23.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil26.06.2018

Britische Regelung für Rentenbezug nach Geschlechts­umwandlung stellt unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darVerweigerter Anspruch auf Ruhestandsrente wegen nicht für ungültig erklärter Ehe nach Geschlechts­umwandlung diskriminierend

Eine Person, die sich einer Geschlechts­umwandlung unterzogen hat, darf nicht gezwungen sein, ihre zuvor geschlossene Ehe für ungültig erklären zu lassen, wenn sie eine Ruhestandsrente ab dem für Angehörige des erworbenen Geschlechts geltenden Alter in Anspruch nehmen möchte. Eine solche Voraussetzung stellt eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Eine Richtlinie* verbietet in Bezug auf staatliche Leistungen einschließlich Alters- und Ruhestands­renten die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Diese Richtlinie sieht eine Ausnahme von diesem Verbot vor, die es Mitgliedstaaten gestattet, die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Alters- oder Ruhestandsrente von ihrem Anwen­dungs­bereich auszuschließen. Das Vereinigte Königreich hat hiervon Gebrauch gemacht, wobei das Rentenalter für vor dem 6. April 1950 geborene Frauen 60 Jahre und jenes für vor dem 6. Dezember 1953 geborene Männer 65 Jahre beträgt.

Ehe aus religiösen Gründen nicht für ungültig erklärt

MB wurde 1948 geboren und bei der Geburt als männlich eingetragen. Im Jahr 1974 heiratete MB eine Frau. Im Jahr 1991 begann MB, als Frau zu leben, und im Jahr 1995 unterzog sie sich einer operativen Geschlechtsumwandlung. MB verfügt jedoch über keine vollständige Bescheinigung über ihre Geschlecht­s­um­wandlung, die nach der nationalen Regelung nur nach Ungül­ti­g­er­klärung ihrer Ehe ausgestellt worden wäre**. MB und ihre Frau wollten aus religiösen Gründen verheiratet bleiben.

Antrag auf Rente mit Verweis auf nicht vollständige Anerkennung der Geschlecht­s­um­wandlung abgelehnt

Im Jahr 2008 vollendete MB das 60. Lebensjahr und stellte daher einen Antrag auf Erhalt der staatlichen Ruhestandsrente. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie mangels einer vollständigen Bescheinigung über die Anerkennung ihrer Geschlecht­s­um­wandlung in Bezug auf das Rentenalter nicht als Frau behandelt werden könne. Gegen diese Entscheidung erhob MB Klage bei den britischen Gerichten. Sie ist der Ansicht, die Bestimmung, wonach sie nicht verheiratet sein dürfe, stelle eine gegen das Unionsrecht verstoßende Diskriminierung dar. Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine solche Situation mit der Richtlinie vereinbar ist.

Diskri­mi­nie­rungs­verbot gilt auch bei Geschlecht­s­um­wand­lungen

In seinem Urteil wies der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass er im vorliegenden Fall nicht mit der Frage befasst ist, ob die rechtliche Anerkennung einer Geschlecht­s­um­wandlung ganz allgemein davon abhängig gemacht werden kann, dass eine vor der Geschlecht­s­um­wandlung geschlossene Ehe für ungültig erklärt wird. Er stellt fest, dass die rechtliche Anerkennung der Geschlecht­s­um­wandlung und die Eheschließung zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betreffend den Personenstand fallen, die Mitgliedstaaten jedoch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit in diesem Bereich das Unionsrecht zu beachten haben, insbesondere den Grundsatz der Nicht­dis­kri­mi­nierung. Der Gerichtshof bestätigt seine Rechtsprechung, wonach die Richtlinie in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, auch für Diskri­mi­nie­rungen gilt, die ihre Ursache in der Geschlecht­s­um­wandlung des Betroffenen haben. Dabei ist für die Anwendung der Richtlinie von einer Geschlecht­s­um­wandlung auszugehen, wenn eine Person während eines erheblichen Zeitraums in einer anderen Geschlechts­zu­ge­hö­rigkeit als der bei ihrer Geburt eingetragenen gelebt und sich einer operativen Geschlecht­s­um­wandlung unterzogen hat.

Nach nationaler Regelung werden Person mit Geschlecht­s­um­wandlung nach Eheschließung unterschiedlich behandelt

Die Gerichtshof stellt fest, dass die Voraussetzung, wonach die Ehe für ungültig erklärt werden muss, damit eine staatliche Ruhestandsrente ab dem für Personen des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter gewährt werden kann, nur auf Personen anwendbar ist, die sich einer Geschlecht­s­um­wandlung unterzogen haben. Folglich wird nach der britischen Regelung eine Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlecht­s­um­wandlung unterzogen hat, weniger günstig behandelt, als eine Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist.

Sodann prüft der Gerichtshof, ob die Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlecht­s­um­wandlung unterzogen hat, mit der einer verheirateten Person vergleichbar ist, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat. Diese Vergleich­barkeit ist Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Ungleich­be­handlung eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.

Britische Regelung stellt unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar

Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass das gesetzliche System der Ruhestandsrente im Vereinigten Königreich gegen das Risiko des Alters schützen soll, indem es der betreffenden Person unabhängig von ihrem Ehestand einen Anspruch auf eine Ruhestandsrente verleiht, der nach Maßgabe der während ihres Berufslebens eingezahlten Beiträge erworben wird. Der Gerichtshof kommt in Anbetracht des Gegenstands und der Voraussetzungen für die Gewährung dieser Ruhestandsrente zu dem Schluss, dass die Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlecht­s­um­wandlung unterzogen hat, mit der einer verheirateten Person vergleichbar ist, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat. Das Ziel der Voraussetzung der Ungül­ti­g­er­klärung der Ehe (das darin besteht, gleich­ge­schlechtliche Ehen zu verhindern) hat mit dem System der Ruhestandsrente nichts zu tun. Folglich ändert dieses Ziel nichts daran, dass in Anbetracht des Gegenstands und der Voraussetzungen für die Gewährung der Rente die Situation der beiden genannten Perso­nen­ka­te­gorien vergleichbar ist. Da die fragliche Ungleich­be­handlung unter keine der nach dem Unionsrecht zulässige Ausnahmen fällt, gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die britische Regelung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt und somit nach der Richtlinie verboten ist.

Erläuterungen

* Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleich­be­handlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S.24).

** Die Rechtslage im Vereinigten Königreich hat sich geändert. Das Gesetz von 2013 über die gleich­ge­schlechtliche Ehe (Marriage [Same Sex Couples] Act 2013) trat am 10. Dezember 2014 in Kraft und erlaubt gleich­ge­schlecht­lichen Paaren mittlerweile die Eheschließung. Sein Schedule 5 änderte Section 4 des Gesetzes von 2004 über die Anerkennung der Geschlechts­zu­ge­hö­rigkeit (Gender Recognition Act 2004): Die Ausschüsse für die Anerkennung der Geschlechts­zu­ge­hö­rigkeit müssen nunmehr jedem verheirateten Antragsteller eine vollständige Bescheinigung über die Anerkennung der neuen Geschlechts­zu­ge­hö­rigkeit erteilen, wenn dessen Ehepartner zustimmt.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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