24.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil20.12.2007

BVerfG: Hartz IV-Arbeits­ge­mein­schaften sind verfas­sungs­widrig - Verwaltung muss neu geregelt werdenMischverwaltung von Bund und kommunalen Trägern ist unzulässig

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat Kommu­na­l­ver­fas­sungs­be­schwerden von Kreisen und Landkreisen gegen organi­sa­to­rische Regelungen des Sozial­ge­setz­buches Zweites Buch (Grundsicherung für Arbeitsuchende) teilweise stattgegeben. Soweit sich die Beschwer­de­führer gegen die Zuweisung der Zuständigkeit für einzelne Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ("Hartz IV") ohne vollständigen Ausgleich der sich daraus ergebenden finanziellen Mehrbelastungen gewandt hatten, wurden die Beschwerden zurückgewiesen. Die in § 44 b SGB II geregelte Pflicht der Kreise zur Aufga­be­n­über­tragung der Leistungen nach dem Sozial­ge­setzbuch Zweites Buch (Grundsicherung für Arbeitsuchende) auf die Arbeits­ge­mein­schaften und die einheitliche Aufga­ben­wahr­nehmung von kommunalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit in den Arbeits­ge­mein­schaften verletzt jedoch die Gemein­de­verbände in ihrem Anspruch auf eigen­ver­ant­wortliche Aufga­be­n­er­le­digung und verstößt gegen die Kompe­ten­z­ordnung des Grundgesetzes.

Die Arbeits­ge­mein­schaften sind als Gemein­schaft­s­ein­richtung von Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompe­ten­z­ordnung des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die ausnahmsweise die gemein­schaftliche Aufga­ben­wahr­nehmung in den Arbeits­ge­mein­schaften rechtfertigen könnten, existieren nicht. Zudem widerspricht die Einrichtung der Arbeits­ge­mein­schaft dem Grundsatz eigen­ver­ant­wort­licher Aufga­ben­wahr­nehmung, der den zuständigen Verwal­tungs­träger verpflichtet, die Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwal­tungs­ein­rich­tungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2010, bleibt die Norm jedoch anwendbar. Dem Gesetzgeber muss für eine Neuregelung, die das Ziel einer Bündelung des Vollzugs der Grundsicherung für Arbeitsuchende verfolgt, ein der Größe der Umstruk­tu­rie­rungs­aufgabe angemessener Zeitraum belassen werden.

Der Richter Broß, die Richterin Osterloh und der Richter Gerhardt haben eine abweichende Meinung angefügt. Sie sind der Auffassung, dass § 44 b SGB II im Rahmen einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken begegnet.

Rechtlicher Hintergrund der Verfas­sungs­be­schwerden:

Am 29. Dezember 2003 wurde das Vierte Gesetz für moderne Dienst­leis­tungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) verkündet. Kern des Regelungs­an­liegens war die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Leistung, der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der ursprüngliche Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sah vor, dass die Bundesagentur für Arbeit Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein sollte. Die Bundes­rats­mehrheit bestand demgegenüber auf einer kommunalen Zuständigkeit für die Arbeits­ver­mittlung und für die Leistungen an Arbeitslose. Im Vermitt­lungs­aus­schuss einigten sich Bundestag und Bundesrat auf eine zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den kommunalen Trägern geteilte Leistungs­trä­ger­schaft.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sind nunmehr den kreisfreien Städten und Kreisen bzw. den anderen durch Landesrecht bestimmten Trägern die näher in § 16 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB II genannten besonderen Betreu­ungs­leis­tungen für die hilfe­be­dürftigen Erwerbsfähigen zugewiesen. Dies sind die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder, die häusliche Pflege von Angehörigen, Schuld­ner­be­ratung, psychosoziale Betreuung und Suchtberatung. Zum anderen sind die kommunalen Träger zuständig für Leistungen für Unterkunft und Heizung, zu denen auch die Kosten für die Wohnungs­be­schaffung, wie Kaution und Umzugskosten zählen (§ 22 SGB II). Die kommunale Trägerschaft erstreckt sich schließlich auf Leistungen für Erstausstat­tungen sowohl für die Wohnung einschließlich Haushalts­geräten als auch für die Bekleidung einschließlich des Bedarfs bei Schwangerschaft und Geburt sowie auf Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten (§ 23 Abs. 3 SGB II).

