21.11.2024
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Dokument-Nr. 33472

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Bundesverfassungsgericht Urteil15.11.2023

Zweites Nachtrags­haushalts­gesetz 2021 ist nichtigKeine Umwidmung von Corona-Mitteln in Klimafonds

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass das Zweite Nachtrags­haushalts­gesetz 2021 mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar und nichtig ist.

Der Bundeshaushalt 2021 sah ursprünglich Kredi­t­er­mäch­ti­gungen in Höhe von etwa 180 Milliarden Euro vor. Im April 2021 wurden mit dem (ersten) Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 die Kredi­t­er­mäch­ti­gungen für das Haushaltsjahr 2021 um weitere 60 Milliarden Euro auf etwa 240 Milliarden Euro aufgestockt. Ermöglicht wurde dies durch einen Beschluss des Deutschen Bundestages vom 23. April 2021, mit dem das Bestehen einer außer­ge­wöhn­lichen Notsituation gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG – einer Ausnahme von der verfas­sungs­recht­lichen Verschul­dungs­grenze – festgestellt wurde. Im Verlauf des Haushaltsjahres 2021 zeigte sich, dass diese Aufstockungen nicht benötigt wurden. Vor diesem Hintergrund kam im politischen Raum die Vorstellung auf, die mit dem Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 eingeräumten Kredi­t­er­mäch­ti­gungen in der vollen Höhe von 60 Milliarden Euro durch eine Zuführung an den EKF für künftige Haushaltsjahre nutzbar zu machen. Aufgrund von Art. 1 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundes­haus­haltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (Zweites Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021) wurden das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts 2021 von 547,7 Milliarden Euro auf 572,7 Milliarden Euro und das Volumen des EKF von 42,6 Milliarden Euro auf 102,6 Milliarden Euro erhöht. Insoweit wurde der Bundes­haus­haltsplan 2021 entsprechend angepasst. Nach Art. 2 des Gesetzes trat die Änderung mit Wirkung vom 1. Januar 2021 und damit rückwirkend in Kraft. Das Gesetz wurde am 25. Februar 2022 im Bundes­ge­setzblatt verkündet. Mit ihrem Normen­kon­trol­lantrag begehren die Antrag­stel­le­rinnen und Antragsteller die Feststellung, dass die im Zweiten Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 vorgesehene rückwirkende Zuführung der Kredi­t­er­mäch­ti­gungen an den EKF mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist. Daneben haben sie beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zu regeln, dass besagte Kredi­t­er­mäch­ti­gungen bis zur Haupt­sa­cheent­scheidung nur in Anspruch genommen werden dürfen, soweit der Deutsche Bundestag entsprechende Ausgaben im Bundes­haus­haltsplan für das Haushaltsjahr 2022 beschließt. Der Senat hat diesen Antrag mit Beschluss vom 22. November 2022 abgelehnt.

Veran­las­sungs­zu­sam­menhang nicht ausreichend dargelegt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar und damit nichtig ist. Das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 muss sich an Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG messen lassen. Deren geschriebene Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen sind erfüllt. Der Gesetzgeber hat jedoch den Veran­las­sungs­zu­sam­menhang zwischen der festgestellten Notsituation und den durch die notla­gen­be­dingte Kreditaufnahme finanzierten Maßnahmen zur Krisen­be­wäl­tigung nicht ausreichend dargelegt. Die Bundesregierung verweist hierzu insbesondere auf ihre Absicht, die Förderung der pandemiebedingt geschwächten Wirtschaft mit einem weiteren politischen Anliegen – der Förderung von Klimaschutz, Transformation und Digitalisierung – zu verbinden: Eine verlässliche staatliche Finanzierung und eine Förderung privat­wirt­schaft­licher Ausgaben für bedeutende Zukunfts- und Trans­for­ma­ti­o­ns­aufgaben in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung seien unter den besonderen Bedingungen der Pande­mie­be­wäl­tigung wesentliche Voraussetzungen, um die Folgen der Krise schnell zu überwinden, die Wettbe­wer­bs­fä­higkeit der Volkswirtschaft zu sichern und damit das wirtschaftliche Wachstum anzuregen und nachhaltig zu stärken. Begründung erweist sich als nicht ausreichend tragfähig. Zum Zeitpunkt der Geset­zes­be­ra­tungen dauerte die Corona-Pandemie bereits fast zwei Jahre an. Je länger das auslösende Krisenereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit dem Gesetzgeber deshalb zur Entschei­dungs­findung gegeben ist und je mittelbarer die Folgen der ursprünglichen Krisensituation sind, desto stärker wird der Einschätzungs- und Beurtei­lungs­spielraum des Haushalts­ge­setz­gebers eingeengt. Hiermit geht eine Steigerung der Anforderungen an die Darlegungslast des Gesetzgebers einher. Dies gilt umso mehr, wenn der Gesetzgeber – wie hier – wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinander folgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit der notla­gen­be­dingten Kreditaufnahme Gebrauch macht. Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notla­gen­be­dingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisen­be­wäl­tigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat. Eine Begründung, weshalb die noch im (ersten) Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 für erforderlich erachteten Kredi­t­er­mäch­ti­gungen in Höhe von 60 Milliarden Euro zum Ende des Haushaltsjahres 2021 entgegen der ursprünglichen Planung nicht zur Krisen­be­wäl­tigung verwendet worden sind, gibt der Gesetzgeber nicht. Eine solche Begründung war hier umso mehr angezeigt, als zwischen der Feststellung einer Notlage für das Haushaltsjahr 2021 und der Beschluss­fassung über das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 fast ein Jahr vergangen war. Anlass zu einer vertieften argumentativen Ausein­an­der­setzung bestand auch mit Blick auf den Umstand, dass der EKF bereits sehr viel früher errichtet und die Zielsetzung der durch ihn finanzierten Programme bereits zum damaligen Zeitpunkt festgelegt worden war, ohne dass die bereits laufenden Programme den Eintritt der Krisenfolgen verhindert oder ihre Folgen begrenzt hätten. Daher ist die Geeignetheit der vom Sondervermögen finanzierten Programme zur Krisen­be­wäl­tigung nicht indiziert. Schließlich lässt die Geset­zes­be­gründung die notwendige Abgrenzung einer notla­gen­be­dingten Kreditaufnahme aus Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom Anwen­dungs­bereich der erweiterten Kredit­auf­nah­memög­lich­keiten aus Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG wegen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung nicht deutlich werden.

