18.10.2024
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Dokument-Nr. 32788

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Beschluss24.02.2023Bundesverfassungsgericht2 BvR 117/20 und 2 BvR 962/21
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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.02.2023

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerden gegen Ablehnungen von Anträgen auf Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe zur BewährungLG Koblenz muss neu entscheiden

Das Bundes­verfassungs­gericht hat den Verfassungs­beschwerden eines im Jahr 1972 wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings stattgegeben. Der Beschwer­de­führer wendet sich gegen fachge­richtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung des Strafrestes einer seit mehr als 47 Jahren vollzogenen lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt wurde. Die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), weil die Fortdauer der Freiheits­ent­ziehung nicht in einer Weise begründet worden ist, die den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßigkeits­grundsatzes genügt.

Der Beschwer­de­führer, ein wegen Mordes an einer Frau und deren Tochter rechtskräftig zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilter, befand sich seit Juni 1970 in Untersuchungs- und sodann in Strafhaft. Nachdem er die Taten zunächst eingeräumt hatte, widerrief er in der Folgezeit sein Geständnis. Ab dem Jahr 1991 befand sich der Beschwer­de­führer im offenen Vollzug. In den folgenden Jahren wurde er jedoch mehrfach in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, weil bei ihm wiederholt pornografisches Material und weitere unerlaubte Gegenstände aufgefunden worden waren. Im Jahr 1997 stellte das Landgericht Koblenz fest, dass die besondere Schwere der Schuld des Beschwer­de­führers die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung lehnte es gleichwohl ab, da eine günstige Gefah­ren­prognose nicht gestellt werden könne. 2019 und 2021 blieben weitere Anträge des Mannes auf Aussetzung des Strafrests zur Bewährung vor LG und OLG ohne Erfolg. Sie konstatierten zwar, dass der Mann sich in letzter Zeit im offenen Vollzug bewährt habe. Allerdings bestehe mangels Aufarbeitung der Taten die Besorgnis einer Rückfälligkeit. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der Mann gegen die gerichtlichen Beschlüsse aus 2019 und 2021. Er rügte insbesondere eine Verletzung seines Freiheits­grund­rechts.

BVerfG fehlt die Begrün­dungstiefe

Das BVerfG hat den Verfas­sungs­be­schwerden stattgegeben. Die fachge­richt­lichen Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Verurteilten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grund­recht­s­ein­griffs ins Verhältnis setzt. Auf der einen Seite verlangt die im Rahmen der Ausset­zungs­ent­scheidung zu treffende Prognose die Verant­wort­barkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Auf der anderen Seite hat dabei der grundsätzliche Freiheits­an­spruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurückgelegten langen Haftzeit großes Gewicht. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein. Darüber hinaus folgen aus dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit verfah­rens­rechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheits­ent­ziehung steigen. Vor allem wenn die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet, hat sich das Vollstre­ckungs­gericht bei einer Ausset­zungs­ent­scheidung von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen. Mit zunehmender Dauer einer Freiheits­ent­ziehung verengt sich der Bewer­tungs­rahmen des Straf­voll­stre­ckungs­richters und wächst die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolldichte. Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie verfehlen die sich aus der sehr langen Dauer der Freiheits­ent­ziehung ergebenden Anforderungen an die BVerfG fehlt die Begrün­dungstiefe über die Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Fachgerichte verhalten sich bereits nicht zu dem Lebensalter des Beschwer­de­führers und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wahrschein­lichkeit künftiger Straftaten. Dabei ist davon auszugehen, dass angesichts der außer­or­dent­lichen Länge der Vollzugsdauer die Gefahr künftiger (Sexual-) Straftaten von nur geringem oder mittlerem Gewicht einer Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht mehr entgegenstehen dürfte. Selbst wenn das im Zeitpunkt der Begehung der Anlassdelikte im Jahr 1970 zutage getretene Persön­lich­keits­defizit in Form einer sexuellen Devianz und gesteigerten sexuellen Verlangens unbearbeitet geblieben ist, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die sexuelle Dranghaftigkeit des Beschwer­de­führers in seinem hohen Alter in einem Maße fortbesteht, dass die Wahrschein­lichkeit der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter (Sexual-) Straftaten als gegeben angesehen werden kann. Nichts Anderes ergibt sich, soweit die Fachgerichte darauf verweisen, die besondere Dranghaftigkeit des Beschwer­de­führers sei während seiner Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen, da sämtliche Regelverstöße im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden hätten. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Besitz der aufgefundenen Gegenstände für sich genommen keinen Aufschluss über die Gefahr künftiger besonders schwerer (Sexual-) Straftaten zu geben vermag. Zudem liegen keine Hinweise vor, dass der Beschwer­de­führer während der mehrjährigen Phasen des offenen Vollzugs Straftaten begangen hat. Hinzu kommt, dass der Beschwer­de­führer den seit 2017 erneut angeordneten offenen Vollzug – soweit ersichtlich – bisher beanstan­dungsfrei absolviert hat. Nicht nachvollziehbar sind darüber hinaus die Ausführungen des Landgerichts Koblenz zur Bewertung des Umstands, dass der Beschwer­de­führer zwei Langzeit­ausgänge ordnungsgemäß durchgeführt hat. Das Landgericht beschränkt sich auf die Feststellung, der Beschwer­de­führer habe erkannt, dass eine Entlassung perspektivisch nur realisierbar sei, wenn er sich beanstan­dungsfrei führe. Es sei daher davon auszugehen, dass er auch künftige Langzeit­ausgänge beanstan­dungsfrei absolvieren werde. Das Landgericht misst damit der erfolgreichen Durchführung von angeordneten Locke­rungs­maß­nahmen keinerlei Aussagewert zu. Dies ist mit dem Grundsatz, dass Vollzugs­lo­cke­rungen für eine zutreffende Progno­se­ent­scheidung eine besondere Bedeutung zukommt, nicht vereinbar.

