18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.01.2020

Kopftuchverbot für Rechts­referendarinnen verfas­sungsgemäßEingriff in Glaubens­freiheit und weitere Grundrechte gerechtfertigt

Das Bundes­verfassungs­gericht hat die Verfassungs­beschwerde einer hessischen Rechts­re­fe­rendarin gegen das Verbot, bei bestimmten dienstlichen Tätigkeiten ein Kopftuch zu tragen, zurückgewiesen. Danach ist die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechts­re­fe­ren­dariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, aus verfassungs­rechtlicher Sicht zu respektieren. Zwar stellt diese Pflicht einen Eingriff in die Glaubens­freiheit und weitere Grundrechte der Beschwer­de­führerin dar. Dieser ist aber gerechtfertigt. Als rechtfertigende Verfas­sungsgüter kommen die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Rechtspflege sowie die negative Religi­o­ns­freiheit Dritter in Betracht. Hier kommt keiner der kollidierenden Rechts­po­si­tionen ein derart überwiegendes Gewicht zu, das dazu zwänge, der Beschwer­de­führerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens war Rechts­re­fe­rendarin im Land Hessen. Sie trägt in der Öffentlichkeit ein Kopftuch. Noch vor Aufnahme der Ausbildung wurde sie durch das Oberlan­des­gericht mit einem Hinweisblatt darüber belehrt, dass sich nach hessischer Gesetzeslage Rechts­re­fe­rendare im juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst gegenüber Bürgerinnen und Bürgern religiös neutral zu verhalten hätten und sie daher mit Kopftuch keine Tätigkeiten ausüben dürfe, bei denen sie als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden könnte. Gegen die entsprechende Verwal­tung­s­praxis stellte die Beschwer­de­führerin beim Verwal­tungs­gericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, den der Hessische Verwal­tungs­ge­richtshof in der Beschwer­de­instanz zurückwies. Das von der Beschwer­de­führerin beim Verwal­tungs­gericht ebenfalls angestrengte Klageverfahren ruht derzeit.

Eingriff in individuelle Glaubens­freiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die der Beschwer­de­führerin auferlegte Pflicht in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte individuelle Glaubens­freiheit eingreift. Sie stellt die Beschwer­de­führerin vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Beklei­dungsgebot Folge zu leisten.

Eingriff in die Religi­o­ns­freiheit gerechtfertigt

Der Eingriff in die Religionsfreiheit ist verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil dieses Grundrecht keinen Geset­zes­vor­behalt enthält. Zu solchen verfas­sungs­im­ma­nenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemein­schaftswerte von Verfassungsrang. Die Einschränkung bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Als solche hat der für die Auslegung des einfachen Rechts zunächst zuständige Verwal­tungs­ge­richtshof in nicht zu beanstandender Weise § 27 Abs. 1 Satz 2 des hessischen Juris­te­n­aus­bil­dungs­ge­setzes (JAG) in Verbindung mit § 45 Sätze 1 und 2 des hessischen Beamtengesetzes (HBG) herangezogen.

Staat muss sich nicht jede getätigte private Grund­rechts­ausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen

Als Verfassungsgut, das hier einen Eingriff in die Religi­o­ns­freiheit rechtfertigen kann, kommt zunächst der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität in Betracht. Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grund­rechts­ausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber insbesondere dann in Betracht, wenn der Staat - wie im Bereich der Justiz - auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. Als weitere verfas­sungs­im­manente Schranke der Religi­o­ns­freiheit ist hier die Funkti­o­ns­fä­higkeit der Rechtspflege insgesamt zu berücksichtigen, die zu den Grund­be­din­gungen des Rechtsstaats zählt und im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert ist, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient. Funkti­o­ns­fä­higkeit setzt voraus, dass gesell­schaft­liches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richter­per­sön­lichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert. Ein "absolutes Vertrauen" in der gesamten Bevölkerung wird zwar nicht zu erreichen sein. Dem Staat kommt aber die Aufgabe der Optimierung zu. Für die Rechtfertigung eines Kopftuchverbots streitet im vorliegenden Zusammenhang letztlich auch die negative Religi­o­ns­freiheit der Verfah­rens­be­tei­ligten. Anders als im Bereich der bekennt­ni­soffenen Gemein­schafts­schule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll, tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beein­träch­ti­gungs­wirkung gegenüber.

