21.11.2024
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Dokument-Nr. 23278

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Urteil13.10.2016Bundesverfassungsgericht2 BvR 1368/16, 2 BvR 1444/16, 2 BvR 1823/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvE 3/16
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Bundesverfassungsgericht Urteil13.10.2016

Eilanträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Sachen "CETA" erfolglosBVerfG knüpft vorläufige Zustimmung zu CETA jedoch an Bedingungen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, die sich gegen eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union zur Unterzeichnung, zum Abschluss und zur vorläufigen Anwendung des Freihandels­abkommens zwischen der Europäischen Union und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement - CETA) richteten, über die der Rat der Europäischen Union voraussichtlich am 18. Oktober 2016 entscheiden wird.

Die Bundesregierung muss allerdings sicherstellen, - dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur die Bereiche von CETA umfassen wird, die unstreitig in der Zuständigkeit der Europäischen Union liegen,

- dass bis zu einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts in der Hauptsache eine hinreichende demokratische Rückbindung der im Gemischten CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet ist, und

- dass die Auslegung des Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland ermöglicht.

Bei Einhaltung dieser Maßgaben bestehen für die Rechte der Beschwer­de­führer sowie für die Mitwir­kungs­rechte des Deutschen Bundestages keine schweren Nachteile, die im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten erscheinen ließen.

Sachverhalt

Im April 2009 ermächtigte der Rat der Europäischen Union die Europäische Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Wirtschafts- und Handelsabkommen mit Kanada. Das Abkommen sollte das gemeinsame Ziel einer beiderseitigen schrittweisen Liberalisierung praktisch aller Bereiche des Waren- und Dienst­leis­tungs­handels und der Niederlassung bekräftigen und die Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialabkommen sicherstellen und erleichtern. Nach Abschluss der Verhandlungen unterbreitete die Europäische Kommission dem Rat der Europäischen Union im Juli 2016 den Vorschlag, die Unterzeichnung von CETA zu genehmigen, die vorläufige Anwendung zu erklären, bis die für seinen Abschluss erforderlichen Verfahren abgeschlossen sind, und das Abkommen abzuschließen.

Die Antragsteller zu I. - IV. machen im Wesentlichen geltend, dass ein Beschluss des Rates der Europäischen Union über die Genehmigung der Unterzeichnung von CETA, dessen vorläufige Anwendung und den Abschluss des Abkommens sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verletze. Die Fraktion Die LINKE im Deutschen Bundestag trägt im Organ­streit­ver­fahren vor, dass sie in Prozess­stand­schaft Rechte des Deutschen Bundestages geltend mache, namentlich sein Gestal­tungsrecht aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG.

BVerfG kann zur Abwehr schwerer Nachteile Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die zulässigen Anträge unbegründet sind. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen. Dieser wird noch weiter verschärft, wenn eine Maßnahme mit völker­recht­lichen oder außen­po­li­tischen Auswirkungen in Rede steht. Die Erfolgs­aus­sichten in der Hauptsache haben außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Folgenabwägung vornehmen.

Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolglos

Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleiben ungeachtet offener Fragen der Zulässigkeit und Begründetheit der Verfas­sungs­be­schwerden und des Organ­streit­ver­fahrens jedenfalls aufgrund der gebotenen Folgenabwägung ohne Erfolg.

BVerfG verweist auf Möglichkeit drohender schwerer Nachteile

Erginge die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Mitwirkung der Bundesregierung an der Beschluss­fassung des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA später aber als verfas­sungs­rechtlich zulässig, drohten der Allgemeinheit mit hoher Wahrschein­lichkeit schwere Nachteile.

