21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil28.06.2022

Ausschluss ausländischer Staats­an­ge­höriger mit humanitären Aufent­halt­s­titeln vom Kindergeld verfas­sungs­widrigKinder­geld­aus­schluss bestimmter Gruppen von Migranten verstößt gegen das Grundgesetz

Das Bundes­verfassungs­gericht hat auf die Vorlage eines Finanzgerichts entschieden, dass § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b des Einkommen­steuer­gesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchs­berechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unter­halts­vor­schuss vom 13. Dezember 2006 (im Folgenden: EStG 2006) gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt und die Vorschrift für nichtig erklärt.

In den vier Ausgangs­ver­fahren machen nicht freizü­gig­keits­be­rechtigte ausländische Eltern mit Wohnsitz im Inland Ansprüche auf Kindergeld geltend. Alle Anträge wurden abgelehnt, weil zwar ein Aufent­halt­stitel im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG 2006 vorliege, die zusätzlich erforderlichen Merkmale der Arbeits­in­te­gration (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006) jedoch nicht erfüllt seien. Hiergegen reichten die Betroffenen jeweils Klage beim Finanzgericht ein. Dieses hat die Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob § 62 Abs. 2 EStG 2006 verfassungswidrig sei. Nach Einleitung des Vorla­ge­ver­fahrens wurde § 62 Abs. 2 EStG mit Wirkung zum 1. März 2020 geändert. Nach dem in die Vorschrift neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizü­gig­keits­be­rech­tigter Ausländer Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchstabe c genannten humanitären Aufent­halt­stitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält; auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es in dieser Variante nicht mehr an.

BVerfG: § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ist materiell verfas­sungs­widrig

Die Vorlagen sind zulässig, soweit sie § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 betreffen. Soweit das Vorlagegericht darüber hinaus ausdrücklich § 62 Abs. 2 EStG 2006 insgesamt mit den dort erfassten zusätzlichen Fallgruppen zur verfas­sungs­recht­lichen Prüfung stellt, sind sie hingegen unzulässig, weil es auf diese Fallgruppen für die vorliegenden Fälle nicht ankommt. § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ist formell verfas­sungsmäßig, insbesondere besteht eine Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes aus Art. 105 Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 GG. Soweit das Kindergeld nach § 31 Satz 2 EStG nicht der steuerlichen Freistellung des kindbedingten Existenz­mi­nimums, sondern der Förderung der Familie dient, handelt es sich dabei zwar für sich genommen nicht um eine materiell steuer­rechtliche, sondern um eine sozia­l­rechtliche Regelung. Die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes auch für den Förderanteil des Kindergeldes folgt aber jedenfalls aus dem kompe­tenz­be­grün­denden Schwerpunkt des steuer­recht­lichen Famili­en­leis­tungs­aus­gleichs. § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ist materiell verfas­sungs­widrig. Die Vorschrift verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Regelungen unvereinbar und nichtig

Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seinem Wesen entsprechend ungleich zu behandeln. Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen. Den Steuer­ge­setzgeber bindet Art. 3 Abs. 1 GG an den Grundsatz der Steuer­ge­rech­tigkeit, der gebietet, die Besteuerung an der wirtschaft­lichen Leistungs­fä­higkeit auszurichten. Das gilt insbesondere im Einkom­men­steu­errecht, das auf die Leistungs­fä­higkeit des jeweiligen Steuer­pflichtigen hin angelegt ist. Zwar belässt der allgemeine Gleichheitssatz dem Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuer­ge­gen­standes ebenso wie bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit reichenden Entschei­dungs­spielraum. Der Grundsatz der gleichen Zuteilung steuerlicher Lasten verlangt jedoch eine gesetzliche Ausgestaltung der Steuer, die den Steuer­ge­genstand in den Blick nimmt und mit Rücksicht darauf eine gleich­heits­ge­rechte Besteuerung des Steuer­schuldners sicherstellt. Unter dem Gebot möglichst gleichmäßiger Belastung der betroffenen Steuer­pflichtigen muss die Ausgestaltung des steuer­recht­lichen Ausgang­s­tat­be­standes folgerichtig im Sinne von belas­tungs­gleich erfolgen. Nach diesen Maßstäben ist § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. Die Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen von Ausländern mit humanitärem Aufent­halt­stitel nach den §§ 23 Abs. 1, 23a, 24 oder 25 Abs. 3 bis 5 des Aufent­halts­ge­setzes (AufenthG), die sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten: Einen Anspruch auf Kindergeld haben nur diejenigen, die zusätzlich zu diesen Merkmalen im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind oder es nur vorübergehend nicht sind, weil sie Arbeits­lo­sengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Wer hingegen – wie die Klägerinnen und der Kläger der Ausgangs­ver­fahren – keines dieser Merkmale aufweist, erhält kein Kindergeld.

