21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.03.2022

BVerfG: Organstreit­verfahren der AfD-Bundes­tags­fraktion wegen Vizeprä­si­den­tenwahl erfolglosDeutscher Bundestag musste keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl treffen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einen Antrag der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag verworfen, mit dem diese sich im Wege des Organstreits dagegen wandte, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten zur Stell­ver­treterin oder zum Stellvertreter des Präsidenten des 19. Deutschen Bundestages gewählt worden ist und der Deutsche Bundestag keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen hat.

Die Antragstellerin hatte in der zurückliegenden Legis­la­tur­periode sechs Frakti­o­ns­mit­glieder erfolglos für die Wahl zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vorgeschlagen. Der Zweite Senat hat nun entschieden, dass die Antragstellerin durch die Nichtwahl ihrer Frakti­o­ns­mit­glieder offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parla­men­ta­rischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt ist. Eine verfas­sungs­rechtliche Verpflichtung des Deutschen Bundestages, die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehene Wahl des Bundes­tags­prä­si­denten und seiner Stellvertreter und Stell­ver­tre­te­rinnen mit prozeduralen Vorkehrungen zu versehen, um ein Wahlergebnis zugunsten der Antragstellerin zu fördern, besteht aus Sicht des Senats nicht.

Hintergrund: Nichtwahl aller sechs vorgeschlagenen Kandidaten

In seiner konsti­tu­ie­renden Sitzung am 24. Oktober 2017 beschloss der 19. Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Abgeordneten der Antragstellerin die Weitergeltung des bisherigen Geschäfts­ord­nungs­rechts, hierunter auch § 2 der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT). Dieser sieht eine Wahl des Bundes­tags­prä­si­denten und seiner Stellvertreter (Vizepräsidenten) vor, wobei jede Fraktion des Deutschen Bundestages durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist (sogenanntes Grundmandat). Auf Antrag aller Fraktionen legte der Bundestag außerdem die Anzahl der Stellvertreter des Präsidenten auf sechs fest. Für alle Fraktionen - bis auf die Antragstellerin - wurden in der konsti­tu­ie­renden Sitzung im ersten Wahlgang die vorgeschlagenen Abgeordneten zu Stellvertretern und Stell­ver­tre­te­rinnen des Bundes­tags­prä­si­denten gewählt. Der von der Antragstellerin zur Wahl vorgeschlagene Kandidat erhielt in keinem der drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit. Im weiteren Verlauf der Legis­la­tur­periode schlug die Antragstellerin fünf weitere Abgeordnete vor, die ebenfalls in keinem der jeweils durchgeführten drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit erzielten. Die Antragstellerin rügte aufgrund dessen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie ihres Rechts auf faire und loyale Anwendung der Geschäfts­ordnung und eine Verletzung des Grundsatzes der Organtreue.

Kein Recht auf "prozedurale Vorkehrungen" hinsichtlich des Wahlergebnisses

Die Antragstellerin ist nach Ansicht des Senats durch die Nichtwahl ihrer Frakti­o­ns­mit­glieder als Stellvertreter oder Stell­ver­tre­te­rinnen des Bundes­tags­prä­si­denten offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parla­men­ta­rischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Sie sei als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung - ebenso wie der Status der Abgeordneten - aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten sei. Es gelte der Grundsatz der Gleich­be­handlung der Fraktionen.

Mitwir­kungsrecht wird durch Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG begrenzt

Dementsprechend hätten die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parla­men­ta­rischen Willensbildung. Dieses Recht gelte dem Grundsatz nach auch für den Zugang zum Präsidium des Deutschen Bundestages. Die Reichweite dieses Mitwir­kungs­rechts werde aber durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundes­tags­prä­si­denten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht zur gleich­be­rech­tigten Berück­sich­tigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums stehe insoweit unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten und könne daher nur verwirklicht werden, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten und Kandidatinnen die erforderliche Mehrheit erreichten. Nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wählt der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Das Grundgesetz sehe demnach ausdrücklich eine Wahl und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen vor; weitere ausdrückliche verfas­sungs­rechtliche Vorgaben für diese Wahl bestehen nicht. Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens stelle sich daher als eine innere Angelegenheit des Parlaments dar, die dieses im Rahmen der verfas­sungs­mäßigen Ordnung autonom regeln kann. Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Der mit einer Wahl einhergehende legiti­ma­to­rische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Der Wahlakt unterliegt grundsätzlich keiner über Verfah­rens­fehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch keiner Begründung oder Rechtfertigung bedarf.

