21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil24.07.2018

Verfas­sungs­rechtliche Anforderungen an die Fixierung von Patienten in der öffentlich-rechtlichen UnterbringungFixierung stellt Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit dar

Patienten in der Psychiatrie dürfen nur nach richterlicher Genehmigung für eine längere Zeit fixiert werden. Einschlägige Vorschriften des Landes Baden-Württemberg wurden für verfas­sungs­widrig erklärt. Der baden-württem­ber­gische und der bayerische Gesetzgeber - der bislang keine spezielle Rechtsgrundlage für Fixierungen erlassen hat - wurden verpflichtet bis zum 30. Juni 2019 einen verfas­sungs­gemäßen Zustand herbeizuführen. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Im Fall 2 BvR 502/16 betrifft die Verfassungsbeschwerde die auf ärztliche Anordnung vorgenommene, acht Stunden dauernde 7-Punkt-Fixierung des Beschwer­de­führers - das heißt die Fesselung an ein Krankenbett an beiden Armen, beiden Beinen sowie um Bauch, Brust und Stirn - während eines insgesamt gut zwölfstündigen Psych­ia­trie­auf­enthalts.

Keine spezielle Ermäch­ti­gungs­grundlage für Fixie­rungs­a­n­ordnung im Bayerischen Unter­brin­gungs­gesetz vorgesehen

Das Bayerische Unter­brin­gungs­gesetz (BayUnterbrG), welches Rechtsgrundlage für die vorläufige Unterbringung des Beschwer­de­führers war, sieht keine spezielle Ermäch­ti­gungs­grundlage für die Anordnung von Fixierungen vor. Der Beschwer­de­führer nahm den Freistaat Bayern erfolglos auf Schadensersatz und Schmerzensgeld für die aufgrund der Fixierung erlittenen Verletzungen in Anspruch. Seine Verfas­sungs­be­schwerde ist gegen die in dem Amtshaf­tungs­ver­fahren ergangenen Entscheidungen gerichtet.

Verfas­sungs­be­schwerde gegen amtsge­richt­licher Anordnung sowie baden-württem­ber­gischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen

Die Verfas­sungs­be­schwerde zum Fall 2 BvR 309/15 betrifft die 5-Punkt-Fixierung - das heißt die Fesselung aller Extremitäten und um den Bauch an ein Krankenbett - eines in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung Untergebrachten, die über mehrere Tage wiederholt ärztlich angeordnet worden war. Der Beschwer­de­führer, der Verfah­rens­pfleger des Untergebrachten, wendet sich mit seiner zulässigerweise in eigenem Namen erhobenen Verfas­sungs­be­schwerde unmittelbar gegen den die Fixierung anordnenden amtsge­richt­lichen Beschluss sowie mittelbar gegen § 25 Abs. 3 des baden-württem­ber­gischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKHG BW), auf dessen Grundlage der Beschluss erging.

Schutz vor staatlichen Eingriffen in körperliche Bewegungs­freiheit gilt auch für psychisch Erkrankte

I. Die Fixierung eines Patienten stellt einen Eingriff in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG) dar.

1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichnet die Freiheit der Person als "unverletzlich". Diese verfas­sungs­rechtliche Grund­ent­scheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungs­freiheit vor staatlichen Eingriffen. Ob ein Eingriff in die persönliche (körperliche) Freiheit vorliegt, hängt lediglich vom tatsächlichen, natürlichen Willen des Betroffenen ab. Fehlende Einsichts­fä­higkeit lässt den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht entfallen; er ist auch dem psychisch Kranken und nicht voll Geschäfts­fähigen garantiert. Gerade psychisch Kranke empfinden eine Freiheits­be­schränkung, deren Notwendigkeit ihnen nicht nähergebracht werden kann, häufig als besonders bedrohlich.

BVerfG zum Begriff der "freiheits­be­schrän­kenden" und "freiheits­ent­zie­henden" Maßnahme

2. a) Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG umfasst sowohl freiheits­be­schränkende als auch freiheits­ent­ziehende Maßnahmen, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nach der Intensität des Eingriffs voneinander abgrenzt. Eine Freiheits­be­schränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich wäre. Die Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheits­be­schränkung liegt dann vor, wenn die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - Bewegungs­freiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. Sie setzt eine besondere Eingriff­sin­tensität und eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraus.

