21.11.2024
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Dokument-Nr. 31751

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Beschluss30.03.2022Bundesverfassungsgericht2 BvR 2069/21
Beschluss20.04.2022Bundesverfassungsgericht2 BvR 1713/21
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss30.03.2022

Bundesverfassungsgericht Beschluss20.04.2022

Verfassungs­beschwerden gegen Auslieferungen nach Schweden und in die Türkei erfolgreichEuGH nicht angerufen - Recht auf gesetzlichen Richter nicht gewahrt

Mit zwei Beschlüssen vom 30. März 2022 und vom 20. April 2022 - 2 BvR 1713/21 - hat das Bundes­verfassungs­gericht zwei Verfassungs­beschwerden teilweise stattgegeben, die sich gegen fachge­richtliche Entscheidungen richteten, mit denen die Auslieferungen eines Beschwer­de­führers zum Zwecke der Vollstreckung einer Maßregel nach Schweden und ein anderer zum Zwecke der Strafverfolgung in die Türkei - für zulässig erklärt wurden. Die angegriffenen Beschlüsse der Fachgerichte verletzen die Beschwer­de­führer jeweils in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Fachgerichte hätten gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht von einem Vorab­entscheidungs­ersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union absehen dürfen.

Dem Verfahren 2 BvR 1713/21 liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Der Beschwer­de­führer, ein afghanischer Staats­an­ge­höriger, leidet an einer paranoiden Schizophrenie, die in Afghanistan nicht behandelt werden konnte. Im Jahr 2017 reiste er nach Schweden ein und wurde dort im März 2018 zu einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der „rechts­psych­ia­trischen Fürsorge“ verurteilt. Im April 2019 reiste der Beschwer­de­führer in die Bundesrepublik Deutschland ein. Gestützt auf den Europäischen Haftbefehl der schwedischen Staats­an­walt­schaft ersuchten die schwedischen Behörden, den Beschwer­de­führer zum Zwecke der weiteren Vollstreckung der gegen ihn verhängten freiheits­ent­zie­henden Maßregel nach Schweden zu überstellen. Nach dem Ende einer knapp einmonatigen Unterbringung wurde der Beschwer­de­führer aufgrund der Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts, in der die Auslie­fe­rungshaft des Beschwer­de­führers angeordnet wurde, festgenommen. Der Beschwer­de­führer beantragte, den Auslie­fe­rungs­haft­befehl außer Vollzug zu setzen, damit er in einer psychiatrischen Klinik stationär weiterbehandelt werden könne. Eine Veränderung des zwischen­zeitlich gesicherten Behand­lungs­settings könne seinen Gesund­heits­zustand erheblich gefährden und den erreichten Behand­lungs­erfolg zunichtemachen. Das Oberlan­des­gericht lehnte den Antrag auf Außer­voll­zug­setzung ab und ordnete Haftfortdauer an. Nachdem es in der Justiz­voll­zugs­anstalt in den folgenden Tagen beim Beschwer­de­führer zu einer Exazerbation der paranoiden Schizophrenie gekommen war, hob das Oberlan­des­gericht den Auslie­fe­rungs­haft­befehl und die Haftfort­dau­e­rent­scheidung auf. Der Beschwer­de­führer wurde daraufhin erneut untergebracht. Mit angegriffenem Beschluss aus dem August 2021 erklärte das Oberlan­des­gericht die Auslieferung des Beschwer­de­führers mit der Maßgabe für zulässig, dass dieser von den schwedischen Behörden nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfe. Insbesondere verbiete sich die Auslieferung nicht im Hinblick auf den psycho­pa­tho­lo­gischen Zustand des Beschwer­de­führers.

Türkei fordert Auslieferung eines in Italien als Flüchtling anerkann­ten­Türken

Dem Verfahren 2 BvR 2069/21 liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Im Jahr 2010 reiste der Beschwer­de­führer aus der Türkei aus und bat in Italien um politisches Asyl. Im Mai 2010 wurde er bestandskräftig von den italienischen Behörden als Flüchtling im Sinne der Genfer Flücht­lings­kon­vention anerkannt. Gestützt auf einen Haftbefehl des 1. Schwurgerichts Bingöl/Türkei aus dem Juni 2020, schrieben die türkischen Behörden den Beschwer­de­führer über Interpol zur Festnahme zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung wegen des Vorwurfs des Totschlags aus. Der Beschwer­de­führer soll im September 2009 nach einer verbalen Ausein­an­der­setzung mit seinem Vater und seinem Bruder seine Mutter mit einem Gewehrschuss getroffen haben. Die Mutter sei später im Krankenhaus an diesen Verletzungen verstorben. Im November 2020 wurde der Beschwer­de­führer in Deutschland vorläufig festgenommen. Das Oberlan­des­gericht ordnete die vorläufige Auslie­fe­rungshaft an. Der Beschwer­de­führer bestreitet die Tat. Die Strafverfolgung habe maßgebliche politische Implikationen, da die türkischen Behörden ihn als Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgten. Deshalb habe er auch in Italien um Asyl gebeten. Die türkischen Behörden erklärten zwischen­zeitlich in mehreren Verbalnoten unter anderem, dass es sich bei der zur Last gelegten Straftat um keine politische oder militärische Straftat handele und dem Beschwer­de­führer keine politische Verfolgung drohe. Mit angegriffenem Beschluss aus dem November 2021 erklärte das Oberlan­des­gericht die Auslieferung für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslie­fe­rungshaft an. Es bestünden keine Auslie­fe­rungs­hin­dernisse. Die dem Beschwer­de­führer zur Last gelegte Tat weise keine Bezüge zu einer politischen oder mit einer solchen zusam­men­hän­genden strafbaren Handlung auf. Eine ernsthafte, konkrete Gefahr für den Beschwer­de­führer, im Falle seiner Auslieferung einer politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein, bestehe nicht. Mit der Zuerkennung der Flücht­lings­ei­gen­schaft der italienischen Behörden im Mai 2010 sei kein generelles Auslie­fe­rungs­verbot begründet worden.

