03.12.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil19.12.2012

Nach unfreiwilligem Verlassen des UNRWA-Einsatzgebietes kann ein Palästinenser als Flüchtling anzuerkennen sein ohne Erfordernis des Nachweises der befürchteten VerfolgungGerichtshof der Europäischen Union klärt Frage zur Anerkennung von paläs­ti­nen­sischen Flüchtlingen

Ein Palästinenser, der gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, wo ihm der Beistand dieser Organisation nicht länger gewährt werden kann, kann als Flüchtling anerkannt werden, ohne dass er zum Nachweis verpflichtet wäre, dass er Verfolgung fürchtet. Hat eine solche Person das Einsatzgebiet des UNRWA freiwillig verlassen, kann sie nur dann als Flüchtling anerkannt werden, wenn sie zum Nachweis verpflichtet ist, dass sie Verfolgung fürchtet. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Organisation der Vereinten Nationen hat das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Paläs­ti­naf­lüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) errichtet, um vertriebenen Palästinensern, die sich im Libanon, in Syrien, in Jordanien, im Westjordanland und im Gazastreifen befinden, Hilfe und Beistand zu leisten. Die Dienste des UNRWA sind grundsätzlich Palästinensern, die in diesen Gebieten leben und infolge der Konflikte in dieser Region Heim und Existenz­grundlage verloren haben, sowie ihren Nachkommen zugänglich.

Genfer Konvention definiert den Begriff "Flüchtling"

Die Genfer Konvention definiert den Begriff „Flüchtling“ dahin, dass er insbesondere auf jede Person mit „der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ Anwendung findet. Sie legt auch fest, unter welchen Umständen eine Person als Flüchtling anerkannt werden kann. Im Kontext der Europäischen Union sind die sich aus der Konvention ergebenden Verpflichtungen in die Richtlinie 2004/83 übernommen worden.

Genuss eines Schutzes oder Beistandes einer Organisation schließt Anerkennung als Flüchtling aus

Die Richtlinie sieht unter Verweis auf die Genfer Konvention vor, dass Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen wie des UNRWA – mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge –genießen, von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sind. Wird jedoch dieser Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz der Richtlinie.

Mehrere Staatenlose flüchteten nach Ungarn

Mehrere Staatenlose paläs­ti­nen­sischer Herkunft mussten die Flücht­lingslager des UNRWA im Libanon nach der Zerstörung ihres Hauses bei Ausein­an­der­set­zungen zwischen bewaffneten Gruppen oder nach Todesdrohungen verlassen. Sie begaben sich in der Folgezeit nach Ungarn, wo sie die Anerkennung als Flüchtling beantragten. Obwohl die ungarischen Behörden ihre Asylanträge abgelehnt hatten, gestatteten sie ihnen, in Ungarn zu bleiben.

Gerichtshof soll Frage zur Anerkennung als Flüchtling klären

Da die paläs­ti­nen­sischen Antragsteller die Flücht­lings­ei­gen­schaft erlangen wollten, wandten sie sich an das Fõvárosi Bíróság (Haupt­städ­tisches Gericht Budapest), das vom Gerichtshof wissen möchte, ob unter den gegebenen Umständen diese Personen im Gebiet der Union automatisch als Flüchtlinge anzuerkennen sind.

Keine Flücht­lings­a­n­er­kennung bei Schutz durch UNRWA

Mit seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof erstens darauf hin, dass Personen, die zur Zeit den Schutz des UNRWA genießen, nicht als Flüchtlinge anerkannt werden können. Außerdem genügt die bloße Abwesenheit dieser Personen vom Einsatzgebiet des UNRWA oder ihr freiwilliges Verlassen desselben nicht, um den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling zu beenden.

Wegfall des Beistands des UNRWA bei Nichterfüllung seiner Aufgaben

Der Gerichtshof stellt zweitens klar, in welchen Fällen davon ausgegangen werden kann, dass der Beistand des UNRWA in einer Weise nicht länger gewährt wird, dass paläs­ti­nen­sische Asylbewerber ipso facto die von der Richtlinie zuerkannte Flücht­lings­ei­gen­schaft genießen. So wird der Beistand des UNRWA nicht nur dann nicht länger gewährt, wenn dieses aufgelöst wird, sondern auch dann, wenn es ihm unmöglich ist, seine Aufgabe zu erfüllen. Desgleichen kann der Wegfall des Beistands auch auf Umständen beruhen, die, da sie vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, ihn dazu zwingen, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen. Diese Auslegung stehe im Einklang mit dem Ziel, die Fortdauer des Schutzes der paläs­ti­nen­sischen Flüchtlinge mittels eines tatsächlichen Schutzes oder Beistands zu gewährleisten.

Anerkennung als Flüchtling bei sehr unsicherer persönlicher Lage im Einsatzgebiet

In diesem Zusammenhang sei ein paläs­ti­nen­sischer Flüchtling dann als gezwungen anzusehen, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, wenn er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dieser Organisation unmöglich ist, ihm in diesem Gebiet Lebens­ver­hältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe im Einklang stehen.

Genuss des Schutzes der Richtlinie bei Nichtgewährung des Schutzes durch UNRWA

Drittens antwortet der Gerichtshof, dass dann, wenn der Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, die Personen, die diesen Schutz verloren haben, ipso facto den Schutz der Richtlinie genießen. Daher könne sich der Anspruch, der sich daraus ergibt, dass der Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird und der Ausschlussgrund entfällt, nicht auf die bloße Möglichkeit des Betroffenen beschränken, die Anerkennung als Flüchtling zu beantragen.

Genuss des Schutzes der Richtlinie bedeutet nicht Anerkennung als Flüchtling

Schließlich betont der Gerichtshof, dass der Umstand, dass eine Person ipso facto den Schutz der Richtlinie genießt, jedoch keinen bedingungslosen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling begründe. Zwar bräuchten die Berechtigten nicht notwen­di­gerweise nachzuweisen, dass sie Verfolgung fürchten, sie müssten jedoch, wie im vorliegenden Fall, einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellen, der von den zuständigen Behörden zu prüfen ist. Im Rahmen dieser Prüfung müssten diese nicht nur untersuchen, ob der Antragsteller tatsächlich den Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat und dieser Beistand nicht länger gewährt wird, sondern auch, ob bei diesem Antragsteller nicht einer der in der Richtlinie genannten Ausschluss­gründe vorliegt. Nach diesen Gründen seien von der Anerkennung als Flüchtling insbesondere Personen ausgeschlossen, die ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegs­ver­brechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder aber eine schwere nichtpolitische Straftat begangen haben, sowie diejenigen, die sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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