21.11.2024
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Dokument-Nr. 29619

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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.11.2020

Kunduz-Einsatz der Bundeswehr: Verfassungs­beschwerde über abgelehnte Amtshaftungs­ansprüche gescheitertBundes­verfassungs­gericht nimmt Verfassungs­beschwerde über Versagung von Amtshaftungs­ansprüchen aufgrund Ausland­s­ein­satzes der Bundeswehr nicht zur Entscheidung an

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivil­ge­richtliche Versagung von Amtshaftungs­ansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland, zuletzt durch den Bundes­ge­richtshof, richtete. Die Beschwer­de­führer hatten Amtshaftungs­ansprüche aufgrund Schäden, die ihnen durch den Luftangriff der Bundeswehr in Kunduz entstanden waren, geltend gemacht. Die Beschwer­de­führer sind in allen Gerichts­in­stanzen unterlegen.

Der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Im September 2009 wurden in Kunduz (Afghanistan) bei einem Luftangriff, der von einem Oberst der Bundeswehr angeordnet worden war, auch zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt. Die Beschwer­de­führer erhoben - in allen Instanzen erfolglos - Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland als Angehörige von bei dem Luftangriff getöteten Opfern und machten Amtshaftungsansprüche geltend.

Klageabweisung verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Die 2. Kammer des 2. Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts führt in ihrer Entscheidung aus, dass die Versagung unmittelbar aus dem Völkerrecht resultierender Ansprüche sowie die Verneinung einer Amtspflicht­ver­letzung verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden sind. Offen ließ die Kammer allerdings, ob die Gewährung von Amtshaftungs-, Ausgleichs- oder Entschä­di­gungs­ansprüchen bei Grund­rechts­ver­let­zungen vom Gesetzgeber generell ausgeschlossen werden kann.

Mit der Verfas­sungs­be­schwerde wenden sich die Beschwer­de­führer gegen die Abweisung ihrer Amtshaf­tungs­klagen durch die Zivilgerichte, letzt­in­sta­nzlich durch den Bundes­ge­richtshof.

Bundes­tags­be­schluss über Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr auf Grundlage von UN-Resolution

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution vom 20. Dezember 2001 eine internationale Sicher­heits­un­ter­stüt­zungs­truppe (International Security Assistance Force - ISAF) ein. Der Deutsche Bundestag beschloss am 22. Dezember 2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den ISAF-Truppen.

Was passierte in Kunduz?

Am 3. September 2009 bemächtigte sich eine Gruppe von Taliban-Kämpfern zweier Tanklastwagen in Kunduz. Als der zuständige Oberst i. G. die Information über die Entführung der Tanklastwagen erhielt, forderte er Luftun­ter­stützung durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge an. Ihm wurde durch einen Informanten des Militärs mehrfach bestätigt, dass sich bei den Lastwagen lediglich Aufständische und keine Zivilisten befänden, worauf er den Befehl zum Bombenabwurf gab. Hierdurch wurden beide Tanklastwagen zerstört sowie zahlreiche Personen, darunter auch Zivilisten, getötet oder verletzt.

Klage auf Schmerzensgeld und Schadensersatz gegen Bundesrepublik Deutschland

Die Beschwer­de­führer erhoben Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und begehrten als Angehörige von getöteten Opfern Schmerzensgeld und Schadensersatz. Der Bundes­ge­richtshof wies mit Urteil vom 6. Oktober 2016 die Revision der Beschwer­de­führer insbesondere mit der Begründung zurück, dass sich aus dem Völkerrecht ein individueller Schaden­s­er­satz­an­spruch nicht ableiten lasse und das deutsche Amtshaf­tungsrecht (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) auf Schäden keine Anwendung finde, die ausländischen Bürgern bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte zugefügt würden. Darüber hinaus liege auch keine Amtspflicht­ver­letzung des zuständigen Oberst i. G. vor.

