Das Gemeinschaftsrecht verlangt zwar, dass die Qualifikationen und die Erfahrung eines Bewerbers, der sein juristisches Diplom in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, in vollem Umfang berücksichtigt werden, es gebietet jedoch nicht, das Niveau der verlangten Kenntnisse des innerstaatlichen Rechts für einen solchen Bewerber zu senken.
In Deutschland sind für die Ausübung aller reglementierten juristischen Berufe der Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Studiums mit der ersten juristischen Staatsprüfung und der Abschluss eines Vorbereitungsdienstes mit der zweiten juristischen Staatsprüfung erforderlich. Dieser Vorbereitungsdienst dauert zwei Jahre und beinhaltet insbesondere Pflichtstationen, die bei einem ordentlichen Gericht in Zivilsachen, bei der Staatsanwaltschaft oder einem Gericht in Strafsachen, bei einer Verwaltungsbehörde und bei einem Rechtsanwalt stattfinden.
Nach deutschem Recht kann ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der in diesem Mitgliedstaat ein rechtswissenschaftliches Universitätsdiplom erworben hat, das dort den Zugang zu einer postuniversitären Anwaltsausbildung eröffnet, seine Kenntnisse und Fähigkeiten für mit den Kenntnissen und Fähigkeiten gleichwertig erklären lassen, die durch die bestandene staatliche Pflichtfachprüfung bescheinigt werden. Gegenstand dieser Pflichtfächer sind u. a. die Kernbereiche des deutschen Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts.
Die Gleichwertigkeit wird anhand des ausländischen Universitätsdiploms und der sonstigen vorgelegten einschlägigen Diplome und Nachweise beurteilt. Im Fall der Feststellung der Gleichwertigkeit wird der Betroffene zum Vorbereitungsdienst zugelassen. Ergibt die Prüfung keine oder nur eine teilweise Gleichwertigkeit, kann der Betroffene die Durchführung einer Eignungsprüfung beantragen.
Das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern lehnte es ab, Herrn Peœla, einen polnischen Staatsangehörigen, ohne Ablegung dieser Eignungsprüfung zum Vorbereitungsdienst zuzulassen. Vor seinem Zulassungsantrag hatte Herr Peœla an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Poznán (Polen) den Magistertitel sowie im Rahmen einer deutsch-polnischen Juristenausbildung an der Universität Frankfurt/Oder (Deutschland) die akademischen Titel „Master of German and Polish Law“ und „Bachelor of German and Polish Law“ erworben. Nach Auffassung des Justizministeriums können Kenntnisse in ausländischem Recht, wie etwa dem polnischen, wegen der bestehenden Unterschiede zum deutschen Recht nicht als gleichwertig anerkannt werden. Zudem bescheinige der „Master of German and Polish Law“ nicht das geforderte Niveau an Kenntnissen des deutschen Rechts. Herr Peœla erhob daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht Schwerin (Deutschland). Dieses hat den Gerichtshof ersucht, die Kriterien zu präzisieren, die das Gemeinschaftsrecht hinsichtlich der Bewertung der Gleichwertigkeit juristischer Kenntnisse aufstellt, die auf einen Antrag hin, unmittelbar zu einem Vorbereitungsdienst für die juristischen Berufe zugelassen zu werden, ohne die hierfür vorgesehenen Prüfungen abzulegen, erfolgen muss.
In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Bestimmungen der für die Niederlassungsfreiheit von Rechtsanwälten relevanten Richtlinien auf eine Person in der Situation von Herrn Peœla nicht anwendbar sind. Solange es an einer Harmonisierung der Bedingungen für den Zugang zu Vorbereitungsdiensten für die juristischen Berufe fehlt, können die Mitgliedstaaten festlegen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten notwendig sind. Um aber die so definierten nationalen Anforderungen mit den Geboten der wirksamen Ausübung der Grundfreiheiten in Einklang zu bringen, die das Gemeinschaftsrecht gewährleistet, verlangt dieses von den Behörden eines Mitgliedstaats, dass sie bei der Prüfung des Zulassungsantrags eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats die Gleichwertigkeit der gesamten Ausbildung sowie akademischen und beruflichen Erfahrung prüfen, bevor sie von dem Bewerber die Ablegung einer Eignungsprüfung verlangen können.
Bei der Beurteilung, ob ein Bewerber unmittelbar, d. h. ohne eine solche Prüfung abzulegen, in den Vorbereitungsdienst für die juristischen Berufe aufgenommen werden kann, sind die Kenntnisse als Maßstab heranzuziehen, die durch die Qualifikation bescheinigt werden, die in dem betreffenden Mitgliedstaat verlangt wird. Dieser kann daher entgegen der von Herrn Peœla vertretenen Auffassung nicht dazu verpflichtet werden, die Bewertung der Gleichwertigkeit von Qualifikationen auf einen Vergleich des intellektuellen Niveaus und des (zeitlichen) Aufwands der Ausbildungen zu beschränken.
Zudem gebietet es das Gemeinschaftsrecht nicht, im Rahmen der Gleichwertigkeitsprüfung niedrigere Anforderungen an die Kenntnisse im innerstaatlichen Recht zu stellen als sie mit der Qualifikation bescheinigt werden, die in diesem Mitgliedstaat verlangt wird – wie etwa dem Ersten Staatsexamen in Deutschland. Auch wenn das Gemeinschaftsrecht als solches keine Senkung des Niveaus gebietet, das in Situationen wie derjenigen des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Kenntnisse des Rechts des Aufnahmemitgliedstaats verlangt wird, hindert es die Mitgliedstaaten nicht daran, die Anforderungen an die verlangte Qualifikation zu lockern. Darüber hinaus darf die Möglichkeit einer teilweisen Anerkennung der Kenntnisse und Qualifikationen, die der Bewerber bereits erworben hat, in der Praxis nicht lediglich fiktiv bleiben. Dies scheint in Deutschland auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein, was zu überprüfen jedoch Sache des nationalen Gerichts ist, das allein befugt ist, über die Auslegung innerstaatlichen Rechts zu entscheiden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 10.12.2009
Quelle: ra-online, EuGH