Verwenden religiöser Symbole müssen nicht grundsätzlich Zweifel an Objektivität der betreffenden Richter begründen

Keine rechtfertigende Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unpar­tei­lichkeit und der Gedanke der Sicherung des weltanschaulich-religiösen Friedens. Das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst ist für sich genommen nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen.

Glaubens­freiheit der betroffenen Amtsträger kommt hoher Wert zu

Das Spannungs­ver­hältnis zwischen den Verfas­sungs­gütern unter Berück­sich­tigung des Toleranzgebots aufzulösen, ist zuvörderst Aufgabe des Gesetzgebers, der im öffentlichen Willens­bil­dungs­prozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu finden hat. Der Staat muss aber ein angemessenes Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit und der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht der ihn recht­fer­ti­genden Gründe andererseits wahren. Der Glaubens­freiheit der betroffenen Amtsträger kommt hierbei ein hoher Wert zu, zumal sie in enger Verbindung mit der Menschenwürde steht und wegen ihres Ranges extensiv ausgelegt werden muss. Folglich unterliegt die Vertretbarkeit der gesetz­ge­be­rischen Entscheidung einer eingehenden gerichtlichen Kontrolle. Für die Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen, von der abhängt, ob Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die Justi­zan­ge­hörige aller Bekenntnisse zu äußerster Zurückhaltung in der Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug verpflichtet, verfügt der Gesetzgeber allerdings weiterhin über eine Einschät­zungs­prä­ro­gative.

Forderung des Gesetzgebers nach neutralem Verhalten in weltanschaulich-religiöser Hinsicht während Rechts­re­fe­ren­dariat ist zu respektieren

Hiervon ausgehend sind der angegriffene Beschluss des Verwal­tungs­ge­richtshofs und die ihm zugrun­de­liegende Auslegung von § 27 Abs. 1 Satz 2 JAG in Verbindung mit § 45 HBG verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Angesichts der konkreten Ausgestaltung des verfah­rens­ge­gen­ständ­lichen Verbots kommt keiner der kollidierenden Rechts­po­si­tionen ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfas­sungs­rechtlich dazu zwänge, der Beschwer­de­führerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechts­re­fe­ren­dariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, ist daher aus verfas­sungs­recht­licher Sicht zu respektieren.

Allgemeines Verbot religiöser Bekundungen trifft Beschwer­de­führerin härter als andere religiös eingestellte Staats­be­dienstete

Für die Position der Beschwer­de­führerin spricht, dass das Kopftuch für sie nicht lediglich ein Zeichen für ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe ist, welches - wie etwa das Kreuz an einer Halskette - jederzeit abgenommen werden könnte. Vielmehr stellt das Tragen für sie die Befolgung einer als verbindlich empfundenen Pflicht dar; eine Pflicht, für die es insbesondere im Christentum kein entsprechendes, derart weit verbreitetes Äquivalent gibt. Das allgemeine Verbot religiöser Bekundungen trifft die Beschwer­de­führerin daher härter als andere religiös eingestellte Staats­be­dienstete. Juristen, die das Zweite Staatsexamen anstreben, bleibt zudem kein anderer Weg zur Erreichung dieses Ziels als die Absolvierung des Rechts­re­fe­ren­dariats.

Ableistung eines im Ergebnis vollwertigen Rechts­re­fe­ren­dariats bleibt dennoch möglich