In den übrigen Fällen ist die Bundesagentur zuständig. Zu den Leistungen in der Trägerschaft der Bundesagentur gehören insbesondere alle arbeits­ma­rkt­recht­lichen Einglie­de­rungs­leis­tungen wie etwa Beratung, Vermittlung, Förderung von Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nahmen, Förderung der Berufs­aus­bildung und der beruflichen Weiterbildung sowie Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts wie Arbeits­lo­sengeld II, Sozialgeld, Mehrbedarfe, befristeter Zuschlag nach dem Ende des Bezugs von Arbeits­lo­sengeld sowie Sozia­l­ver­si­che­rungs­beiträge.

Damit die Arbeitsuchenden die Grundsicherung trotz der geteilten Leistungs­trä­ger­schaft „aus einer Hand“ empfangen, sollen die Träger der Leistungen – die Bundesagentur und die kommunalen Träger – zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben Arbeits­ge­mein­schaften (§ 44 b SGB II) errichten. Alternativ zu dem Grundmodell der gemeinsamen Aufga­ben­wahr­nehmung in Arbeits­ge­mein­schaften hat der Gesetzgeber ein Optionsmodell geregelt, nach dem versuchsweise an Stelle der Agenturen für Arbeit bis zu 69 kommunale Träger als Träger der Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II zugelassen werden können.

Vorbringen der Beschwer­de­führer:

Die Beschwer­de­führer rügen eine Verletzung der kommunalen Selbst­ver­wal­tungs­ga­rantie (Art. 28 Abs. 2 GG).

Indem der Bundes­ge­setzgeber in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II die Kreise für einzelne Leistungen der Grundsicherung für zuständig erkläre, greife er unzulässig auf die kommunale Ebene durch. Die Aufga­ben­zu­weisung an die Kommunen sei nach der Kompe­ten­z­ordnung des Grundgesetzes grundsätzlich den Ländern vorbehalten; diese müssten den Kommunen Kostenersatz für die mit der Aufga­ben­zu­weisung verbundenen Belastungen leisten. Weise hingegen der Bund die Aufgabe zu, sei das Land gegenüber den Kommunen nicht zum Kostenersatz verpflichtet. Es gebe auch keine direkten Finanz­be­zie­hungen zwischen dem Bund und den Kommunen, die zum Ausgleich genutzt werden könnten. Damit habe der Bund gegen das Verbot verstoßen, die finanziellen Verhältnisse der Kommunen ohne Einschaltung der Länder zu ordnen. Zudem hätte der Bund, wenn er schon Aufgaben an die Kommunen zuweise, einen vollständigen Mehrbe­las­tungs­aus­gleich vorsehen müssen. Stattdessen könne er nicht einmal sicherstellen, dass der gewährte unzureichende Ausgleich von den Ländern an ihre Kommunen weitergeleitet werde.

Die Beschwer­de­führer im Verfahren 2 BvR 2433/04 beanstanden zudem die in § 44 b SGB II getroffene Regelung über die Errichtung von Arbeits­ge­mein­schaften mit der Bundesagentur für Arbeit. Der Gesetzgeber verstoße gegen die Garantie kommunaler Selbst­ver­waltung, wenn er anordne, dass die kommunalen Träger die Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf Arbeits­ge­mein­schaften übertragen sollen. Dadurch werde den Kommunen die Aufga­ben­wahr­nehmung einerseits entzogen, andererseits blieben sie weiterhin Aufgabenträger. Diese Konstruktion diene allein dem Beibehalten einheitlicher Aufga­ben­wahr­nehmung trotz der Lastenzuweisung insbesondere für die Leistungen für Unterkunft und Heizung an die Kommunen. Die Kommunen müssten die Wahrnehmung der Aufgaben an die Arbeits­ge­mein­schaften übertragen, obwohl sie Aufgabenträger und damit finan­zie­rungs­ver­ant­wortlich blieben.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die Bestimmung der Kreise und kreisfreien Städte zu Trägern der Grundsicherung in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II verletzt nicht das Recht auf kommunale Selbst­ver­waltung. Die Beschwer­de­führer können sich auch nicht auf eine Verletzung von Art. 84 Abs. 1 GG berufen.