Keine Steuerung der Wahl durch die Fraktionen

Die freie Wahl entspricht dem freien Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und dem Demokra­tie­prinzip nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Daher kommen nach Ansicht des Senats keine Maßnahmen in Betracht, die dazu führen würden, dass einzelne Abgeordnete unmittelbar oder mittelbar verpflichtet wären, ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen. Es sei nicht ersichtlich, welche "verfah­rens­mäßigen Vorkehrungen" geeignet sein sollten, um sicherzustellen, dass die Ablehnung eines Kandidaten nicht aus sachwidrigen Gründen erfolge, ohne dadurch zugleich in die Wahlfreiheit der Abgeordneten einzugreifen. Könnte eine Fraktion - mittels der von der Antragstellerin begehrten "prozeduralen Vorkehrungen" oder gar durch ein Besetzungsrecht - einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert. Die in der Verfassung verankerte Vorgabe einer Wahl auch der Stellvertreter nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das bei dieser Wahl geschützte freie Mandat der Abgeordneten stünden deshalb einem Recht der Fraktion auf ein bestimmtes Wahlergebnis entgegen. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG durch (von der Antragstellerin nicht weiter konkretisierte) "prozedurale Vorkehrungen" scheide daher aus, ebenso verfah­rens­mäßige Vorgaben, die zu einem faktischen Besetzungsrecht führen würden.

Anwendung der Geschäfts­ordnung des Bundestages entspricht verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben

§ 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT sieht die Besetzung des Präsidiums mit mindestens einem Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin aus jeder Fraktion vor. Das Grundmandat des § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT bezweckt die Repräsentation aller Fraktionen in den Leitungs­strukturen des Parlaments. Allerdings steht diese Besetzung unter dem Vorbehalt einer Wahl durch die Mitglieder des Bundestages. Dabei sieht § 2 Abs. 1 Satz 1 GO-BT keine inhaltlichen Vorkehrungen für das Wahlverfahren vor. Das in § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT geregelte Grundmandat ist deshalb nicht als unbedingter, von der Wahl losgelöster Anspruch jeder Fraktion auf Stellung eines Vizepräsidenten ausgestaltet, sondern als Recht, einen Abgeordneten zur Wahl zu stellen. Dies bewegt sich laut BVerfG innerhalb der verfas­sungs­recht­lichen Grenzen, die Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG dem Mitwirkungs- und Teilhaberecht der Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zieht. Die Praxis des Antragsgegners, über die Wahlvorschläge der Antragstellerin im Rahmen einer freien Wahl abzustimmen, entspreche daher einer Auslegung seiner Geschäfts­ordnung, die die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben wahrt.

Weiter Grundrechte ebenfalls nicht verletzt

Das Grundgesetz enthalte zwar einen durch die Rechtsprechung des BVerfG konkretisierten allgemeinen verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz effektiver Opposition. Der verfas­sungs­rechtliche Schutz der Minderheit gehe jedoch nicht dahin, diese vor Sachent­schei­dungen der Mehrheit und den Ergebnissen freier Wahlen zu bewahren. Hinzu komme, dass die Mitglieder des Präsidiums und des Ältestenrats zur unparteiischen Amtsführung verpflichtet sind. Im Übrigen hätten der Bundes­tags­prä­sident sowie seine Stellvertreter ihr Amt mit größtmöglicher partei­po­li­tischer Zurückhaltung wahrzunehmen. Der Umgang der Abgeordneten miteinander richte sich nach den Vorschriften der Geschäfts­ordnung in Ansehung des Grundsatzes deren fairer und loyaler Anwendung. Es bestünden keine Hinweise auf eine gleich­heits­widrige Handhabung des Vorschlags­rechts der Antragstellerin oder eine unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge. Damit seien auch keine Anhaltspunkte für eine verfas­sungs­widrige Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT durch den Antragsgegner gegeben.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/cc)

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