14.11.2024
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Dokument-Nr. 25422

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil23.01.2018

Absprache zwischen Roche und Novartis bei Augen-Arzneimitteln könnte "bezweckte" Wettbewerbs­beschränkung darstellenVerbreitung irreführender Informationen über Arzneimittel zur Senkung des Wettbe­wer­bs­drucks ist als "bezweckte" Wettbewerbs­beschränkung anzusehen

Die Absprache zwischen den Arznei­mittel­herstellern Roche und Novartis, mit der die Augen­heil­kund­lichen Anwendungen des Arzneimittels Avastin verringert und die des Arzneimittels Lucentis gesteigert werden sollten, könnte eine "bezweckte" Wettbewerbs­beschränkung darstellen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Avastin und Lucentis sind Arzneimittel, die von dem Unternehmen Genentech hergestellt werden, das zum Roche-Konzern gehört. Mit einer Lizenz­ver­ein­barung überlies Genentech die gewerbliche Verwertung von Lucentis dem Arznei­mit­tel­her­steller Novartis. Avastin wird von Roche vertrieben. Für diese biotech­no­lo­gischen Arzneimittel wurden von der Kommission und der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) Genehmigungen für das Inver­kehr­bringen erteilt. Lucentis ist für die Behandlung von Augen­krank­heiten zugelassen. Auch Avastin wird, obgleich es nur für die Behandlung von Tumor­er­kran­kungen zugelassen ist, häufig für die Behandlung von Augen­krank­heiten eingesetzt, weil es preisgünstiger als Lucentis ist.

Wettbe­wer­bs­behörde verhängt Geldbuße wegen Preisabsprachen

Im Jahr 2014 verhängte die italienische Wettbe­wer­bs­behörde, die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM), gegen Roche und gegen Novartis jeweils eine Geldbuße von - in beiden Fällen - etwas über 90 Mio. Euro mit der Begründung, die beiden Arznei­mit­tel­her­steller hätten eine Absprache getroffen, um zwischen Avastin und Lucentis eine künstliche Unterscheidung herbeizuführen. Nach Auffassung der Wettbe­wer­bs­behörde sind nämlich Avastin und Lucentis für die Behandlung von Augen­krank­heiten in jeder Hinsicht gleichwertig. Die Absprache habe auf die Verbreitung von Informationen abgezielt, die in der Öffentlichkeit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der augen­heil­kund­lichen Anwendung von Avastin hätten erzeugen sollen, um so die Nachfrage zu Lucentis hin zu verlagern. Nach Schätzungen der AGCM sollen durch diese Nachfrage-Verlagerung dem italienischen öffentlichen Gesund­heitswesen allein im Jahr 2012 Mehrkosten in Höhe von etwa 45 Mio. Euro entstanden sein.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Nachdem ihre hiergegen erhobenen Klagen von dem Regionalen Verwal­tungs­gericht für Latium (Tribunale amministrativo regionale per il Lazio) abgewiesen worden waren, haben Roche und Novartis Rechtsmittel zum Consiglio di Stato (Staatsrat) eingelegt. In diesen Verfahren hat der Consiglio di Stato dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Wettbe­wer­bs­rechts der Union zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt.

In seinem Urteil befasst sich der Gerichtshof zunächst mit der Frage, ob eine nationale Wettbe­wer­bs­behörde wie die AGCM davon ausgehen darf, dass Avastin, obgleich es für die Behandlung von Augen­krank­heiten nicht zugelassen ist, zum selben Markt gehört wie das für Augen­krank­heiten zugelassene Arzneimittel Lucentis, und, wenn ja, ob die Behörde dabei die etwaige Unzulässigkeit einer augen­heil­kund­lichen Anwendung von Avastin nach dem Arznei­mit­telrecht der Union berücksichtigen muss.