Das Recht der Selbst­ver­waltung ist den Gemein­de­ver­bänden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG nur eingeschränkt gewährleistet. Die Verfassung beschreibt die Aufgaben der Kreise nicht selbst, sondern überantwortet dies dem Gesetzgeber. Dessen Gestal­tungs­spielraum bei der Regelung des Aufga­ben­be­reichs der Kreise findet erst dort Grenzen, wo verfas­sungs­rechtliche Gewähr­leis­tungen des Selbst­ver­wal­tungs­rechts der Kreise entwertet würden. Ein Eingriff in das verfas­sungs­rechtlich garantierte Selbstverwaltungsrecht der Gemein­de­verbände kann bei einer Aufga­ben­zu­weisung aber erst angenommen werden, wenn die Übertragung einer neuen Aufgabe ihre Verwal­tungs­ka­pa­zitäten so sehr in Anspruch nimmt, dass sie nicht mehr ausreichen, um einen Mindestbestand an zugewiesenen Selbst­ver­wal­tungs­aufgaben des eigenen Wirkungskreises wahrzunehmen, der für sich genommen und im Vergleich zu zugewiesenen staatlichen Aufgaben ein Gewicht aufweist, das der insti­tu­ti­o­nellen Garantie der Kreise als Selbst­ver­wal­tungs­kör­per­schaften gerecht wird. Eine solche Verletzung des Kernbereichs oder Wesensgehalts der Selbst­ver­waltung durch die Aufga­ben­zu­weisung haben die Beschwer­de­führer nicht dargetan.

Offen bleiben muss, ob der Bund durch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II gegen Art. 84 Abs. 1 GG a.F. verstoßen hat; denn die Beschwer­de­füh­re­rinnen können sich, soweit der Schutzbereich der Selbst­ver­wal­tungs­ga­rantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG nicht berührt ist, im Rahmen einer Kommu­na­l­ver­fas­sungs­be­schwerde nicht auf diese Norm des Grundgesetzes berufen. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. enthält auch keine Konkretisierung des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG. Anders als Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl I, S. 2034) ließ sich der früheren Fassung des Art. 84 Abs. 1 GG kein absolutes Verbot der Aufga­ben­zu­weisung auf die kommunale Ebene entnehmen.

II. Die Verfas­sungs­be­schwerden sind auch unbegründet, soweit sich die Beschwer­de­führer gegen § 46 Abs. 1, 5 bis 10 SGB II wenden. Die Vorschrift ordnet eine Geldzahlung des Bundes an die Länder zur Entlastung der Kommunen an. Die Norm berechtigt und verpflichtet allein den Bund und die Länder. Ansprüche oder Pflichten der Kommunen werden hingegen nicht geregelt.

III. Dagegen verstößt die in § 44 b SGB II getroffene Regelung, wonach die kommunalen Träger und die Bundesagentur für Arbeit zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben Arbeits­ge­mein­schaften bilden sollen, gegen Art. 28 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 83 GG. Das in dieser Vorschrift geregelte Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden überschreitet die Grenzen des verfas­sungs­rechtlich Zulässigen.

1. Nach der Systematik des Grundgesetzes wird der Vollzug von Bundesgesetzen entweder von den Ländern oder vom Bund, nicht hingegen zugleich von Bund und Land oder einer von beiden geschaffenen dritten Institution wahrgenommen.

Zwar bedarf das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bereich der Verwaltung nicht in jedem Fall einer besonderen verfas­sungs­recht­lichen Ermächtigung. Eine Ausnahme bedarf jedoch eines besonderen sachlichen Grundes und kann nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwal­tungs­materie in Betracht kommen. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

§ 44 b SGB II ordnet an, dass die Agenturen für Arbeit und die kommunalen Träger zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben Arbeits­ge­mein­schaften bilden. Bei den Arbeits­ge­mein­schaften handelt es sich nicht lediglich um eine räumliche Zusammenfassung verschiedener Behörden. § 44 b SGB II sieht vielmehr eine selbständige, sowohl von der Sozial- als auch von der Arbeits­ver­waltung getrennte Organi­sa­ti­o­ns­einheit vor, die sich nicht auf koordinierende und informierende Tätigkeiten beschränkt, sondern die gesamten Aufgaben einer hoheitlichen Leistungs­ver­waltung im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst.