EuGH hätte zu Aufklärungs- und Prüfungs­pflichten der Vollstre­ckungs­behörde bei psychischer Krankheit befragt werden müssen

Die angegriffenen Entscheidungen der Oberlan­des­ge­richte über die Zulässigkeit der Auslieferung verletzen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Oberlan­des­ge­richte Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Die Gerichte hätten nicht ohne Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen. Im Verfahren 2 BvR 1713/21 wirft der Sachverhalt die entschei­dungs­er­hebliche Frage auf, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmen­be­schlusses über den Europäischen Haftbefehl im Licht des Art. 3 Abs. 1 GRCh (Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit) dahin auszulegen ist, dass der vollstreckenden Justizbehörde eigene Aufklärungs- und Prüfungs­pflichten obliegen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der betroffenen Person, die an einer psychischen Krankheit leidet, durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesund­heits­schä­digung droht. Zum anderen stellt sich die Frage, ob im Falle einer solchen konkreten Gefahr ein Überstel­lungs­hin­dernis vorliegt. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu diesen entschei­dungs­er­heb­lichen Fragen ist nicht vollständig. Bislang hat der Gerichtshof weder die Frage, ob und in welchem Maße eigene Aufklärungs- und Prüfungs­pflichten des mit einem Überstel­lungs­er­suchen befassten Gerichts aus Art. 3 GRCh abzuleiten sind, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der betroffenen Person durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren psychischen Gesund­heits­schä­digung droht, noch die Frage, ob in einem solchen Fall die Überstellung abgelehnt werden darf, abschließend geklärt. Angesichts der Unvoll­stän­digkeit einschlägiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind auch keine Ausnahmen von der unions­recht­lichen Vorlagepflicht des Oberlan­des­ge­richts ersichtlich. Insbesondere konnte das Gericht vor diesem Hintergrund nicht von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts ausgehen, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe („acte clair“).

Kann die Flücht­lings­a­n­er­kennung in Italien ein Auslie­fe­rungs­hin­dernis darstellen?

Im Verfahren 2 BvR 2069/21 wirft der Sachverhalt die entschei­dungs­er­hebliche Frage auf, ob die bestands­kräftige Anerkennung des Beschwer­de­führers als Flüchtling durch die italienischen Behörden im Mai 2010 für das Auslie­fe­rungs­ver­fahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unions­recht­lichen Pflicht zur richt­li­ni­en­kon­formen Auslegung nationalen Rechts verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegenstünde, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist. Diese Frage ist im Schrifttum umstritten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bislang nicht geklärt. Vor diesem Hintergrund hätte das Oberlan­des­gericht sich mit den unter­schied­lichen Ausle­gungs­mög­lich­keiten von Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 der Asyl-Verfah­rens­richtlinie ausein­an­der­setzen und das Absehen von einer Vorlage an den Gerichtshof näher begründen müssen. So könnten die Richt­li­ni­en­be­stim­mungen einerseits so ausgelegt werden, dass auch nach der (bestands­kräftigen) Zuerkennung des Flücht­lings­status eine Auslieferung in den Herkunftsstaat, einen Drittstaat, zulässig ist, soweit diese nicht gegen Völkerrecht und Unionsrecht (insbesondere Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 GRCh) verstößt. Andererseits könnte die Norm im Wege eines Umkehrschlusses auch so auszulegen sein, dass nach Abschluss des Asylverfahrens mit einer bestands­kräftigen Anerkennung als Flüchtling durch einen EU-Mitgliedstaat eine Auslieferung an den Herkunftsstaat durch einen anderen EU-Mitgliedstaat nicht (mehr) zulässig ist. Letztlich sind die Gründe, aus denen das Gericht von einer fehlenden Bindungswirkung im vorliegenden Fall ausgeht, nicht nachvollziehbar. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Fortdauer der Auslie­fe­rungshaft richtete, genügt sie hingegen nicht dem gesetzlichen Begrün­dungs­er­for­dernis.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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