Für die Verfas­sungs­mä­ßigkeit des Verbots spricht indes der Umstand, dass es sich auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt. Es gilt, soweit Referendare mit richterlichen Aufgaben betraut werden, bei der Wahrnehmung des staats­an­walt­schaft­lichen Sitzungs­dienstes und bei der Übernahme justizähnlicher Funktionen. Rechts­re­fe­rendare haben insofern ebenso wie Beamte die Werte, die das Grundgesetz der Justiz zuschreibt, zu verkörpern. Der Umstand, dass sie sich in Ausbildung befinden und nach deren Abschluss womöglich Tätigkeiten ausüben, für die die dargestellten verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe nicht greifen, führt zu keiner anderen Bewertung. Zum einen sind Rechts­re­fe­rendare für Rechts­un­ter­worfene nicht bei jeder Tätigkeit als solche zu erkennen. Zum anderen haben die angesprochenen Personen ein Anrecht darauf, dass die justiziellen Grund­be­din­gungen auch dann gelten, wenn der Staat Aufgaben zu Ausbil­dungs­zwecken überträgt. Hierbei handelt es sich um Tätigkeiten, die einen vergleichsweise kurzen Zeitraum der Ausbil­dungsdauer umfassen. Wenngleich die Ausbil­dungs­vor­schriften diesen Tätigkeiten einen hohen Stellenwert beimessen, besteht auf ihre Wahrnehmung kein Rechtsanspruch. Insbesondere der staats­an­walt­schaftliche Sitzungsdienst wird im maßgeblichen Ausbildungsplan ausdrücklich nicht als "Regelleistung im engeren Sinne" bezeichnet, da er in aller Regel einer konkreten Beurteilung durch die Ausbilderin beziehungsweise den Ausbilder nicht zugänglich sein werde. Zudem darf der Umstand, dass Regelleistungen nicht erbracht werden, nach der maßgeblichen Erlasslage keinen Einfluss auf die Bewertung haben. Die Ableistung eines im Ergebnis vollwertigen Rechts­re­fe­ren­dariats bleibt also möglich.

Ausbil­dungs­freiheit garantiert keinen weitergehenden Schutz als schrankenlos gewährleistete Religi­o­ns­freiheit

Auch die Ausbil­dungs­freiheit der Beschwer­de­führerin aus Art. 12 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, die Ausbil­dungs­stätte frei zu wählen. Dieses steht in engem Zusammenhang mit dem Recht der freien Berufswahl, da die Ausbildung in der Regel die Vorstufe einer Berufsaufnahme ist. Wenn die Aufnahme eines Berufs eine bestimmte Ausbildung voraussetzt, schließt die Nichtzulassung zu dieser Ausbildung aus, diesen Beruf später zu ergreifen. Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch die im Rahmen der Ausbildung notwendigen Tätigkeiten - hier auch die Wahrnehmung sitzungs­dienst­licher Aufgaben bei Gericht, Staats­an­walt­schaft und Verwaltung. Das gegen die Beschwer­de­führerin ausgesprochene Verbot, die sitzungs­dienst­lichen Aufgaben mit Kopftuch wahrzunehmen, greift in diesen Gewähr­leis­tungs­gehalt ein. Die Ausbil­dungs­freiheit garantiert aber keinen weitergehenden Schutz als die schrankenlos gewährleistete Religi­o­ns­freiheit. Selbst unter der Annahme, dass im Einzelfall die Freiheit der Berufswahl betroffen wäre, wenn ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot in Frage steht, wären die vom Landes­ge­setzgeber verfolgten Ziele der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Rechtspflege und des Schutzes der negativen Religi­o­ns­freiheit Dritter besonders gewichtige Gemein­schafts­belange, die die Regelung rechtfertigen.

Kein Verstoß gegen allgemeines Persön­lich­keitsrecht

Der Beschluss verstößt auch nicht gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht. Das Tragen eines Kopftuchs ist Ausdruck der persönlichen Identität der Beschwer­de­führerin, die als Teilbereich des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts den Schutz von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG genießt. Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht wirkt in dieser Gewähr­leis­tungs­va­riante insbesondere als Schutz des Selbst­be­stim­mungs­rechts über die Darstellung des persönlichen Lebens- und Charakterbildes. Der Einzelne soll selbst entscheiden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will und was seinen sozialen Geltungs­an­spruch ausmachen soll. Der Eingriff in dieses Recht ist jedoch mit den bereits ausgeführten Gründen ebenfalls gerechtfertigt.

Mögliche Benachteiligung aufgrund des Geschlechts bedarf keiner Entscheidung

Ob die Neutra­li­täts­vorgabe zu einer mittelbaren Benachteiligung der Beschwer­de­führerin aufgrund ihres Geschlechts führt, weil das Verbot überwiegend muslimische Frauen treffen dürfte, bedarf keiner Entscheidung. Soweit man der Norm eine mittelbar diskri­mi­nierende Wirkung beimessen wollte, wäre diese aus denselben Gründen wie bei Art. 4 GG zu rechtfertigen.