Die Arbeits­ge­mein­schaften sind als Gemein­schaft­s­ein­richtung von Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompe­ten­z­ordnung des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die ausnahmsweise die gemein­schaftliche Aufga­ben­wahr­nehmung in den Arbeits­ge­mein­schaften rechtfertigen könnten, existieren nicht. Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende handelt es sich sowohl nach der Anzahl der von den Regelungen betroffenen Personen als auch nach dem Finanzvolumen um einen der größten Sozia­l­ver­wal­tungs­be­reiche. Darüber hinaus fehlt es an einem hinreichenden sachlichen Grund, der eine gemein­schaftliche Aufga­ben­wahr­nehmung in den Arbeits­ge­mein­schaften rechtfertigen könnte. Das Anliegen, die Grundsicherung für Arbeitsuchende "aus einer Hand" zu gewähren, ist zwar ein sinnvolles Regelungsziel. Dieses kann aber sowohl dadurch erreicht werden, dass der Bund für die Ausführung den Weg der bundeseigenen Verwaltung wählt, als auch dadurch, dass der Gesamtvollzug insgesamt den Ländern als eigene Angelegenheit überlassen wird. Die Regelung des § 6 a SGB II, wonach anstelle der Arbeits­ge­mein­schaften in beschränkter Anzahl Kreise und kreisfreie Städte die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vollziehen können, zeigt, dass der Bundes­ge­setzgeber selbst eine in der Natur der Aufgabe begründete Notwendigkeit für eine gemeinsame Aufga­ben­wahr­nehmung durch Bundesagentur und kommunale Träger nicht gesehen hat.

Als sachlicher Grund für die Arbeits­ge­mein­schaften kann auch nicht angeführt werden, dass sich die politisch Handelnden nicht auf eine alleinige Aufga­ben­wahr­nehmung entweder durch die Bundesagentur oder durch die kommunale Ebene einigen konnten. Mangelnde politische Einigungs­fä­higkeit kann keinen Kompromiss rechtfertigen, der mit der Verfassung nicht vereinbar ist.

2. Die Einrichtung der Arbeits­ge­mein­schaft widerspricht darüber hinaus dem Grundsatz eigen­ver­ant­wort­licher Aufga­ben­wahr­nehmung. Dieser verpflichtet den zuständigen Verwal­tungs­träger, seine Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwal­tungs­ein­rich­tungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen.

Eine eigen­ver­ant­wortliche Aufga­ben­wahr­nehmung ist in den Arbeits­ge­mein­schaften weder für die Agenturen für Arbeit noch für die kommunalen Träger gewährleistet. In den Arbeits­ge­mein­schaften sind unabhängige und eigenständige Entscheidungen über die Aufga­ben­wahr­nehmung durch den jeweiligen Verwal­tungs­träger in weitem Umfang weder vorgesehen noch möglich. § 44 b Abs. 1 Satz 1 SGB II bestimmt, dass die Aufgaben in den Arbeits­ge­mein­schaften einheitlich wahrgenommen werden. Diese einheitliche Aufga­ben­wahr­nehmung zwingt die beiden Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sich in wesentlichen Fragen der Organisation und der Leistungs­er­bringung zu einigen. Innerhalb der Arbeits­ge­mein­schaften sind die Aufgaben der Arbeit­s­agenturen und der kommunalen Träger untrennbar verbunden und werden integriert und ganzheitlich wahrgenommen. Dies führt dazu, dass die Aufgaben nur dann nach den Vorstellungen des jeweiligen Verwal­tungs­trägers vollzogen werden können, wenn diese sich mit denjenigen des anderen Trägers decken.

Zudem widerspricht die Organi­sa­ti­o­nss­truktur der Arbeits­ge­mein­schaften der eigen­ver­ant­wort­lichen Aufga­ben­wahr­nehmung. Eigen­ver­ant­wortliche Aufga­ben­wahr­nehmung setzt voraus, dass der jeweils zuständige Verwal­tungs­träger auf den Aufgabenvollzug hinreichend nach seinen eigenen Vorstellungen einwirken kann. Daran fehlt es in der Regel, wenn Entscheidungen über Organisation, Personal und Aufga­be­n­er­füllung nur in Abstimmung mit einem anderen Träger getroffen werden können. Besteht, wie bei den Arbeits­ge­mein­schaften nach § 44 b SGB II, keine Letztent­schei­dungs­mög­lichkeit im Rahmen der Aufga­ben­wahr­nehmung, kann keiner der beteiligten Verwal­tungs­träger seinen eigenen Aufgabenbereich eigen­ver­ant­wortlich wahrnehmen.

Die von der Bundesagentur für Arbeit eingegangene Selbst­be­schränkung löst die Probleme nicht; denn die Selbst­be­schränkung eines der Aufgabenträger ist gleichzeitig mit der Nicht­wahr­nehmung der eigenen Verantwortung verbunden, so dass insoweit nicht mehr von einer eigen­ver­ant­wort­lichen Aufga­ben­wahr­nehmung gesprochen werden kann.

