu lassen. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entschieden.

In seinem Urteil Mangold aus dem Jahr 2005 hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters besteht, das als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen ist. Die Richtlinie 2000/78 über die Verwirklichung der Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf konkretisiert diesen Grundsatz. Diese Richtlinie verbietet die Diskriminierung wegen des Alters, gestattet aber dem nationalen Gesetzgeber, vorzusehen, dass eine Ungleich­be­handlung, obwohl sie auf dem Alter beruht, in bestimmten Fällen keine Diskriminierung und somit nicht verboten ist. Eine Ungleich­be­handlung wegen des Alters ist u. a. dann zulässig, wenn sie durch ein legitimes Ziel aus den Bereichen Beschäf­ti­gungs­politik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat, verbietet Diskri­mi­nie­rungen wegen des Alters.

Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Fall war Frau Kücükdeveci seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr bei dem Unternehmen Swedex beschäftigt. Im Alter von 28 Jahren wurde sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat entlassen. Der Arbeitgeber berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäf­ti­gungsdauer von drei Jahren, obwohl die Arbeitnehmerin seit zehn Jahren bei ihm beschäftigt war. Wie in den deutschen Rechts­vor­schriften vorgesehen, hatte er die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäf­ti­gungs­zeiten von Frau Kücükdeveci bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt. Frau Kücükdeveci klagte gegen ihre Entlassung und machte geltend, dass diese Regelung eine unionsrechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Die Kündigungsfrist hätte 4 Monate betragen müssen, was einer Betriebszugehörigkeit von 10 Jahren entspreche.

Beschäf­ti­gungs­zeiten vor dem 25. Lebensjahr im deutschen Recht nicht erheblich für Kündi­gungs­fristen

Nach deutschem Arbeitsrecht verlängern sich die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündi­gungs­fristen stufenweise mit zunehmender Dauer des Arbeits­ver­hält­nisses. Vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegende Beschäf­ti­gungs­zeiten werden bei der Berechnung jedoch nicht berücksichtigt.

Das als Berufungs­gericht angerufene Landes­a­r­beits­gericht Düsseldorf hat den Gerichtshof zur Vereinbarkeit einer solchen Kündi­gungs­re­gelung mit dem Unionsrecht und zu den Folgen einer etwaigen Unvereinbarkeit befragt.

Deutsche Kündi­gungs­re­gelung fällt in Anwen­dungs­bereich des Unionsrechts

Der Gerichtshof prüft diese Fragen auf der Grundlage des jede Diskriminierung wegen des Alters verbietenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wie er in der Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist. Da Frau Kücükdeveci nach dem Zeitpunkt entlassen worden war, bis zu dem die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie 2000/78 in inner­staat­liches Recht umzusetzen hatte, bewirkte diese Richtlinie nämlich, dass die deutsche Kündi­gungs­re­gelung in den Anwen­dungs­bereich des Unionsrechts fällt.

Kündi­gungs­re­gelung enthält Ungleich­be­handlung

Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Kündi­gungs­re­gelung eine Ungleich­be­handlung enthält, die auf dem Kriterium des Alters beruht. Diese Regelung sieht eine weniger günstige Behandlung für Arbeitnehmer vor, die ihre Beschäftigung bei dem Arbeitgeber vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aufgenommen haben. Sie behandelt somit Personen, die die gleiche Betrie­bs­zu­ge­hö­rig­keitsdauer aufweisen, unterschiedlich, je nachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetreten sind.

Obwohl die Ziele dieser Kündi­gungs­re­gelung zur Beschäftigungs- und Arbeits­ma­rkt­politik gehören und daher legitim sind, ist die Regelung zur Erreichung dieser Ziele nicht angemessen oder geeignet.

Regelung ist keine angemessene Maßnahme zur Schaffung perso­nal­wirt­schaft­licher Flexibilität des Arbeitgebers

Zu dem vom nationalen Gericht angeführten Ziel, dem Arbeitgeber eine größere perso­nal­wirt­schaftliche Flexibilität zu verschaffen, indem seine Belastung im Zusammenhang mit der Entlassung jüngerer Arbeitnehmer verringert werde, denen eine größere berufliche und persönliche Mobilität zugemutet werden könne, stellt der Gerichtshof fest, dass die fragliche Regelung keine im Hinblick auf die Erreichung dieses Zieles angemessene Maßnahme ist, weil sie für alle Arbeitnehmer, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon gilt, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind.

Unionsrecht steht deutscher Regelung entgegen

Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78, einer nationalen Regelung wie der deutschen entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäf­ti­gungs­zeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden.

Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ist allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts

Der Gerichtshof erinnert sodann daran, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Der Grundsatz der Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf wird in der Richtlinie 2000/78 jedoch nur konkretisiert. Zudem ist das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Es obliegt daher dem nationalen Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 anhängig ist, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erfor­der­li­chenfalls jede diesem Verbot entge­gen­stehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.

Nachdem er auf die Möglichkeit für das nationale Gericht hingewiesen hat, den Gerichtshof im Wege der Vorab­ent­scheidung um Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass es dem nationalen Gericht obliegt, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 sicherzustellen, indem es erfor­der­li­chenfalls entge­gen­stehende Vorschriften des inner­staat­lichen Rechts unangewendet lässt, unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch macht, den Gerichtshof um eine Vorab­ent­scheidung über die Auslegung dieses Verbots zu ersuchen.

Quelle: ra-online, EuGH

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