Dabei lägen die wesentlichen Folgen eines auch nur vorläufigen, erst recht aber eines endgültigen Scheiterns von CETA weniger auf wirtschaft­lichem als vielmehr auf politischem Gebiet. Eine einstweilige Anordnung, durch die die Bundesregierung an einer Zustimmung zur vorläufigen Anwendung von CETA gehindert würde, würde in erheblichem Maße in die - grundsätzlich weite - Gestal­tungs­freiheit der Bundesregierung im Rahmen der Europa-, Außen- und Außen­wirt­schafts­politik eingreifen. Dies gälte in vergleichbarer Weise auch für die Europäische Union. Ein - auch nur vorläufiges - Scheitern von CETA dürfte über eine Beein­träch­tigung der Außen­han­dels­be­zie­hungen zwischen der Europäischen Union und Kanada hinaus weit reichende Auswirkungen auf die Verhandlung und den Abschluss künftiger Außen­han­del­s­ab­kommen haben. Insofern erscheint es naheliegend, dass sich der Erlass einer einstweiligen Anordnung negativ auf die europäische Außen­han­dels­politik und die internationale Stellung der Europäischen Union insgesamt auswirken würde. Die mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung bei späterer Erfolglosigkeit der Hauptsache verbundenen Nachteile könnten sich mit hoher Wahrschein­lichkeit als irreversibel erweisen. Die zu erwartende Einbuße an Verlässlichkeit sowohl der Bundesrepublik Deutschland - als Veranlasser einer derartigen Entwicklung - als auch der Europäischen Union insgesamt könnte sich dauerhaft negativ auf den Handlungs- und Entschei­dungs­spielraum aller europäischen Akteure bei der Gestaltung der globalen Handels­be­zie­hungen auswirken.

Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, sich die Mitwirkung der Bundesregierung an der Beschluss­fassung des Rates später aber als unzulässig erwiese. Zwar enthält CETA Bestimmungen, die den Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung im Haupt­sa­che­ver­fahren als Ultra-vires-Akt qualifizieren könnten. Auch ist eine Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfas­sungs­i­dentität nicht ausgeschlossen.

Allerdings hat die Bundesregierung dargelegt, dass durch die endgültige Fassung des streit­ge­gen­ständ­lichen Ratsbeschlusses und entsprechende eigene Erklärungen (Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe b CETA) Ausnahmen von der vorläufigen Anwendung bewirkt werden, die es jedenfalls im Ergebnis sichergestellt erscheinen lassen, dass der bevorstehende Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA nicht als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren sein dürfte. Soweit diese Vorbehalte reichen, dürften auch etwaige Bedenken gegen die in Rede stehende Regelung unter dem Gesichtspunkt der grund­ge­setz­lichen Verfas­sungs­i­dentität entkräftet sein. Die Bundesregierung hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass sie im Rat nur denjenigen Teilen von CETA zustimmen wird, die sich zweifellos auf eine primär­rechtliche Kompetenz der Europäischen Union stützen lassen. Sie wird ihrem Vorbringen nach nicht der vorläufigen Anwendung für Sachmaterien zustimmen, die in der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland verblieben sind. Dies betrifft insbesondere Regelungen zum Inves­ti­ti­o­ns­schutz, einschließlich des Gerichtssystems (Kapitel 8 und 13 CETA), zu Portfo­lioin­ves­ti­tionen (Kapitel 8 und 13 CETA), zum internationalen Seeverkehr (Kapitel 14 CETA), zur gegenseitigen Anerkennung von Berufs­qua­li­fi­ka­tionen (Kapitel 11 CETA) sowie zum Arbeitsschutz (Kapitel 23 CETA).

Einer etwaigen Berührung der Verfas­sungs­i­dentität (Art. 79 Abs. 3 GG) durch Kompe­ten­zausstattung und Verfahren des Ausschuss­systems kann - jedenfalls im Rahmen der vorläufigen Anwendung - auf unter­schiedliche Weise begegnet werden. Es könnte etwa durch eine inter­in­sti­tu­ti­onelle Vereinbarung sichergestellt werden, dass Beschlüsse des Gemischten CETA-Ausschusses nach Art. 30.2 Abs. 2 CETA nur auf Grundlage eines gemeinsamen Standpunktes (Art. 218 Abs. 9 AEUV) gefasst werden, der im Rat einstimmig angenommen worden ist.

Vorläufige Anwendung des Abkommens für BRD könnte notfalls durch schriftliche Notifizierung beendet werden

Sollte sich entgegen der Annahme des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts ergeben oder abzeichnen, dass die Bundesregierung die von ihr angekündigten Handlungs­op­tionen zur Vermeidung eines möglichen Ultra-vires-Aktes oder einer Verletzung der Verfas­sungs­i­dentität des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) nicht realisieren kann, verbleibt ihr in letzter Konsequenz die Möglichkeit, die vorläufige Anwendung des Abkommens für die Bundesrepublik Deutschland durch schriftliche Notifizierung zu beenden (Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA). Zwar erscheint die Auslegung der genannten Norm nicht zwingend. Sie ist aber von der Bundesregierung als zutreffend vorgetragen worden. Dieses Verständnis hat sie in völkerrechtlich erheblicher Weise zu erklären und ihren Vertrags­partnern zu notifizieren.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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