Zuführung an den KTF widerspricht den Verfas­sungs­geboten der Jährlichkeit und Jährigkeit

Die Zuführung an den KTF durch das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 widerspricht den Verfas­sungs­geboten der Jährlichkeit und Jährigkeit aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG. Die im Zweiten Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 vorgesehene faktische Vorhaltung von Kredi­t­er­mäch­ti­gungen in perio­den­über­grei­fenden Rücklagen verstößt gegen die Maßgaben aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG als jahresbezogene Anforderungen. Der vom Deutschen Bundestag gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zu fassende Beschluss im Hinblick auf die Feststellung einer Notlage bezieht sich auf ein konkretes Haushaltsjahr und ist deshalb für jedes Haushaltsjahr gesondert zu treffen. Eine Entkoppelung der notla­gen­be­dingten Kredi­t­er­mäch­ti­gungen von der tatsächlichen Verwendung der Kreditmittel ist mit den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht vereinbar. Danach müssen sich Kredi­t­er­mäch­ti­gungen, die in einem bestimmten Haushaltsjahr ausgebracht werden, auf die Deckung von Ausgaben beschränken, die für Maßnahmen zur Notla­gen­be­kämpfung in eben diesem Haushaltsjahr anfallen. Mit dem Zweiten Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 werden dem KTF als unselbständigem Sondervermögen des Bundes kredit­fi­nan­zierte Mittel in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt, die sich auf die Berechnung der zulässigen Kreditaufnahme für das Jahr 2021 auswirken, während die vom Gesetzgeber zur Krisen­be­wäl­tigung ins Auge gefassten Maßnahmen, deren Finanzierung die Kredi­t­er­mäch­ti­gungen dienen sollen, für kommende Haushaltsjahre geplant sind. Tatsächlich wirksame Verschuldung entsteht für den Bund nach dieser Konzeption vor allem in den kommenden Jahren und voraussichtlich über die dann für das jeweilige Haushaltsjahr geltende verfas­sungs­rechtliche Verschul­dungs­grenze hinaus. Dabei werden die jetzt geschaffenen Kredi­t­er­mäch­ti­gungen ohne Anrechnung auf die Verschul­dungs­grenze des dann aktuellen Haushaltsjahres nutzbar gemacht, weil die Anrechnung bereits mit der Ermächtigung im Ausnahmejahr 2021, nicht aber mit der späteren Kreditaufnahme selbst erfolgen soll. Dies ist mit dem Grundsatz der Jährigkeit in Verbindung mit dem Grundsatz der Fälligkeit nicht zu vereinbaren. Eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ergibt sich weder aus den Besonderheiten der Corona-Pandemie als solcher noch daraus, dass die Bundesregierung gegenwärtig notwendige und in der Zukunft zu Auszahlungen führende Verpflichtungen gegenüber Dritten nur mit entsprechender finanzieller Unterlegung eingehen könnte. Wenn und soweit auch in den Folgejahren die Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen einer notla­gen­be­dingten Kreditaufnahme (erneut) erfüllt sein sollten, wäre eine solche Kreditaufnahme in der zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich gebotenen Höhe zulässig. Es besteht daher kein sachlicher Grund dafür, auf Kredi­t­er­mäch­ti­gungen aus dem Jahr 2021 zurückzugreifen.