5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung von mehr als 30 Minuten stellt Freiheits­ent­ziehung dar

b) Jedenfalls eine 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung, bei der sämtliche Gliedmaßen des Betroffenen mit Gurten am Bett festgebunden werden, stellt eine Freiheits­ent­ziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG dar, es sei denn, es handelt sich um eine lediglich kurzfristige Maßnahme. Von einer solchen ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet. Die vollständige Aufhebung der Bewegungs­freiheit durch die 5-Punkt- oder die 7-Punkt-Fixierung am Bett nimmt dem Betroffenen die ihm bei der Unterbringung auf einer geschlossenen psychiatrischen Station noch verbliebene Freiheit, sich innerhalb dieser Station - oder zumindest innerhalb des Krankenzimmers - zu bewegen. Diese Form der Fixierung ist darauf angelegt, den Betroffenen auf seinem Krankenbett vollständig bewegungs­unfähig zu halten.

Fixierung im Rahmen eines bestehenden Freiheits­ent­zie­hungs­ver­hält­nisses stellt eigenständige Freiheits­ent­ziehung dar

3. Aufgrund ihrer besonderen Eingriff­sin­tensität ist die nicht nur kurzfristige Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen eines bereits bestehenden Freiheits­ent­zie­hungs­ver­hält­nisses als eigenständige Freiheits­ent­ziehung zu qualifizieren, die den Richter­vor­behalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG abermals auslöst. Zwar sind im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung von der richterlich angeordneten Freiheits­ent­ziehung grundsätzlich auch etwaige Diszi­pli­n­a­r­maß­nahmen wie etwa der Arrest oder besondere Siche­rungs­maß­nahmen wie der Einschluss in einem enger begrenzten Teil der Unter­brin­gungs­ein­richtung erfasst, durch die sich lediglich - verschärfend - die Art und Weise des Vollzugs der einmal verhängten Freiheits­ent­ziehung ändert.

Eingriffs­qualität der Fixierung nicht von richterlicher Unter­brin­gungs­a­n­ordnung gedeckt

Sowohl eine 5-Punkt- als auch eine 7-Punkt-Fixierung weisen jedoch im Verhältnis zu diesen Maßnahmen eine Eingriffs­qualität auf, die von der richterlichen Unter­brin­gungs­a­n­ordnung nicht gedeckt ist und eine Einordnung als eigenständige Freiheits­ent­ziehung rechtfertigt. Die Fortbe­we­gungs­freiheit des Betroffenen wird bei dieser Form der Fixierung nach jeder Richtung hin vollständig aufgehoben und damit über das bereits mit der Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung verbundene Maß hinaus beschnitten.

Betroffene von rechtzeitiger Hilfe durch Pflegepersonal abhängig

Die besondere Intensität des Eingriffs folgt bei der 5-Punkt- und der 7-Punkt-Fixierung zudem daraus, dass ein gezielt vorgenommener Eingriff in die Bewegungs­freiheit als umso bedrohlicher erlebt wird, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sieht. Hinzu kommt, dass der Eingriff in der Unterbringung häufig Menschen treffen wird, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung die Nichtbeachtung ihres Willens besonders intensiv empfinden. Des Weiteren sind Betroffene für die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse völlig von der rechtzeitigen Hilfe durch das Pflegepersonal abhängig. Im Verhältnis zu anderen Zwangsmaßnahmen wird die Fixierung von den Betroffenen daher regelmäßig als besonders belastend wahrgenommen. Darüber hinaus besteht auch bei sachgemäßer Durchführung einer Fixierung die Gefahr, dass der Betroffene durch die längerdauernde Immobilisation Gesund­heits­schäden wie eine Venenthrombose oder eine Lungenembolie erleidet.

