23.11.2024
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Dokument-Nr. 31871

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Urteil15.06.2022Bundesverfassungsgericht2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20
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Bundesverfassungsgericht Urteil15.06.2022

Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Minister­präsidenten­wahl in Thüringen 2020 verletzen das Recht auf Chancen­gleichheit der ParteienMerkel verletzte mit Äußerung über Kemmerich-Wahl Rechte der AfD

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel durch eine im Rahmen einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten der Republik Südafrika am 6. Februar 2020 in Pretoria getätigte Äußerung zur Minister­präsidenten­wahl in Thüringen und deren anschließende Veröf­fent­lichung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung die Partei Alternative für Deutschland (AfD) in ihrem Recht auf Chancen­gleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt hat.

Im Februar 2020 war Thomas Kemmerich (FDP) im dritten Wahlgang zum Minis­ter­prä­si­denten des Freistaats Thüringen gewählt worden. An der Wahl wurde wegen der angenommenen Mitwirkung von Abgeordneten sowohl der AfD- als auch der CDU-Landtags­fraktion heftige öffentliche Kritik geübt. Die Bundeskanzlerin äußerte sich dazu am Tag nach der Wahl im Rahmen eines Staatsempfangs mit dem Präsidenten der Republik Südafrika dahingehend, dass die Ministerpräsidentenwahl mit einer „Grund­über­zeugung“ gebrochen habe, „für die CDU und auch für mich“, wonach mit „der AfD“ keine Mehrheiten gewonnen werden sollten. Der Vorgang sei „unverzeihlich“, weshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden müsse. Es sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen.

Bundeskanzlerin Merkel hat mit der getätigten Äußerung in amtlicher Funktion die Antragstellerin negativ qualifiziert und damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt. Der damit verbundene Eingriff in das Recht auf gleich­be­rechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ist weder durch den Auftrag des Bundeskanzlers zur Wahrung der Stabilität der Bundesregierung sowie des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staaten­ge­mein­schaft gerechtfertigt, noch handelt es sich um eine zulässige Maßnahme der Öffent­lich­keits­arbeit der Bundesregierung. Durch die anschließende Veröf­fent­lichung der Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung haben die Antrags­geg­ne­rinnen außerdem auf Ressourcen zurückgegriffen, die allein ihnen zur Verfügung standen. Indem sie auf diese Weise das in der Äußerung enthaltene negative Werturteil über die Antragstellerin verbreitet haben, haben sie die Antragstellerin eigenständig in ihrem Recht auf gleich­be­rechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb verletzt.

Die Richterin Wallrabenstein hat ein Sondervotum abgegeben.

Sachverhalt

Am 5. Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Minis­ter­prä­si­denten des Freistaats Thüringen statt. Nachdem weder der gemeinsame Kandidat der Fraktionen von SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch der Kandidat der Landtags­fraktion der Antragstellerin in den ersten zwei Wahlgängen die notwendige absolute Stimmenmehrheit erhalten hatte, nominierte die Fraktion der FDP einen weiteren Kandidaten für den dritten Wahlgang, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Dieser wurde mit 45 von 90 Stimmen bei einer Enthaltung, 44 Stimmen für den Kandidaten von SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und keiner Stimme für den Kandidaten der Landtags­fraktion der Antragstellerin gewählt.

An der Wahl des Minis­ter­prä­si­denten wurde wegen der angenommenen Mitwirkung von Abgeordneten der Antragstellerin heftige öffentliche Kritik geübt. Die Bundeskanzlerin, die sich in Südafrika auf einer Dienstreise befand, äußerte sich am 6. Februar 2020 im Rahmen eines Staatsempfangs mit dem Präsidenten der Republik Südafrika zu dem Vorgang unter anderem wie folgt:

„Meine Damen und Herren, ich hatte dem Präsidenten schon gesagt, dass ich aus innen­po­li­tischen Gründen eine Vorbemerkung machen möchte, und zwar bezogen auf den gestrigen Tag, an dem ein Minis­ter­prä­sident in Thüringen gewählt wurde. Die Wahl dieses Minis­ter­prä­si­denten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grund­über­zeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass sich die CDU nicht an einer Regierung unter dem gewählten Minis­ter­prä­si­denten beteiligen darf. Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.“

Die Äußerung wurde sowohl auf der Internetseite der Bundeskanzlerin als auch auf der Internetseite der Bundesregierung veröffentlicht.

Die Antragstellerin macht geltend, dass die Antrags­geg­ne­rinnen die ihnen obliegende Pflicht zur Neutralität im politischen Meinungskampf und damit das Recht der Antragstellerin auf Chancen­gleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt haben.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Die Anträge sind begründet.

A. I. Um die verfas­sungs­rechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleich­be­rechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Dies macht es erforderlich, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren. Das Recht, gleich­be­rechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung teilzunehmen, wird regelmäßig verletzt, wenn Staatsorgane als solche zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern auf den Wahlkampf einwirken.

II. Für die Äußerungs­be­fugnisse eines einzelnen Mitglieds der Bundesregierung gilt nichts Anderes als für die Bundesregierung als Ganzes. Handelt das Regie­rungs­mitglied in Wahrnehmung seines Ministeramtes, hat es in gleicher Weise wie die Bundesregierung den verfas­sungs­rechtlich garantierten Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien zu beachten. Dies schließt nicht aus, dass Regie­rungs­mit­glieder außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teilnehmen. Es muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten, die den politischen Wettbewerbern verschlossen sind, unterbleibt. Demgemäß verstößt eine Partei ergreifende Äußerung eines Bundesministers im politischen Meinungskampf gegen den Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien und verletzt die Integrität des freien und offenen Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, wenn sie unter Einsatz der mit dem Ministeramt verbundenen Ressourcen oder unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine aus der Autorität des Amtes fließende besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen.