Verstoß gegen das Gebot der Vorherigkeit

Die Verabschiedung des Zweiten Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 verstößt gegen das Gebot der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Haushaltsplan ist aufgrund des Gebots der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen. Das Gebot der Vorherigkeit dient der wirksamen Ausgestaltung des parla­men­ta­rischen Budgetrechts. Dieser Grundsatz zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungs­funktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr gewährleisten. Alle am Gesetz­ge­bungs­ver­fahren beteiligten Verfas­sungs­organe sind gehalten, an der Erfüllung des Vorhe­rig­keits­gebots mitzuwirken. Dies gilt auch für die Bundesregierung, der das alleinige Initiativrecht zur Einbringung eines (Nachtrags-)Haushalts­ge­setzes zusteht. Das Gebot der Vorherigkeit gilt grundsätzlich auch bei der Aufstellung von Nachtrags­haus­halten. Im Hinblick auf den Schutzzweck des Vorhe­rig­keits­gebots, das auf die Gewährleistung der Lenkungs- und Kontroll­funk­tionen des Haushalts­ge­setzes und damit auf die Wirksamkeit der Budgethoheit des Parlaments zielt, ist eine entsprechende Anwendung auf die Einbringung eines Nachtrags­haushalts geboten. Das Vorhe­rig­keitsgebot wird dann zu einem Verfas­sungsgebot rechtzeitiger, nicht willkürlich verzögerter Korrektur oder Anpassung ursprünglich oder nachträglich reali­täts­fremder Haushalts­ansätze. Im vorliegenden Fall geht es darum, dass ein Nachtrags­haus­halts­gesetz für das Jahr 2021 überhaupt erst nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 beschlossen wurde. Aus § 33 Satz 2 Bundes­haus­halts­ordnung folgt, dass ein Nachtrag­s­entwurf bis zum Ende des Haushaltsjahres einzubringen ist. In der Literatur besteht jedoch die einhellige Meinung, diese Vorschrift verfas­sungs­konform dahingehend auszulegen, dass ein Nachtrag­s­entwurf bis zum Jahresende parlamentarisch zu beschließen ist, weil er anderenfalls nichtig wäre. Für diese Auffassung spricht, dass ein Nachtragshaushalt die ursprüngliche Planung den neuen oder geänderten Bedürfnissen anpassen soll und aus diesem Grunde selbst planenden Charakter für den Rest des laufenden Haushaltsjahres haben muss. Dieser Planung­s­cha­rakter entfällt bei der Verabschiedung eines Nachtrags­haushalts erst nach Ablauf des Haushaltsjahres. Der Haushalts­vollzug ist dann abgeschlossen und kann nicht mehr beeinflusst werden. Die parla­men­ta­rische Beschluss­fassung über einen Nachtrag­s­entwurf nach Abschluss eines Haushaltsjahres widerspricht damit der Funktion eines Haushaltsplans als Planungs­in­strument. Während Verstöße gegen das Vorhe­rig­keitsgebot beim Erlass des Stammhaushalts mit Blick auf die Systematik von Art. 111 GG sanktionslos bleiben, kann dies nicht auf einen verspäteten Nachtrags­haushalt übertragen werden. Art. 111 GG erlaubt der Bundesregierung für eine etatlose Zeit eine vorläufige Haushalts- und Wirtschafts­führung über die Einräumung gewisser Nothaus­halts­kom­pe­tenzen. Für den Fall eines verspäteten Nachtrags­haus­haltes gibt es jedoch keine dem Art. 111 GG entsprechende Vorschrift. An diesen Maßstäben gemessen ist das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2021 mit Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar. Die Verabschiedung des Zweiten Nachtrags­haus­halts­ge­setzes für das Jahr 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 widerspricht dem Haushalts­grundsatz der Vorherigkeit. Dass die rückwirkende Änderung des Haushalts­ge­setzes 2021 durch das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz die Funktion eines Haushalts­ge­setzes als Planungs­in­strument verfehlt, ergibt sich insbesondere aus der Geset­zes­be­gründung. Dort weist die Bundesregierung darauf hin, dass staatliche Maßnahmen zur Pande­mie­be­kämpfung für das Haushaltsjahr 2021 nicht mehr umsetzbar seien. Unabhängig von der Frage, ob eine Rechtfertigung dieses Verstoßes überhaupt in Betracht kommt, sind Gründe hierfür weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dem Gesetzentwurf sind keine Ausführungen hierzu zu entnehmen. Die Unvereinbarkeit von Art. 1 und Art. 2 des Zweiten Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2021 mit dem Grundgesetz führt zur Nichtigkeit des Gesetzes.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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