In Italien kann die Arzneimittelversorgung nur über kommunale Apotheken oder durch private Apotheken ausgeübt werden, die eine von der Regierung ausgestellte Lizenz besitzen. Die Errichtung von Apotheken unterliegt im italienischen Hoheitsgebiet einer Planung, nach der die dort errichteten Apotheken zahlenmäßig begrenzt und gleichmäßig verteilt sind, wobei die Errichtung einer neuen Apotheke die vorherige Erteilung einer Zulassung voraussetzt. Für die Zahl der Apotheken ist in Italien eine Obergrenze vorgesehen, und sie verteilen sich nach einem „Organisationsplan“ gleichmäßig über das Land. Durch diese Regelung soll zum einen verhindert werden, dass sich die Apotheken allein auf die wirtschaftlich gesehen attraktivsten Zonen konzentrieren, und jeder von ihnen soll ein Marktanteil gesichert werden. Zum anderen soll der Arzneimittelbedarf im gesamten nationalen Hoheitsgebiet gedeckt werden.
Seit 2006 ist die Gründung von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte gestattet, die nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel abgeben dürfen, deren Kosten zu Lasten des Käufers gehen und für die öffentlich geworben werden darf.
Frau Venturini, Frau Gramegna und Frau Muzzio, drei bei der Apothekerkammer in Mailand eingetragene zugelassene Apothekerinnen, beantragten die Erteilung der Genehmigung, in ihren jeweiligen Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte verschreibungspflichtige Arzneimittel verkaufen zu dürfen, deren Kosten jedoch vollständig vom Käufer zu tragen sind. Die zuständigen örtlichen Gesundheitsbehörden (ASL) und das Gesundheitsministerium lehnten diese Anträge mit der Begründung ab, derartige Arzneimittel dürften gemäß den geltenden nationalen Vorschriften nur in Apotheken verkauft werden.
Die genannten Apothekerinnen fochten daraufhin die Entscheidungen beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia mit der Begründung an, dass diese Weigerung gegen das Unionsrecht verstoße. Dieses Gericht hat den Gerichtshof gefragt, ob der AEU-Vertrag einer Regelung entgegensteht, die es einem zugelassenen und bei der entsprechenden Berufskammer eingetragenen Apotheker, der aber nicht Inhaber einer im „Organisationsplan“ aufgenommenen Apotheke ist, nicht erlaubt, in einer Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte, deren Inhaber er ist, diejenigen verschreibungspflichtigen Arzneimittel zu vertreiben, deren Kosten nicht vom nationalen Gesundheitsdienst, sondern vollständig vom Käufer getragen werden.
Der Gerichtshof erinnert in seinem Urteil zunächst daran, dass die geografische Verteilung der Apotheken und das Abgabemonopol für Arzneimittel in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen*. Außerdem stellt er fest, dass es in den nationalen Rechtsrahmen fällt, wenn einem Apotheker, der sich als Inhaber einer Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte niederlassen will, die wirtschaftlichen Vorteile versagt bleiben, die sich aus dem Markt für verschreibungspflichtige und vollständig vom Käufer zu bezahlende Arzneimittel ergeben, deren Verkauf den Apotheken vorbehalten ist.
Da eine derartige nationale Regelung geeignet ist, die Niederlassung eines Apothekers in Italien, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und beabsichtigt, in Italien eine parapharmazeutische Verkaufsstelle zu betreiben, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, stellt sie eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.
Sie kann jedoch durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Die italienische Regelung hat zum Ziel, der Bevölkerung eine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit Arzneimitteln zu sichern, was zu dem allgemeineren Ziel gehört, den Schutz der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten.
In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof daran, dass sich eine derartige Regelung als unerlässlich erweisen kann, um eventuelle Lücken im Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens zu schließen und um die Einrichtung von Strukturen einer Doppelversorgung zu vermeiden, so dass eine Gesundheitsversorgung gewährleistet ist, die den Bedürfnissen der Bevölkerung angepasst ist, das gesamte Hoheitsgebiet abdeckt und geografisch isolierte oder in sonstiger Weise benachteiligte Regionen berücksichtigt (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 01.06.2010 - C-570/07 und C-571/07 -).
Würde der Vertrieb bestimmter verschreibungspflichtiger Arzneimittel in parapharmazeutischen Verkaufsstellen zugelassen, so hätte dies zur Folge, dass diese Arzneimittel ohne Rücksicht auf das Erfordernis der territorialen Planung verkauft werden könnten. Damit wäre die Gefahr verbunden, dass sich die parapharmazeutischen Verkaufsstellen auf diejenigen Ortschaften konzentrieren würden, die als am rentabelsten gelten, was in diesen Ortschaften zur Folge hätte, dass bei den Apotheken die Zahl der Kunden und die Einnahmen zurückgehen würden. Dies könnte dazu führen, dass die Qualität der Dienstleistungen, die die Apotheken den Kunden bieten, nachlässt und einige Apotheken sogar endgültig geschlossen werden. Ein Mangel an Apotheken in einigen Teilen des Landes würde dazu führen, dass keine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit Arzneimitteln gewährleistet wäre.
Im Übrigen hebt der Gerichtshof hervor, dass jeder Mitgliedstaat bestimmen kann, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da die italienische Regelung in parapharmazeutischen Verkaufsstellen den Vertrieb von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, deren Kosten nicht vom nationalen Gesundheitsdienst, sondern vollständig vom Käufer getragen werden, nicht zulässt, verringert dies die Gefahr eines Apothekenmangels auf eine Weise, die in angemessenem Verhältnis zum Ziel einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung steht.
Erläuterungen
* Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.12.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online