Auch Verbot von christlichen Symbolen möglich

§ 45 Satz 3 HBG steht mit den Regelungen des Grundgesetzes in Einklang, sofern er verfas­sungs­konform angewendet wird. Nach der Norm ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen bei der Entscheidung darüber, ob im Einzelfall ein neutrales Verhalten vorliegt, angemessen Rechnung zu tragen. Ihre Anwendung kann zu einer Bevorzugung insbesondere christlicher Beamter führen, die verfas­sungs­rechtlich nicht zu rechtfertigen wäre. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verlangt, dass niemand wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wird. Die Norm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Glaubens­freiheit. Hiermit nicht im Einklang stünde ein Verständnis, das christliche Symbole vom Neutra­li­tätsgebot vollständig ausschlösse. Eine verfas­sungs­konforme, einschränkende Auslegung der Vorschrift ist aber möglich. § 45 Satz 3 HBG enthält eine derartige Ausschluss­klausel nämlich gerade nicht. Vielmehr ist die christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen ein Belang, der bei der Entscheidung darüber, ob ein Neutra­li­täts­verstoß vorliegt, zu berücksichtigen ist. Von der Prüfung, ob sich die Bekundung im Einzelfall insbesondere mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates in Übereinstimmung bringen lässt, entbindet die Norm nicht. Dies ermöglicht es, Sachverhalte mit unter­schied­lichem religiösen Hintergrund dort gleich zu behandeln, wo dies - wie im Bereich der Justiz - verfas­sungs­rechtlich notwendig ist. Der Gesetzgeber mag eine Privilegierung christlicher Bekundungen für möglich gehalten haben, hat die Bestimmung der konkret zulässigen Symbole aber der behördlichen Einzel­fa­l­l­ent­scheidung überlassen und zu erkennen gegeben, dass er ein Verbot auch von christlichen Symbolen für zulässig erachtet.

Abweichende Meinung des Richters Maidowski

Erläuterungen
Ein "Kopftuchverbot" stellt einen gewichtigen Eingriff sowohl in die Ausbil­dungs­freiheit als auch in die Glaubens­freiheit der Beschwer­de­führerin dar. Dieser Eingriff ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu rechtfertigen. Ausgehend davon, dass beide Grundrechte für den vorliegenden Fall gleichermaßen relevant sind, dass sie sich wechselseitig ergänzen und nach je eigenen Maßstäben zu prüfen sind, überwiegen die gegen ein solches Verbot sprechenden Belange; es ist als unver­hält­nismäßig einzustufen.

Es ist schon zweifelhaft, ob die Reichweite des streit­ge­gen­ständ­lichen "Kopftuchverbots" rechtlich auf die von der Senatsmehrheit ins Auge gefassten vier konkreten Ausbil­dungs­si­tua­tionen (Leitung einer Sitzung, Durchführung einer Beweisaufnahme, staats­an­waltliche Sitzungs­ver­tretung sowie Sitzungsleitung in einem verwal­tungs­recht­lichen Anhörungs­aus­schuss) beschränkt ist oder ob es nicht vielmehr deutlich darüber hinausgeht. Denn die relevanten Rechts­grundlagen fordern religiös neutrales Verhalten ganz allgemein "im Dienst", ohne den Anwen­dungs­bereich dieses Gebots auf bestimmte Tätigkeiten zu beschränken.

