15.11.2024
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Dokument-Nr. 1621

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Bundesverfassungsgericht Urteil19.12.2000

Verfas­sungs­be­schwerde der Zeugen Jehovas erfolgreich

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der Verfas­sungs­be­schwerde der Religi­o­ns­ge­mein­schaft der Zeugen Jehovas stattgegeben und das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts (BVerwG) vom 26. Juni 1997 aufgehoben und die Sache an das BVerwG zurückverwiesen.

Durch die Entscheidung des BVerwG wird die Beschwer­de­führerin (Bf) in ihrem verfas­sungs­mäßigen Recht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV verletzt. Diese Normen bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Religionsgemeinschaft Anspruch auf die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hat.

1. Die Bf bietet die in Art. 137 Abs. 5 WRV genannte "Gewähr der Dauer". Hierzu ist es nicht erforderlich, dass eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft sich zunächst in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins bewährt hat. Auch der Glaube der Bf an ein bevorstehendes Ende der Welt steht dieser Dauerhaftigkeit nicht entgegen. Es verbietet sich nämlich im religiös neutralen Staat, die Bf hinsichtlich ihrer religiösen Vorstellungen gleichsam beim Wort zu nehmen. Im Übrigen hat bereits einige Male ein von der Bf vorhergesagter Weltuntergang nicht stattgefunden, die Religi­o­ns­ge­mein­schaft aber weiter Bestand. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist daher ihre Dauerhaftigkeit nicht zu bezweifeln.

2. Aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV ergeben sich des Weiteren ungeschriebene Voraussetzungen, die eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft erfüllen muss, um den Körper­schafts­status erlangen zu können. Im Kontext des GG ist der den Religi­o­ns­ge­mein­schaften angebotene Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Mittel zur Entfaltung der Religi­o­ns­freiheit. Er soll die Eigen­stän­digkeit und Unabhängigkeit der Religi­o­ns­ge­mein­schaften unterstützen. Dass diese ihre Tätigkeit frei von staatlicher Bevormundung und Einflussnahme entfalten können, schafft die Voraussetzung und den Rahmen, in dem die Religi­o­ns­ge­mein­schaften das Ihre zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft beitragen können.

Die korporierten Religi­o­ns­ge­mein­schaften unterscheiden sich im religiös-weltanschaulich neutralen Staat des GG, der keine Staatskirche kennt, grundlegend von den Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und staats­or­ga­ni­sa­ti­o­ns­recht­lichen Verständnis. Sie nehmen keine Staatsaufgaben wahr, sind nicht in die Staats­or­ga­ni­sation eingebunden und unterliegen keiner staatlichen Aufsicht. Ihnen werden aber mit dem Körper­schafts­status bestimmte hoheitliche Befugnisse übertragen. Diese und andere Vergünstigungen erleichtern es der Religi­o­ns­ge­mein­schaft, ihre Organisation und ihr Wirken nach den Grundsätzen ihres religiösen Selbst­ver­ständ­nisses zu gestalten. Die Vergünstigungen bewirken mit erhöhten Einfluss­mög­lich­keiten aber auch die erhöhte Gefahr eines Missbrauchs zum Nachteil der Religi­o­ns­freiheit der Mitglieder oder anderer Verfas­sungsgüter. Bei der Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen kann, muss deswegen auch die Verantwortung des Staates zur Geltung gebracht werden, dem das GG die Achtung und den Schutz der Menschenwürde aufgibt und den es zur Wahrung und zum Schutz der Grundwerte der Verfassung verpflichtet.

3. Daraus folgt zum einen, dass eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, rechtstreu sein muss.

Innerhalb wie außerhalb des Bereichs hoheitlichen Handelns hat sie die staats­bür­gerliche Pflicht zur Beachtung der Gesetze. Allerdings stellt nicht jeder einzelne Verstoß gegen Rechtsnormen die Gewähr rechtstreuen Verhaltens in Frage. Auch den korporierten Religi­o­ns­ge­mein­schaften ist es unbenommen, Meinungs­ver­schie­den­heiten mit staatlichen Behörden darüber, wo im Einzelfall die der Religi­o­ns­freiheit und dem religiösen Selbst­be­stim­mungsrecht durch das Gesetz gezogene Grenze verläuft, durch die Gerichte klären zu lassen. Viele Religionen erheben im Einzelfall einen Vorbehalt zugunsten ihrer Gewis­sen­s­ent­scheidung und bestehen darauf, im unaus­weich­lichen Konfliktfall den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen als den Geboten des Rechts. Aus Rücksicht auf die Religi­o­ns­freiheit, der der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts letztlich dient, stehen solche Vorbehalte der Verleihung dieses Status jedenfalls solange nicht im Wege, als die Religi­o­ns­ge­mein­schaft im Grundsatz bereit ist, Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfas­sungs­mäßige Ordnung einzufügen.

4. Eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, muss ferner die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfas­sungs­prin­zipien, die staatlichem Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staats­kir­chen­rechts des GG nicht gefährdet. Eine systematische Beein­träch­tigung oder Gefährdung der Grundsätze, die das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 GG jeglicher Änderung entzogen hat, darf der Staat von Seiten einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religi­o­ns­ge­mein­schaft nicht hinnehmen. Dazu gehören die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie. An die einzelnen Grundrechte sind die korporierten Religi­o­ns­ge­mein­schaften - außer in Ausübung hoheitlicher Befugnisse - zwar nicht unmittelbar gebunden. Der Staat darf aber einen Status, der besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft vermittelt, nicht an eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft verleihen, gegen die einzuschreiten er zum Schutz grund­recht­licher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre. So verpflichtet ihn das Grundgesetz, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Kinder können staatlichen Schutz ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG beanspruchen; dabei bildet das Kindeswohl den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fordert vom Staat, jeden Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen zu schützen. Ebenso darf das Verhalten solcher Religi­o­ns­ge­mein­schaften, die mit einem bevorzugten Status ausgestattet sind, die Freiheit­lichkeit des Staats­kir­chen­rechts nicht beeinträchtigen oder gefährden. Das Verbot einer Staatskirche und die Prinzipien von Neutralität und Parität müssen unangetastet bleiben.