Bewäh­rungs­auflagen zur Reduzierung des Restrisiko nicht geprüft

Schließlich setzen sich die Fachgerichte unzureichend mit der Frage einer möglichen Reduzierung des verbliebenen Risikos der Begehung erneuter (Sexual-) Straftaten des Beschwer­de­führers durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auseinander. Sie beschränken sich insoweit auf die Feststellung, dass ein geeigneter sozialer Empfangsraum fehle, weil der Beschwer­de­führer nicht bereit sei, eine Unterbringung in einer betreuten Wohnform außerhalb des ihm bekannten sozialen Umfelds zu akzeptieren, und es an einem entsprechenden Angebot fehle. Die Gerichte lassen dabei außer Betracht, dass der gerichtlich beauftragte Sachverständige ausgeführt hat, dass der Beschwer­de­führer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Straftaten könne daher durch geeignete Weisungen reduziert werden. Als solche seien eine regelmäßige sozia­l­a­r­bei­te­rische Betreuung mit kontrol­lie­renden Funktionen, die Untersagung des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden können, und eine dahingehende regelmäßige Kontrolle der Wohnung in Betracht zu ziehen. Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass aus Sicht des Sachver­ständigen die Überführung in eine betreute Wohnform die einzige Möglichkeit darstellt, um im Rahmen eines Entlas­sungs­settings die Gefahr künftiger schwerer (Sexual-) Straftaten des Beschwer­de­führers auf das unvermeidbare Mindestmaß zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund wäre es Sache der Fachgerichte gewesen, sich mit der Möglichkeit einer Reststra­fe­n­aus­setzung unter ausreichend risiko­mi­ni­mie­renden Auflagen gesondert zu befassen. Es erscheint – nicht zuletzt auch wegen der erfolgreich absolvierten Langzeit­ausgänge – nicht von vornherein ausgeschlossen, dass angesichts der dem Beschwer­de­führer durch den Sachver­ständigen attestierten fehlenden Impulsivität die Möglichkeit besteht, durch Bewäh­rungs­auflagen eine begleitende und kontrollierende Struktur zu schaffen, die die Gefahr erneuter, gegen das Leben gerichteter Sexual­straftaten auf das unvermeidbare Mindestmaß beschränkt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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