EuGH bejaht konkretes Substi­tu­ier­ba­r­keits­ver­hältnis zwischen Lucentis und Avastin

Der Gerichtshof ruft insoweit den Grundsatz in Erinnerung, dass Arzneimittel, die bei denselben therapeutischen Indikationen eingesetzt werden können, zum selben Markt gehören. Werden Arzneimittel allerdings unrechtmäßig hergestellt oder verkauft, können sie nicht als substituierbar oder austauschbar im Verhältnis zu rechtmäßig hergestellten und verkauften Produkten gelten. Jedoch verbietet das Arznei­mit­telrecht der Union nicht die Verschreibung von Arzneimitteln bei therapeutischen Indikationen, die nicht von ihrer Zulassung erfasst sind, und auch nicht ihre Umpackung zu diesem Zweck, sofern bestimmte Bedingungen eingehalten sind. Ob diese Bedingungen eingehalten wurden, ist nicht von der AGCM zu prüfen, sondern von den für diese Prüfung zuständigen italienischen Gerichten oder Behörden. Im vorliegenden Fall besteht für die Behandlung von Augen­krank­heiten zwischen Lucentis und Avastin ein konkretes Substi­tu­ier­ba­r­keits­ver­hältnis.

Haben die hierfür zuständigen Behörden oder Gerichte eine etwaige Rechts­wid­rigkeit der Umpackung oder Verschreibung von Avastin bei Indikationen, die nicht von dessen Zulassung erfasst sind, nicht geprüft, darf die AGCM davon ausgehen, dass beide Erzeugnisse demselben Markt angehören, und sie deshalb als miteinander im Wettbewerb stehende Arzneimittel ansehen. Wurde hingegen die etwaige Rechts­wid­rigkeit der Voraussetzungen, unter denen solche Umpackungen oder Verschreibungen stattfinden, durch die zuständigen Behörden oder Gerichte geprüft, so ist die AGCM an das Ergebnis dieser Prüfung gebunden.

Absprache zwischen Roche und Novartis kann nicht als Nebenabrede zur Lizenz­ver­ein­barung angesehen werden

Nach dem Urteil des Gerichtshofs kann die von der AGCM geahndete Absprache zwischen Roche und Novartis nicht als eine Nebenabrede zu ihrer Lizenz­ver­ein­barung gerechtfertigt werden. Denn diese Absprache sollte nicht die geschäftliche Selbständigkeit der Parteien der Lizenz­ver­ein­barung im Zusammenhang mit Lucentis beschränken, sondern das Verhalten Dritter, insbesondere von Ärzten, um die Verschreibung von Avastin in der Augenheilkunde zugunsten von Lucentis zu verringern. Unter diesen Umständen kann die Absprache nicht als objektiv erforderlich und als eine Nebenabrede für die Durchführung der Lizenz­ver­ein­barung angesehen werden.

Irreführende Informationen über Medikament sollen Wettbe­wer­bsdruck auf anderes Medikament senken

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine "bezweckte" Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, wenn zwei Unternehmen, die zwei konkurrierende Arzneimittel vertreiben, eine Absprache treffen, die darauf abzielt, gegenüber der EMA, Angehörigen der Heilberufe und der Öffentlichkeit in einem Kontext, der durch einen ungesicherten wissen­schaft­lichen Kenntnisstand gekennzeichnet ist, irreführende Informationen über die Nebenwirkungen der Anwendung eines dieser Medikamente außerhalb seiner Zulassung zu verbreiten, um den Wettbe­wer­bsdruck auf das andere Arzneimittel zu senken. Als irreführend sind diese Informationen (was zu überprüfen dem nationalen Gericht obliegt) dann anzusehen, wenn sie zum einen die EMA und die Kommission irreführen und zum anderen bewirken sollen, dass in einem Kontext der wissen­schaft­lichen Unsicherheit in der Öffentlichkeit eine Überschätzung der Risiken entsteht, die mit der Anwendung von Avastin bei Indikationen außerhalb seiner Zulassung verbunden sind.

Verbreitung irreführender Informationen kann nicht als "unerlässlich" angesehen werden

Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass einer Absprache die in Art. 101 Abs. 3 AEUV vorgesehene Freistellung nur dann zugute kommen kann, wenn sie lediglich unerlässliche Beschränkungen vorsieht. Die Verbreitung irreführender Informationen über ein Arzneimittel kann aber nicht als "unerlässlich" angesehen werden. Eine Absprache, die auf die Verbreitung solcher irreführender Informationen abzielt, kann deshalb nicht unter eine Freistellung fallen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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