Gesetzliche Ermäch­ti­gungs­grundlage muss Fixierung als letztes Mittel vorsehen

II. Auch schwerwiegende Grund­recht­s­ein­griffe wie Fixierungen kann der Gesetzgeber prinzipiell zulassen. Aus dem Freiheits­grundrecht sowie dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz ergeben sich jedoch strenge Anforderungen an die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs: Die gesetzliche Ermäch­ti­gungs­grundlage muss hinreichend bestimmt sein und als materielle Voraussetzung vorsehen, dass eine Fixierung nur als letztes Mittel angewandt werden darf, wenn mildere Mittel nicht (mehr) in Betracht kommen. Zudem muss die gesetzliche Grundlage auch Verfah­rens­an­for­de­rungen zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person vorsehen, die auf verfah­rens­mäßige Sicherungen ihres Freiheitsrechts in besonderer Weise angewiesen ist. Hierzu zählen die Anordnung und Überwachung der Fixie­rungs­maßnahme durch einen Arzt - in Fällen der 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierung grundsätzlich begleitet von einer Eins-zu-eins-Betreuung durch therapeutisches oder pflegerisches Personal -, die Dokumentation der maßgeblichen Gründe hierfür, ihrer Durchsetzung, Dauer sowie der Art der Überwachung. Hinzu kommt die Verpflichtung, die Betroffenen nach Beendigung der Maßnahme auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Zulässigkeit der durchgeführten Fixierung gerichtlich überprüfen zu lassen. Die durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus Art. 3 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention gefolgerten Anforderungen gehen über die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG entwickelten Maßgaben nicht hinaus. Auch die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­vention steht dem Ergebnis nicht entgegen.

Verpflichtung des Gesetzgebers Richter­vor­behalt verfah­rens­rechtlich auszugestalten

III. 1. Art. 104 Abs. 2 GG fügt für die Freiheits­ent­ziehung dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes, dem das Grundrecht auf Unver­letz­lichkeit der Freiheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unterworfen ist, den weiteren, verfah­rens­recht­lichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG ergibt sich ein Regelungs­auftrag, der den Gesetzgeber verpflichtet, den Richter­vor­behalt verfah­rens­rechtlich auszugestalten. Die Effektivität des durch den Richter­vor­behalt vermittelten Grund­rechts­schutzes hängt maßgeblich von den Verfah­rens­re­ge­lungen in dem jeweiligen Sachbereich ab. Um den Besonderheiten der unter­schied­lichen Anwen­dungs­zu­sam­menhänge gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber ein Verfahren zu regeln, das auf die jeweils zur Entscheidung stehende Freiheits­ent­ziehung abgestimmt ist, und sicherzustellen, dass dem Betroffenen vor der Freiheits­ent­ziehung alle diejenigen rechts­s­taat­lichen Sicherungen gewährt werden, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Auch wenn Art. 104 Abs. 2 GG unmittelbar geltendes und anzuwendendes Recht ist, wird der Regelungs­auftrag aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG nicht obsolet. Nimmt der Gesetzgeber diesen Auftrag nicht wahr, so führt dies zur Verfassungswidrigkeit der zu der Freiheits­ent­ziehung ermächtigenden Norm.

Richter­vor­behalt dient als unabhängige und neutrale Instanz der Grund­rechts­si­cherung

2. Der Richter­vor­behalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Er zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz ab. Das Grundgesetz geht davon aus, dass Richter aufgrund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer strikten Unterwerfung unter das Gesetz die Rechte der Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren können. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richter­vor­behalt als Grund­rechts­si­cherung praktisch wirksam wird. Für den Staat folgt daraus die verfas­sungs­rechtliche Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit - zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.

Freiheits­ent­ziehung bedarf grundsätzlich vorherige richterliche Anordnung

3. Die Freiheits­ent­ziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheits­ent­ziehung verfolgte verfas­sungs­rechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Maßnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste. Dies wird bei der Anordnung einer 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung zur Abwehr einer von dem Betroffenen ausgehenden akuten Selbst- oder Fremdgefährdung allerdings regelmäßig der Fall sein.

Richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen

4. Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG fordert in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Das Tatbe­stands­merkmal "unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss. Sachliche Gründe, die eine Verzögerung der richterlichen Entscheidung rechtfertigen, können sich etwa aus der Notwendigkeit verfah­rens­recht­licher Vorkehrungen ergeben, die dem Schutz des Betroffenen dienen und für 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen in der Unterbringung entsprechend gelten (zum Beispiel die persönliche Anhörung des Betroffenen und die Beteiligung des Verfah­rens­pflegers). Wird zur Nachtzeit von einem Arzt zulässigerweise eine Fixierung ohne vorherige richterliche Entscheidung angeordnet, wird deshalb eine unverzügliche nachträgliche richterliche Entscheidung im Regelfall erst am nächsten Morgen ergehen können. Um den Schutz des Betroffenen sicherzustellen, bedarf es in diesem Zusammenhang eines täglichen richterlichen Bereit­schafts­dienstes, der - in Orientierung an § 758 a Abs. 4 Satz 2 ZPO - den Zeitraum von 6.00 Uhr bis 21.00 Uhr abdeckt.

