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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.03.2022
BVerfG: Organstreitverfahren der AfD-Bundestagsfraktion wegen Vizepräsidentenwahl erfolglosDeutscher Bundestag musste keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl treffen
Das Bundesverfassungsgericht hat einen Antrag der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag verworfen, mit dem diese sich im Wege des Organstreits dagegen wandte, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten zur Stellvertreterin oder zum Stellvertreter des Präsidenten des 19. Deutschen Bundestages gewählt worden ist und der Deutsche Bundestag keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen hat.
Die Antragstellerin hatte in der zurückliegenden Legislaturperiode sechs Fraktionsmitglieder erfolglos für die Wahl zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vorgeschlagen. Der Zweite Senat hat nun entschieden, dass die Antragstellerin durch die Nichtwahl ihrer Fraktionsmitglieder offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt ist. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Deutschen Bundestages, die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehene Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter und Stellvertreterinnen mit prozeduralen Vorkehrungen zu versehen, um ein Wahlergebnis zugunsten der Antragstellerin zu fördern, besteht aus Sicht des Senats nicht.
Hintergrund: Nichtwahl aller sechs vorgeschlagenen Kandidaten
In seiner konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 beschloss der 19. Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Abgeordneten der Antragstellerin die Weitergeltung des bisherigen Geschäftsordnungsrechts, hierunter auch § 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT). Dieser sieht eine Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter (Vizepräsidenten) vor, wobei jede Fraktion des Deutschen Bundestages durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist (sogenanntes Grundmandat). Auf Antrag aller Fraktionen legte der Bundestag außerdem die Anzahl der Stellvertreter des Präsidenten auf sechs fest. Für alle Fraktionen - bis auf die Antragstellerin - wurden in der konstituierenden Sitzung im ersten Wahlgang die vorgeschlagenen Abgeordneten zu Stellvertretern und Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten gewählt. Der von der Antragstellerin zur Wahl vorgeschlagene Kandidat erhielt in keinem der drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit. Im weiteren Verlauf der Legislaturperiode schlug die Antragstellerin fünf weitere Abgeordnete vor, die ebenfalls in keinem der jeweils durchgeführten drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit erzielten. Die Antragstellerin rügte aufgrund dessen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie ihres Rechts auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung und eine Verletzung des Grundsatzes der Organtreue.
Kein Recht auf "prozedurale Vorkehrungen" hinsichtlich des Wahlergebnisses
Die Antragstellerin ist nach Ansicht des Senats durch die Nichtwahl ihrer Fraktionsmitglieder als Stellvertreter oder Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Sie sei als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung - ebenso wie der Status der Abgeordneten - aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten sei. Es gelte der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen.
Mitwirkungsrecht wird durch Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG begrenzt
Dementsprechend hätten die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung. Dieses Recht gelte dem Grundsatz nach auch für den Zugang zum Präsidium des Deutschen Bundestages. Die Reichweite dieses Mitwirkungsrechts werde aber durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums stehe insoweit unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten und könne daher nur verwirklicht werden, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten und Kandidatinnen die erforderliche Mehrheit erreichten. Nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wählt der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Das Grundgesetz sehe demnach ausdrücklich eine Wahl und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen vor; weitere ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorgaben für diese Wahl bestehen nicht. Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens stelle sich daher als eine innere Angelegenheit des Parlaments dar, die dieses im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung autonom regeln kann. Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Der Wahlakt unterliegt grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch keiner Begründung oder Rechtfertigung bedarf.
Keine Steuerung der Wahl durch die Fraktionen
Die freie Wahl entspricht dem freien Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und dem Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Daher kommen nach Ansicht des Senats keine Maßnahmen in Betracht, die dazu führen würden, dass einzelne Abgeordnete unmittelbar oder mittelbar verpflichtet wären, ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen. Es sei nicht ersichtlich, welche "verfahrensmäßigen Vorkehrungen" geeignet sein sollten, um sicherzustellen, dass die Ablehnung eines Kandidaten nicht aus sachwidrigen Gründen erfolge, ohne dadurch zugleich in die Wahlfreiheit der Abgeordneten einzugreifen. Könnte eine Fraktion - mittels der von der Antragstellerin begehrten "prozeduralen Vorkehrungen" oder gar durch ein Besetzungsrecht - einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert. Die in der Verfassung verankerte Vorgabe einer Wahl auch der Stellvertreter nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das bei dieser Wahl geschützte freie Mandat der Abgeordneten stünden deshalb einem Recht der Fraktion auf ein bestimmtes Wahlergebnis entgegen. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG durch (von der Antragstellerin nicht weiter konkretisierte) "prozedurale Vorkehrungen" scheide daher aus, ebenso verfahrensmäßige Vorgaben, die zu einem faktischen Besetzungsrecht führen würden.
Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages entspricht verfassungsrechtlichen Vorgaben
§ 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT sieht die Besetzung des Präsidiums mit mindestens einem Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin aus jeder Fraktion vor. Das Grundmandat des § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT bezweckt die Repräsentation aller Fraktionen in den Leitungsstrukturen des Parlaments. Allerdings steht diese Besetzung unter dem Vorbehalt einer Wahl durch die Mitglieder des Bundestages. Dabei sieht § 2 Abs. 1 Satz 1 GO-BT keine inhaltlichen Vorkehrungen für das Wahlverfahren vor. Das in § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT geregelte Grundmandat ist deshalb nicht als unbedingter, von der Wahl losgelöster Anspruch jeder Fraktion auf Stellung eines Vizepräsidenten ausgestaltet, sondern als Recht, einen Abgeordneten zur Wahl zu stellen. Dies bewegt sich laut BVerfG innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen, die Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG dem Mitwirkungs- und Teilhaberecht der Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zieht. Die Praxis des Antragsgegners, über die Wahlvorschläge der Antragstellerin im Rahmen einer freien Wahl abzustimmen, entspreche daher einer Auslegung seiner Geschäftsordnung, die die verfassungsrechtlichen Vorgaben wahrt.
Weiter Grundrechte ebenfalls nicht verletzt
Das Grundgesetz enthalte zwar einen durch die Rechtsprechung des BVerfG konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition. Der verfassungsrechtliche Schutz der Minderheit gehe jedoch nicht dahin, diese vor Sachentscheidungen der Mehrheit und den Ergebnissen freier Wahlen zu bewahren. Hinzu komme, dass die Mitglieder des Präsidiums und des Ältestenrats zur unparteiischen Amtsführung verpflichtet sind. Im Übrigen hätten der Bundestagspräsident sowie seine Stellvertreter ihr Amt mit größtmöglicher parteipolitischer Zurückhaltung wahrzunehmen. Der Umgang der Abgeordneten miteinander richte sich nach den Vorschriften der Geschäftsordnung in Ansehung des Grundsatzes deren fairer und loyaler Anwendung. Es bestünden keine Hinweise auf eine gleichheitswidrige Handhabung des Vorschlagsrechts der Antragstellerin oder eine unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge. Damit seien auch keine Anhaltspunkte für eine verfassungswidrige Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT durch den Antragsgegner gegeben.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 25.03.2022
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/cc)
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