Vor allem aber kommt den im Beschluss in den Vordergrund gerückten Belangen - weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates, Funkti­o­ns­fä­higkeit der Rechtspflege, negative Religi­o­ns­freiheit der Verfah­rens­be­tei­ligten - im Kontext der Ausbil­dungs­freiheit ein erheblich geringeres Gewicht zu als es der Senat annimmt, während zugleich die einschränkenden Auswirkungen auf diese grundrechtliche Freiheit der Beschwer­de­führerin deutlich stärker zu gewichten sind. Es mag zwar denkbar sein, dass Verfah­rens­be­teiligte oder die Öffentlichkeit in ihrem Vertrauen in eine neutrale und unvor­ein­ge­nommene Rechtspflege erschüttert werden könnten, wenn ihnen Richterinnen oder Staats­an­wäl­tinnen gegenüberstehen, die ihre religiöse Orientierung durch das Tragen des Kopftuchs deutlich machen. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise, wenn es sich nicht um Richterinnen, sondern um Personen handelt, die erkennbar nur zu Ausbil­dungs­zwecken und deshalb nur vorübergehend in der Justiz tätig sind und in diesem Rahmen mit praktischen Aufgaben betraut werden. Richterliche Unabhängigkeit oder staats­an­waltliche Verantwortung kommt ihnen nicht zu; vielmehr stehen sie unter laufender Aufsicht durch ihre Ausbilder. Sie dürfen deshalb nicht uneingeschränkt an Maßstäben gemessen werden, die für eine Rolle gelten, die sie gerade noch nicht einnehmen dürfen. Richterinnen und Staats­an­wäl­tinnen haben sich durch ihren freiwilligen Eintritt in den Justizdienst den dort geltenden Anforderungen unterworfen, während Rechts­re­fe­ren­da­rinnen, die ihre Ausbildung zur Volljuristin mit der zweiten Staatsprüfung abschließen möchten, gezwungen sind, den beim Staat monopolisierten Vorbe­rei­tungs­dienst zu durchlaufen, ohne dass ihnen eine gleichwertige Alternative dazu offen stünde.

Auf der anderen Seite betrifft ein "Kopftuchverbot" gerade solche Situationen, in denen eine Referendarin im unmittelbaren Kontakt mit den Verfah­rens­be­tei­ligten weitgehend selbstständig tätig wird. Auch wenn die dadurch erfassten Tätigkeiten quantitativ nicht den Schwerpunkt des Referendariats ausmachen, sind sie qualitativ von besonderer Bedeutung für das Ausbildungsziel. Der Vorbe­rei­tungs­dienst soll Rechts­re­fe­rendare und Rechts­re­fe­ren­da­rinnen auf ihre künftige Rolle als Volljuristen in mannigfachen beruflichen Zusammenhängen vorbereiten. Zu diesem Zweck sollen richterliche und staats­an­waltliche Tätigkeiten praktisch eingeübt und soll den Adressaten der Ausbildung das Bewusstsein für die Strenge der diesen Ämtern eigenen Anforderungen an Neutralität und Unvor­ein­ge­nom­menheit durch eigene Erfahrung vermittelt werden. Fallen gerade diese Tätigkeiten weg, kann die Ausbildung ihre nicht nur im persönlichen Interesse der Referendarinnen, sondern auch im Interesse der Gesellschaft liegenden Ziele nur noch eingeschränkt erreichen.

Eine vor diesem Hintergrund durchgeführte Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung führt zu dem Ergebnis, dass das gegen die Beschwer­de­führerin gerichtete "Kopftuchverbot" jedenfalls dann verfas­sungs­rechtlich nicht haltbar ist, wenn für Verfah­rens­be­teiligte und Öffentlichkeit klar erkennbar ist, dass die ihnen gegen­über­stehende Person keine Richterin oder Staatsanwältin ist, sondern sich als Referendarin in einer Ausbil­dungs­si­tuation befindet. Im Übrigen ist einer Referendarin aufgrund des auch für sie geltenden Neutra­li­täts­gebots jede aktive, über das Tragen des Kopftuchs hinausgehende Werbung für ihre Religion verwehrt. Unter diesen Umständen setzt sich das Interesse daran, einem Glaubensgebot folgen zu dürfen, sowie daran, die erforderliche, beim Staat monopolisierte Ausbildung in vollem Umfang erfahren zu können, gegenüber den wider­strei­tenden Belangen durch.

Die Feststellung, dass das streit­ge­gen­ständliche Kopftuchverbot die Beschwer­de­führerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt, hat allerdings nicht zur Folge, dass die zugrun­de­lie­genden einfach­recht­lichen Vorschriften für verfas­sungs­widrig zu erklären wären. Denn diese sind einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung und Anwendung zugänglich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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