3. § 44 b SGB II verstößt zudem gegen den Grundsatz der Verant­wor­tungs­klarheit. Die organi­sa­to­rische und personelle Verflechtung bei der Aufga­ben­wahr­nehmung behindert eine klare Zurechnung staatlichen Handelns zu einem der beiden Leistungsträger. Ausdruck der mangelhaften Zuordnung von Verant­wort­lich­keiten, die mit der unklaren Zuordnung der Arbeits­ge­mein­schaften zur Bundes- oder zur kommunalen Ebene zusammenhängt, sind insbesondere Unsicherheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit von Bundes- und Landesrecht, wie sie etwa im Vollstre­ckungsrecht und beim Datenschutz aufgetreten sind. Die Unklarheiten in Bezug auf Einwir­kungs­mög­lich­keiten und Verant­wor­tungs­zu­rechnung führen zudem zu Freiräumen in den Arbeits­ge­mein­schaften, die die Gefahr einer Verselb­stän­digung ohne hinreichende Kontrolle durch einen verant­wort­lichen Träger mit sich bringen.

Dem Sondervotum des Richters Broß, der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt (zu Ziff. III) liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

§ 44 b SGB II begegnet im Rahmen einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die Norm ermöglicht eine Auslegung, nach der die Sachkompetenz bei dem jeweiligen Träger verbleibt und die Arbeits­ge­mein­schaft nur mit der Durchführung der Aufgaben betraut wird. Diese werden von den Arbeits­ge­mein­schaften lediglich aus Gründen der Optimierung der Verwal­tungs­a­bläufe wahrgenommen. Die Aufgabe der Arbeits­ge­mein­schaft besteht allein in der einheitlichen Durchführung der Aufgaben der Träger der Leistungen. Die Arbeits­ge­mein­schaft wird dadurch nicht selbst zum Träger der Aufgaben; deren Erfüllung obliegt vielmehr weiterhin den Agenturen für Arbeit und den kommunalen Trägern. Die den Landkreisen garantierte eigen­ver­ant­wortliche Aufga­ben­wahr­nehmung wird auch durch die Regelungen über eine einheitliche Entscheidung nicht beeinträchtigt. Die Einigung über die Anspruchs­vor­aus­set­zungen zwischen den Leistungs­trägern stellt sich nicht als Verständigung mit Kompro­mis­s­cha­rakter dar, sondern als Entscheidung zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verwal­tungs­handeln.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass § 44 b Abs. 3 Satz 2 SGB II auch keine Verpflichtung der Kommunen entnommen werden muss, ihre Aufgaben auf die Arbeits­ge­mein­schaften zu übertragen. Das Wort "sollen" ist vom Gesetzgeber bewusst gewählt worden, um eine ansonsten absehbar verfas­sungs­rechtliche Konfliktlage mit der Selbst­ver­wal­tungs­ga­rantie der Kommunen zu vermeiden. Das Ob, der Zeitpunkt, der Umfang und die Dauer der Übertragung stehen deshalb im pflichtgemäßen Ermessen der kommunalen Träger.

Der Gesetzgeber hat - auch, um ein von allen Seiten für notwendig erachtetes Reformwerk politisch realisieren zu können - verwal­tungs­or­ga­ni­sa­torisch Neuland beschritten und dafür einen rechtlichen Rahmen festgelegt, der auf Ausfüllung durch die beteiligten Körperschaften angelegt ist. Das Gesetz­ge­bungswerk ist darauf ausgerichtet, Erfahrungen zu sammeln und diese zu gegebener Zeit in der gebotenen Weise zu berücksichtigen, was die Möglichkeit ergänzender Gesetzgebung einschließt. Die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle darf diesen Aspekt nicht ausklammern. An der grundsätzlichen Zulässigkeit der Zusammenarbeit von Trägern öffentlicher Gewalt des Bundes mit solchen der Länder kann nicht gezweifelt werden. Vor diesem Hintergrund hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht zwar die bundess­taat­lichen Grenzen einer solchen Zusammenarbeit aufzuzeigen. Das Gebot, die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers zu respektieren, steht aber der Verwerfung einer Regelung entgegen, die verfas­sungs­konform auslegbar ist.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 118/07 des BVerfG vom 20.12.2007

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