21.11.2024
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Dokument-Nr. 30788

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Beschluss08.09.2021Bundesverfassungsgericht2 BvR 2000/20
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.09.2021

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde im Zusammenhang mit der Unterbringung in einer kinder- und jugend­psychiatrischen EinrichtungWürdigung des Oberlan­des­ge­richts verkürzte das Recht auf effektiven Rechtsschutz

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, der fachge­richtliche Verfahren zu Grunde lagen, in denen der damals fünfzehnjährige Beschwer­de­führer erfolglos die Feststellung begehrte, seine Unterbringung in einer kinder- und jugend-psychiatrischen Einrichtung sei rechtswidrig gewesen. Der Beschwer­de­führer hatte während seiner Unterbringung erklärt, dass er eine zu diesem Zeitpunkt verhandelte Beschwerde auf die Änderung des Klinikortes beschränken wollte. Mehrere Umstände, die darauf hindeuten, dass er damit nicht die Unterbringung insgesamt „akzeptieren“ wollte, ließ das Oberlan­des­gericht später unberück­sichtigt. Mit dieser Würdigung verkürzte es das Recht auf effektiven Rechtsschutz.

Der zum Zeitpunkt des fachge­richt­lichen Verfahrens 15 Jahre alte Beschwer­de­führer zeigte seit Mitte des Jahres 2019 psychische Auffälligkeiten. Es kam zu gewaltsamen Konflikten mit seinen Eltern, die ihn mehrmals in einem Bezirks­kran­kenhaus unterbringen ließen. Im Mai 2020 wandte sich der Vater des Beschwer­de­führers an die Polizei und gab an, der Beschwer­de­führer verhalte sich aggressiv und habe gedroht, sich das Leben zu nehmen. Der Beschwer­de­führer wurde zunächst unter Berufung auf das bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in einem Bezirks­kran­kenhaus untergebracht. Die Eltern beantragten in der Folge die Genehmigung der Unterbringung ihres Sohnes beim Amtsgericht (Familiengericht).

Familiengericht genehmigte die Unterbringung

Mit Beschluss vom 13. Mai 2020 (erster Unter­brin­gungs­be­schluss) genehmigte das Familiengericht im Wege einer einstweiligen Anordnung die Unterbringung des Beschwer­de­führers bis längstens zum 23. Juni 2020. Einer hiergegen gerichteten Beschwerde des Beschwer­de­führers half es nicht ab. Eine Entscheidung des zuständigen Oberlan­des­ge­richts erging zunächst nicht. Mit Beschluss vom 22. Juni 2020 (zweiter Unter­brin­gungs­be­schluss) verlängerte das Familiengericht in einem gesonderten Verfahren die Unter­brin­gungs­ge­neh­migung bis längstens zum 4. August 2020. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde ebenfalls dem Oberlan­des­gericht vorgelegt.

Zwischen­zeitlich äußerte der Beschwer­de­führer gegenüber seinen behandelnden Ärzten mehrfach den Wunsch, sich in einer anderen Klinik behandeln zu lassen. Die behandelnde Ärztin übersandte dem Oberlan­des­gericht darauf ein Schreiben mit der Bitte, den Beschluss hinsichtlich des Klinikortes abzuändern. Nach Angaben des Beschwer­de­führers hatten ihm die behandelnden Ärzte zu verstehen gegeben, sie würden eine Verlegung nur veranlassen, wenn er seine Beschwerde gegen den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss zurücknehme beziehungsweise sie auf die Änderung des Klinikortes beschränke. Am 15. Juli 2020 schrieb der Beschwer­de­führer unter (alleiniger) Nennung der Aktenzeichen der Verfahren betreffend den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss eine Erklärung an das Oberlan­des­gericht. Er führte aus, eine Verlegung sei nach Auskunft der behandelnden Ärzte nur nach Absprache zwischen den beteiligten Kliniken und nur am morgigen Tag möglich. Da er die Verlegung für äußerst wichtig halte, nehme er seine Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts unter der „Kondition“ zurück, dass der Beschluss auf eine geschlossene jugend­psych­ia­trische Einrichtung geändert werde.

Das Oberlan­des­gericht änderte den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss anschließend dahingehend ab, dass die Unterbringung des Beschwer­de­führers in einer geschlossenen Abteilung einer (nicht mehr näher spezifizierten) jugend­psych­ia­trischen Einrichtung zu erfolgen habe. In einem Beschluss betreffend die Beschwerde gegen den ersten Unter­brin­gungs­be­schluss traf es lediglich eine Kosten­ent­scheidung und führte zur Begründung aus, das (erste) Unter­brin­gungs­ver­fahren habe sich durch Zeitablauf erledigt.

Im September 2020 beantragte der Beschwer­de­führer schließlich erfolglos beim Oberlan­des­gericht die Feststellung, dass der erste Unter­brin­gungs­be­schluss ihn in seinen Rechten verletzt habe. Das Oberlan­des­gericht führte zur Begründung aus, der Beschwer­de­führer habe im hiesigen Verfahren „vor der abschließenden Entscheidung des Senats“ keinen Feststel­lungs­antrag gestellt. Sein Antrag sei nunmehr jedoch als Gegen­vor­stellung auszulegen. Diese sei allerdings mangels Feststel­lungs­in­teresse unbegründet. Indem der Beschwer­de­führer seine Beschwerde gegen den (zweiten) Unter­brin­gungs­be­schluss zurückgenommen habe, habe er „letztendlich die Unterbringung akzeptiert“.