Unterscheidung nach prognos­ti­zierter Bleibedauer kann Ungleich­be­handlung rechtfertigen - gewählten Diffe­ren­zie­rungs­kri­terien jedoch ungeeignet

Diese Ungleich­be­handlung entfällt insbesondere nicht dadurch, dass das Fehlen eines Kinder­geldan­spruchs im Regelfall durch den Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen kompensiert wird. Denn auch in diesem Fall kann es zu einer wirtschaft­lichen Schlech­ter­stellung derjenigen Ausländer kommen, die keinen Kinder­geldan­spruch haben. Mit erheblichen finanziellen Nachteilen im Vergleich zu Kinder­geld­be­rech­tigten kann der Wegfall des Kinder­geldan­spruchs auch dann verbunden sein, wenn die Betroffenen über eigenes Vermögen verfügen und daher ? trotz fehlenden Erwer­b­s­ein­kommens ? keinen Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen haben. Denn der Anspruch auf Kindergeld besteht unabhängig von sozia­l­recht­licher Bedürftigkeit, während ein Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen typischerweise nur dann besteht, wenn vorhandenes Vermögen oberhalb der jeweils geltenden Freigrenzen verbraucht ist. Die Ungleich­be­handlung ist nicht gerechtfertigt. Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit § 62 Abs. 2 EStG 2006 einen legitimen Zweck. Die Regelung hat das Ziel, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden. Diese Unterscheidung nach der prognos­ti­zierten Bleibedauer in Deutschland kann eine ungleiche Behandlung grundsätzlich rechtfertigen. Die vom Gesetzgeber gewählten Diffe­ren­zie­rungs­kri­terien bestimmen den Kreis der Leistungs­be­rech­tigten jedoch nicht in geeigneter Weise. Ungeeignet, die zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts zu begründen und damit das gesetz­ge­be­rische Ziel zu erreichen, ist vor allem das Kriterium einer Integration in den Arbeitsmarkt (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006). Zwar mag die vom Gesetzgeber als zusätzliches Indiz für eine dauerhafte Bleibe­per­spektive gewertete Integration in den deutschen Arbeitsmarkt in vielen Fällen den Schluss tragen, dass die Betroffenen sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten werden. Der für die vorgelegte Vorschrift maßgebliche Umkehrschluss, dass ohne eine Erwer­b­s­tä­tigkeit eine solche Prognose nicht möglich sei, ist indes nicht begründbar. Gerade bei humanitären Aufent­halt­s­titeln erscheint eine Korrelation zwischen einer Erwer­b­s­tä­tigkeit und der voraus­sicht­lichen Aufent­haltsdauer weniger plausibel als etwa in Fällen einer gezielten Zuwanderung zum Zwecke der Ausbildung und nachfolgenden Erwer­b­s­tä­tigkeit. Denn die Aufent­haltsdauer hängt bei den meisten humanitären Aufent­halt­s­titeln stärker von der Situation in den Herkunfts­s­taaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab.

Benachteiligung lässt sich auch nicht durch eine Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung rechtfertigen

Auch steht es der Aussicht auf einen unbefristeten Aufent­halt­stitel nicht zwingend entgegen, wenn die in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 genannten Kriterien im Zeitpunkt der Entscheidung nicht erfüllt sind. Zwar ist für die Erteilung einer Nieder­las­sungs­er­laubnis Voraussetzung, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Da dies jedoch zukunfts­o­ri­entiert zu beurteilen ist, kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene aktuell erwerbstätig ist, sondern ob angenommen werden kann, dass er dies in der Zukunft auf Dauer sein wird. Die mangelnde Eignung der vorgelegten Vorschrift zur Erfassung relevanter Unterschiede bei der Prognose zur Aufent­haltsdauer wird in der Mehrzahl der Ausgangsfälle zudem daran deutlich, dass ausschlaggebend für die Verweigerung von Kindergeld in diesen Fällen ein – jeweils kurzer – Zeitraum zwischen dem Auslaufen des Anspruchs auf Arbeits­lo­sengeld I und der nachfolgenden erneuten Aufnahme einer Erwer­b­s­tä­tigkeit auf einer neuen Arbeitsstelle war. Einen solchen kurzen Zeitraum des Bezugs von Arbeits­lo­sengeld II als Indiz gegen eine Arbeits­ma­rk­tin­te­gration zu werten, wird der tatsächlichen Situation der Betroffenen nicht gerecht. Die durch § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b in Verbindung mit Nr. 2 Buchstabe c EStG 2006 bewirkte Benachteiligung lässt sich auch nicht durch eine Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung rechtfertigen, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Es spricht vielmehr vieles dafür, dass der Gesetzgeber sogar umgekehrt einen atypischen Fall als Leitbild gewählt hat. Für andere Diffe­ren­zie­rungs­gründe fehlt es an einer erkennbaren gesetz­ge­be­rischen Entscheidung für einen konkreten Förderungs- oder Lenkungszweck der im Schwerpunkt steuer­recht­lichen Regelung. Soweit der Bundesfinanzhof der Auffassung ist, § 62 Abs. 2 EStG 2006 diene auch dem Zweck, Zuwan­de­rungs­anreize insbesondere für kinderreiche Ausländer abzubauen („keine Zuwanderung in Sozialsysteme“), ist eine dahingehende Entscheidung des Gesetzgebers nicht erkennbar. Entsprechendes gilt für wirtschaftliche und arbeits­ma­rkt­po­li­tische Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Zwar handelt es sich auch dabei um einfach­ge­setzlich geregelte Belange im Aufent­haltsrecht (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), die grundsätzlich als Recht­fer­ti­gungsgrund für eine Ungleich­be­handlung in Betracht kommen könnten. Doch auch diese Zielsetzung ist bei der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG 2006 nicht erkennbar verfolgt worden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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