Beide Verfas­sungs­be­schwerden begründet

IV. Nach diesen Maßstäben sind die Verfas­sungs­be­schwerden begründet. Die gerichtlichen Entscheidungen verletzen den Betroffenen zu I. beziehungsweise den Beschwer­de­führer zu II. jeweils in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG.

§ 25 PsychKHG BW genügt Anforderungen weitestgehend

1. § 25 PsychKHG BW genügt zwar weitgehend den Anforderungen von Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Insbesondere regelt die Vorschrift die Einschränkung der persönlichen Freiheit aus einem wichtigen Grund, namentlich zum Schutz der Sicherheit in der anerkannten Einrichtung und des Betroffenen vor einer erheblichen Selbst­ge­fährdung und bedeutender Rechtsgüter Dritter, begründet mit dem Erfordernis einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr eine hohe Eingriffs­schwelle und sieht verfah­rens­rechtliche Regelungen vor, die den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes gerecht werden.

Fehlender Hinweis auf Möglichkeit einer richterlichen Recht­mä­ßig­keits­prüfung nach Beendigung einer Fixierung

Allerdings enthält die Vorschrift keine Regelung dahingehend, dass der Betroffene nach Beendigung einer Fixierung oder funkti­o­ns­ä­qui­va­lenten Maßnahme auf die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit hinzuweisen ist. Außerdem ist der Gesetzgeber dem sich aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG ergebenden Regelungs­auftrag nicht nachgekommen, soweit auch für eine 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung nur eine ärztliche Anordnung, aber keine richterliche Entscheidung vorgesehen ist. Für die an dem Betroffenen zu I. vorgenommene 5-Punkt-Fixierung fehlt es an einer verfas­sungs­mäßigen gesetzlichen Grundlage.

Verein­ba­r­keits­prüfung der Rechtsgrundlage mit Grundgesetz von Fachgerichten durchzuführen

Daher verletzt der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Ludwigsburg den Betroffenen zu I. in seinem Freiheits­grundrecht. Es ist zunächst Sache der Fachgerichte, die Vereinbarkeit der jeweils herangezogenen Rechts­grundlagen mit dem Grundgesetz zu prüfen, gegebenenfalls vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren und bei negativem Ausgang der Prüfung die Sache im Verfahren der konkreten Normenkontrolle dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vorzulegen. Die Verfas­sungs­mä­ßigkeit einer gesetzlichen Eingriffs­grundlage kann von den Fachgerichten überdies von Amts wegen - unabhängig von einer entsprechenden Rüge des jeweiligen Klägers - zu prüfen sein. Das Amtsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung darauf hingewiesen, dass der baden-württem­ber­gische Gesetzgeber die Anordnung besonderer Siche­rungs­maß­nahmen den Ärzten der anerkannten Einrichtung übertragen, jedoch keinen Richter­vor­behalt normiert habe und die Fixierung daher nur daraufhin überprüft werden könne, ob die Ärzte den § 25 PsychKHG BW beachtet hätten. Damit hat das Amtsgericht lediglich die ärztliche Anordnung auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft, ohne die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Rechtsgrundlage in Frage zu stellen.

Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 BayUnterbrG genügen nicht den Bestimmt­heits­an­for­de­rungen

2. Die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts München im Amtshaf­tungs­ver­fahren verletzt den Beschwer­de­führer zu II. in seinem Freiheits­grundrecht. Entgegen der Auffassung des Oberlan­des­ge­richts stellt Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 BayUnterbrG keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Fixierung des Beschwer­de­führers zu II. dar. Die Vorschriften genügen weder den Bestimmt­heits­an­for­de­rungen von Art. 104 Abs. 1 GG, weil sie keine konkret auf die Anordnung von Fixierungen im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung bezogene Regelung enthalten, noch verlangen sie eine richterliche Anordnung für die Freiheits­ent­ziehung durch die erfolgte 7-Punkt-Fixierung.