Der Beschwer­de­führer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte auf effektiven Rechtschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer

Die Verfas­sungs­be­schwerde hat Erfolg. Die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts verletzt die Rechte des Beschwer­de­führers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

1. Es ist bereits fraglich, ob der Ansatz des Oberlan­des­ge­richts, den Antrag des Beschwer­de­führers als Gegen­vor­stellung zu deuten, dem Gebot effektiven Rechtsschutzes tatsächlich genügt. Denn es standen möglicherweise rechts­schut­zin­ten­sivere Instrumente zur Verfügung, mit deren Anwendbarkeit sich das Oberlan­des­gericht nicht ausein­an­der­gesetzt hat. Angesichts der unterbliebenen Belehrung über die Möglichkeit der Antrags­um­stellung hätte beispielsweise erwogen werden können, den Antrag des Beschwer­de­führers als isolierten Feststel­lungs­antrag zuzulassen.

2. Jedenfalls verkürzt die Würdigung des Oberlan­des­ge­richts den dem Beschwer­de­führer zustehenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Das Oberlan­des­gericht hat festgestellt, dass die Gegen­vor­stellung wegen fehlenden Feststel­lungs­in­teresses „jedenfalls unbegründet“ sei. Indem der Beschwer­de­führer seine Beschwerde gegen den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss zurückgenommen habe, habe er „letztendlich die Unterbringung akzeptiert“, sodass nicht ersichtlich sei, inwieweit er nach Erledigung der ersten Unterbringung ein berechtigtes Interesse an der Feststellung ihrer Rechts­wid­rigkeit haben könne. Das Oberlan­des­gericht hat in diesem Zusammenhang jedoch nicht hinreichend ermittelt, welches konkrete Rechts­schutzziel der Beschwer­de­führer im hier allein maßgeblichen Verfahren betreffend den ersten Unter­brin­gungs­be­schluss verfolgte. Es hat schlicht die in einem anderen Verfahren - betreffend den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss - abgegebene Beschwer­derü­ck­nah­me­er­klärung herangezogen, sich jedoch weder mit deren Inhalt und Kontext ausein­an­der­gesetzt noch nachvollziehbar aufgezeigt, dass die Erklä­rungs­aussage nach dem Willen des Beschwer­de­führers für beide Verfahren gelten sollte und das Rechts­schutzziel jeweils identisch war.

b) Es deuten mehrere Umstände darauf hin, dass der Beschwer­de­führer gerade nicht gewillt war, mit seiner Erklärung vom 15. Juli 2020 auch zur ersten Unterbringung beziehungsweise zur Unterbringung insgesamt Stellung zu nehmen und deren „Akzeptanz“ zu erklären.

Schon ihrem Wortlaut nach bezog sich die Erklärung vom 15. Juli 2020 allein auf das (Beschwerde-)Verfahren betreffend den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss. Der Beschwer­de­führer nennt in seiner Erklärung ausschließlich die Aktenzeichen des zweiten Unter­brin­gungs­be­schlusses, nicht jedoch die des ersten. Die Unterbringung erfolgte darüber hinaus aufgrund des ersten Unter­brin­gungs­be­schlusses in der Klinik, aus der der Beschwer­de­führer letztlich verlegt zu werden begehrte. Es spricht daher vieles dafür, dass er mit der dortigen Behandlung (auch) während des ersten Unter­brin­gungs­zeitraums gerade nicht einverstanden war. Angesichts dessen leuchtet nicht ein, warum der Beschwer­de­führer diese Unterbringung letztlich doch hätte „akzeptieren“ wollen. Schließlich bestehen Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschwer­de­führer in einer Drucksituation wähnte, als er die Erklärung vom 15. Juli 2020 abgab. Offenbar hatte er den Gesprächen mit seinen behandelnden Ärzten entnommen, dass eine Verlegung nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und ausschließlich dann durchgeführt werden könne, wenn er sein Beschwer­de­ver­fahren nicht fortführe. Es erscheint naheliegend, dass der Beschwer­de­führer sich einem infolgedessen empfundenen Druck beugte und die Rücknahme der Beschwerde gegen den zweiten Unter­brin­gungs­be­schluss allein mit dem Ziel erklärte, wenigstens seine Verlegung in eine andere Klinik zu erreichen. Dass der Beschwer­de­führer unter diesen Umständen darüber hinaus auch die vorangegangene Unterbringung vor Augen hatte und eine Erklärung abgeben wollte, die der Sache nach einen Rechts­mit­tel­verzicht auch für diese vorangegangene Unterbringung beinhaltete, liegt jedenfalls nicht auf der Hand.

c) Die genannten Umstände hat das Oberlan­des­gericht unberück­sichtigt gelassen. Es hat dem Beschwer­de­führer ohne nähere Begründung schlicht unterstellt, die (gesamte) Unterbringung durch die Beschwer­derü­cknahme „letztendlich akzeptiert“ zu haben, was im Ergebnis einem Rechts­mit­tel­verzicht gleichkommt. Die Würdigung des Oberlan­des­ge­richts genügt angesichts dessen nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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