Andererseits dürfen die rechtlichen Anforderungen an eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, nicht ihrerseits in Widerspruch zu den prinzipiellen Wertungen des verfas­sungs­recht­lichen Religions- und Staats­kir­chen­rechts geraten. Wegen des Grundsatzes der religiös- weltan­schau­lichen Neutralität darf der Staat eine antragstellende Religi­o­ns­ge­mein­schaft nicht nach ihrem Glauben, sondern nur nach ihrem Verhalten beurteilen. Zudem sind die in Art. 20 GG niedergelegten Grundprinzipien und die Grundsätze des Religions- und Staats­kir­chen­rechts Struk­tur­vorgaben staatlicher Ordnung, die nur als solche Schutz verdienen. Aus ihnen kann nicht gefolgert werden, die Binnenstruktur einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft müsse z.B. demokratisch organisiert sein. Auch der als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religi­o­ns­ge­mein­schaft bleibt es zudem unbenommen, ihr Verhältnis zu anderen Religionen nach ihrem eigenen Selbst­ver­ständnis zu gestalten, solange sie den verfas­sungs­recht­lichen Ordnungsrahmen nicht beeinträchtigt. Letzteres wäre etwa der Fall, wenn sie auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschafts­ordnung hinwirkte.

Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat kann nicht verlangt werden. Die korporierten Religi­o­ns­ge­mein­schaften brauchen ihr Wirken nicht an den Interessen und Zielen des Staates auszurichten, weil die Religi­o­ns­freiheit es ihnen überlässt, wie sie den ihnen eröffneten Freiheitsraum ausfüllen. Außerdem ist "Loyalität" ein vager Begriff, der auch auf eine innere Disposition und nicht nur auf ein äußeres Verhalten zielt. Gleichermaßen kann es unter dem GG nicht Ziel einer Verleihung des Körper­schafts­status sein, eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft durch Privilegien zur Kooperation mit dem Staat anzuhalten. Das GG ermöglicht eine Zusammenarbeit der Religi­o­ns­ge­mein­schaften mit dem Staat, macht sie aber nicht zur Bedingung.

Insgesamt setzt die Prüfung, ob eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft die Gewähr dazu bietet, die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfas­sungs­prin­zipien, die staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des Religions- und Staats­kir­chen­rechts nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden, eine komplexe Prognose voraus. Hier ist den Fachgerichten eine typisierende Gesamt­be­trachtung und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände aufgegeben, die für die Entscheidung über den Körper­schafts­status von Bedeutung sind.

5. Nach diesen Maßstäben kann das Urteil des BVerwG kein Bestand haben.

Zwar hat das BVerwG zutreffend angenommen, dass der Bf der Körper­schafts­status nicht schon wegen ihrer grundsätzlichen Haltung zum Staat versagt werden darf, auch wenn die Bf in ihren religiösen Lehren den Staat als "Bestandteil der Welt Satans" ansieht. Die Bf akzeptiert in ihrem tatsächlichen Verhalten den Staat als "von Gott geduldete Überg­angs­ordnung".

Aber auch das religiöse Verbot der Teilnahme an staatlichen Wahlen rechtfertigt die Versagung des Körper­schafts­status nicht. Zwar gehört das Demokra­tie­prinzip zu den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten ewigen Bestandteilen des GG. Die Bf greift das Demokra­tie­prinzip als solches jedoch nicht an, sie will nicht die Demokratie durch eine andere Staatsform ersetzen. Ihre Bestrebungen sind apolitisch, sie richten sich auf ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens. In den über 100 Jahren ihres Bestehens stellt die Bf auch mangels Einflusses auf Nichtmitglieder keine reale Gefahr für die Demokratie da. Deshalb ist ihr Verhalten gegenüber staatlichen Wahlen ein Gesichtspunkt, der zwar bei der gebotenen typisierenden Gesamt­be­trachtung Berück­sich­tigung finden kann. Er trägt aber für sich allein die Annahme einer Gefährdung der unantastbaren Gehalte des Demokra­tie­prinzips nicht.

6. Den Fachgerichten ist nunmehr aufgegeben zu überprüfen, ob die staatlichem Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter einer Verleihung des Körper­schafts­status an die Bf entgegen stehen. Insoweit ist im fachge­richt­lichen Verfahren offen geblieben, ob die Bf durch von ihr empfohlene Erzie­hung­s­praktiken das Wohl der Kinder beeinträchtigt oder austritts­willige Mitglieder zwangsweise oder mit vom GG missbilligten Mitteln in der Gemeinschaft festhält und damit dem staatlichen Schutz anvertraute Grundrechte beeinträchtigt.

siehe nachfolgend Urteil des BverwG vom 17.05.2001 : Antrag der Zeugen Jehovas auf Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts

Quelle: Pressemitteilung Nr. 159/2000 des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2000

der Leitsatz

1. Eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV), muss rechtstreu sein.

a) Sie muss die Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfas­sungs­recht­lichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird.

b) Sie muss außerdem die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfas­sungs­prin­zipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staats­kir­chen­rechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.

2. Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht.

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