Keine Entschä­di­gungs­ansprüche unmittelbar aus Völkerrecht

Verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist, dass der Bundes­ge­richtshof Entschädigungs- und Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Völkerrecht verneint hat. Sekun­där­rechtliche Ansprüche wegen völker­rechts­widriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staats­an­ge­hörigen stehen grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten als originärem Völker­rechts­subjekt zu. Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach welcher dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verant­wort­lichen Staat zustehen müssten. Insbesondere begründen weder Art. 3 des IV. Haager Abkommens noch Art. 91 des Zusatz­pro­tokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 individuelle Schadensersatz- oder Entschä­di­gungs­ansprüche bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht.

Kriegsschäden lösen keine Ansprüche aus enteig­nungs­gleichem Eingriff und Aufopferung aus

Die Verneinung von Ansprüchen aus enteig­nungs­gleichem Eingriff und Aufopferung begegnet ebenfalls keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Beide Rechtsinstitute wurden durch die Rechtsprechung für Sachverhalte des alltäglichen Verwal­tungs­handelns entwickelt und sind auf Kriegsschäden, die nicht Folge regulärer Verwal­tung­s­tä­tigkeit sind, nicht anwendbar.

Deutsche Staatsgewalt ist auch bei Handlungen im Ausland an Grundrechte gebunden

Nicht ausgeschlossen erscheint dagegen, dass der Bundes­ge­richtshof die Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG verkannt hat, als er Amtshaf­tungs­ansprüche (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) als Folge von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland generell verneint hat.

a) Angesichts der grundsätzlichen Bindung aller deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte, die auch bei Handlungen im Ausland besteht, begegnet das Urteil insoweit Zweifeln. Die Haftung für staatliches Unrecht ist nicht nur eine Ausprägung des Legali­täts­prinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die den zentralen Bezugspunkt für staatliche Einstands­pflichten bilden. Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerecht­fer­tigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind insoweit Grundlage von Unterlassungs- und Besei­ti­gungs­ansprüchen, die die Integrität der grund­recht­lichen Gewähr­leis­tungen sicherstellen.

Staatliche Grund­rechts­ver­let­zungen auch im Ausland können zu Kompen­sa­ti­o­ns­ansprüchen führen

Wo dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen - und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht - grundsätzlich auch Kompen­sa­ti­o­ns­ansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichs­leis­tungen. Eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung ist heute ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im europäischen Rechtsraum.

Dies wird schon wegen des Vorrangs der Verfassung durch die vom Bundes­ge­richtshof angeführten Gründe, die gegen eine Anwendung des Amtshaf­tungs­rechts auf Ausland­s­e­insätze der Bundeswehr sprechen könnten, insbesondere die Beein­träch­tigung der internationalen Bündnis­fä­higkeit Deutschlands und die Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung, nicht in Frage gestellt.

Zuständiger Bundeswehr-Oberst handelte bei Kunduz-Luftangriff rechtmäßig

b) Im Ergebnis ist das Urteil des Bundes­ge­richtshofs gleichwohl nicht zu beanstanden, da er - entschei­dungs­tragend - auch das Vorliegen einer Amtspflicht­ver­letzung des zuständigen Oberst i. G. verneint hat.

Ob in einem bewaffneten Konflikt eine Amtspflicht­ver­letzung deutscher Soldaten vorliegt, bemisst sich nach der Verfassung, dem Soldatengesetz und vor allem den gewalt­be­gren­zenden Regeln des humanitären Völkerrechts. Nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Ausein­an­der­set­zungen stellt auch einen Verstoß hiergegen dar. Ein solcher ist nach dem Urteil nicht deshalb gegeben, weil vor dem Befehl zum Bombenabwurf nicht habe ausgeschlossen werden können, dass sich im Zielgebiet auch Zivilisten aufhielten. Der Oberst i. G. der Bundeswehr habe bei Erteilung des Angriffsbefehls die ihm zur Verfügung stehenden Erkennt­nis­quellen ausgeschöpft, bei der notwendigen ex ante-Betrachtung eine gültige Progno­se­ent­scheidung getroffen und somit keine Amtspflicht­ver­letzung begangen. Diese Würdigung ist nachvollziehbar und verstößt jedenfalls nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/we)

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