Teilver­fas­sungs­wid­rigkeit für Übergangszeit hinzunehmen

V. Die teilweise Verfas­sungs­wid­rigkeit des § 25 PsychKHG BW in Bezug auf Fixierungen führt nicht zu dessen Teilnichtigkeit. Die sofortige Ungültigkeit der Norm würde hier dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit des Betroffenen selbst und bedeutender Rechtsgüter Dritter vor erheblichen Gefahren die Grundlage entziehen, da Fixierungen unter keinen Umständen mehr zulässig wären, ohne dass dem Gesetzgeber oder der Praxis Gelegenheit gegeben würde, sich auf die neue Lage einzustellen und gleichwertige Handlung­s­al­ter­nativen zu schaffen. Hierdurch käme es zu einer Schutzlücke, weil grundrechtliche Belange sowohl der untergebrachten Person als auch des Klinikpersonals und der Mitpatienten jedenfalls gefährdet würden. Die Abwägung der verfas­sungs­recht­lichen Mängel der Vorschrift mit den betroffenen Grundrechten führt dazu, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist, denn die Defizite des § 25 PsychKHG BW betreffen die an eine materiell grundsätzlich zulässige Maßnahme zu stellenden Verfah­rens­an­for­de­rungen, wohingegen im Fall der Teilnichtigkeit der Norm der materielle Schutz von Grundrechten des Betroffenen und Dritter selbst auf dem Spiel stünde.

In Baden-Württemberg richterlicher Vorbehalt während Überg­angs­zeitraum anzuwenden

VI. 1. In Baden-Württemberg ist der jedenfalls für 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen geltende Richter­vor­behalt aus Art. 104 Abs. 2 GG während eines Überg­angs­zeitraums bis zum 30. Juni 2019 unmittelbar anzuwenden. Das Verfahren kann in dieser Zeit den §§ 312 ff. FamFG und §§ 70 ff. FamFG entsprechend durchgeführt werden. Zudem folgt in der Übergangszeit unmittelbar aus dem Freiheits­grundrecht die Pflicht der behandelnden Ärzte, den Betroffenen nach Erledigung der Fixie­rungs­maßnahme auf die Möglichkeit hinzuweisen, eine richterliche Entscheidung zu beantragen.

Keine Unzulässigkeit der Maßnahme trotz fehlender gesetzlicher Grundlage im Freistaat Bayern

2. Dass es im Freistaat Bayern derzeit insgesamt an einer den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für die Anordnung von Fixierungen im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung fehlt, führt für eine Übergangszeit bis zum 30. Juni 2019 ebenfalls nicht zur Unzulässigkeit einer solchen Maßnahme.

Sofortiger Verbot der Fixie­rungs­maß­nahmen lässt Schutzlücke entstehen

a) Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann einen verfas­sungs­widrigen Rechtszustand vorübergehend hinnehmen, um eine Lage zu vermeiden, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen noch ferner stünde als der bisherige Zustand. Solange der bayerische Gesetzgeber keine Entscheidung darüber getroffen hat, in welcher Weise er einen verfas­sungs­gemäßen Zustand herstellen und ob er an der Fixierung als besonderer Siche­rungs­maßnahme festhalten will, würde auch im Freistaat Bayern eine Schutzlücke entstehen. Bei der erforderlichen Abwägung des festgestellten verfas­sungs­recht­lichen Mangels mit den Konsequenzen eines sofortigen Verbots der Fixierung überwiegt, wie auch im Fall Baden-Württembergs, das Interesse an einer vorübergehenden Zulässigkeit der Fixierung zum Schutz der Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Anordnung von Fixierungen muss daher auch im Freistaat Bayern vorübergehend ohne die an sich erforderliche gesetzliche Grundlage hingenommen werden.

Während Übergangszeit Prüfung jeder Fixierung auf das ob und wie lange unerlässlich

b) Dies bedeutet allerdings nicht, dass Fixierungen untergebrachter Personen im Freistaat Bayern in der Übergangszeit beliebig zulässig wären. Vielmehr ist angesichts des hohen Werts des Freiheits­grund­rechts bei jeder Fixierung zu prüfen, ob und wie lange diese unerlässlich ist, um eine gegenwärtige erhebliche Selbst­ge­fährdung oder eine gegenwärtige erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer abzuwenden. Zudem gilt jedenfalls für die 5-Punkt- und die 7-Punkt-Fixierung der Richter­vor­behalt aus Art. 104 Abs. 2 GG unmittelbar. Auch ist der Betroffene nach Beendigung der Maßnahme auf die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung hinzuweisen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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