III. Für das Amt des Bundeskanzlers gelten diese Maßgaben grundsätzlich in gleicher Weise. Er wirkt entscheidend an der Aufgabe der Regierung zur Staatsleitung mit, aus der jene Autorität und Ressour­cen­vorteile erwachsen, die für die Bindung an den Grundsatz der Chancen­gleichheit und die sich daraus ergebenden Neutra­li­täts­pflichten ursächlich sind. Soweit seine Äußerungs­be­fugnisse gegenständlich weiterreichen als die des einzelnen, auf seinen jeweiligen Ressortbereich beschränkten Bundesministers und die Gesamtheit des Regie­rungs­handelns umfassen, entbindet ihn dies bei der Wahrnehmung seiner Rechte nicht von der Pflicht, den Anspruch der Parteien auf Chancen­gleichheit im politischen Wettbewerb und damit das Neutra­li­tätsgebot zu beachten.

IV. Der Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien unterliegt keinem absoluten Diffe­ren­zie­rungs­verbot. Gründe, die Ungleich­be­hand­lungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancen­gleichheit der Parteien verleihen, müssen aber durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien die Waage halten kann. Dabei ist jedenfalls den Grundsätzen der Geeignetheit und Erfor­der­lichkeit zur Erreichung der verfas­sungs­rechtlich legitimierten Zwecke Rechnung zu tragen.

1. Als gleichwertiges Verfassungsgut kommt der Schutz der Handlungs­fä­higkeit und Stabilität der Bundesregierung in Betracht. Das Grundgesetz erstrebt die Bildung einer vom Willen der Mehrheit des Parlaments getragenen, handlungs­fähigen Regierung. Für die Handlungs­fä­higkeit der Bundesregierung Sorge zu tragen, ist zuvörderst Aufgabe des Bundeskanzlers, dem bei der Bestimmung der hierfür erforderlichen Maßnahmen ein weiter Einschät­zungs­spielraum zukommt.

2. Die Erhaltung des Ansehens der und des Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland in der Staaten­ge­mein­schaft stellt ebenfalls ein der Chancen­gleichheit der Parteien gleichwertiges Verfassungsgut dar. Das Grundgesetz bindet die Bundesrepublik Deutschland in die internationale Gemeinschaft ein und hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet. Die Beachtung und Umsetzung dieses Verfas­sungs­gebots obliegt zuvörderst der Bundesregierung und insbesondere dem Bundeskanzler, wobei ihnen das Grundgesetz einen weiten Spielraum zur eigen­ver­ant­wort­lichen Aufga­ben­wahr­nehmung eröffnet.

3. Die der Bundesregierung und ihren Mitgliedern im Rahmen der Aufgabe zur Staatsleitung zustehende Befugnis zur Öffent­lich­keits­arbeit entbindet für sich genommen nicht von der Beachtung des Neutra­li­täts­gebots. Der Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG lässt es nicht zu, dass die Bundesregierung oder ihre Mitglieder die Möglichkeit der Öffent­lich­keits­arbeit nutzen, um Regie­rungs­parteien zu unterstützen oder Opposi­ti­o­ns­parteien zu bekämpfen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Bundesregierung nicht gehindert, sondern sogar verpflichtet ist, für die Grundsätze und Werte der Verfassung einzutreten, und sich im Rahmen ihrer Pflicht zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch mit verfas­sungs­feind­lichen Parteien zu befassen hat.

B. Nach diesen Maßstäben sind die Anträge begründet.

I. Die streit­ge­gen­ständliche Äußerung verletzt die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancen­gleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

1. Die streit­ge­gen­ständliche Äußerung wurde in amtlicher Funktion getätigt. Sie fiel im ausschließlich amtsbezogenen Rahmen einer Regie­rungs­pres­se­kon­ferenz, deren Anlass sowie vorgesehener Gegenstand Gespräche waren, welche die Antragsgegnerin zu I. in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika geführt hatte. Aus der Ankündigung der Antragsgegnerin zu I., eine „Vorbemerkung“ zu machen, folgt nichts Anderes. Daraus ergibt sich zunächst nur, dass die Äußerung den folgenden Aussagen zu den Inhalten der Gespräche mit den Vertretern der Republik Südafrika vorgelagert sein, nicht jedoch, dass sie außerhalb der Ausübung der Dienstgeschäfte erfolgen sollte. Der Hinweis, die Vorbemerkung „aus innen­po­li­tischen Gründen“ zu machen, ändert am amtlichen Charakter der Äußerung ebenfalls nichts. Denn der Bundeskanzler ist zur verant­wort­lichen Leitung sowohl der inneren wie auch der äußeren Politik berufen. Inhaltlich lässt die Äußerung der Antragsgegnerin zu I. keine hinreichende Distanzierung von ihrem Amt erkennen. Sofern sie auf eine Grund­über­zeugung der CDU verweist, ist zwar erkennbar, dass sie die Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in erster Linie mit Blick auf das Verhalten der Landtags­ab­ge­ordneten ihrer eigenen Partei kritisierte. Dies allein rechtfertigt aber nicht den Rückschluss, dass sie sich ausschließlich als Partei­po­li­tikerin äußerte. Gleiches gilt für den Umstand, dass die Äußerung sich auf einen Sachverhalt außerhalb der Regelungs­zu­stän­digkeit der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers bezog. Die Frage der Kompetenz ist für die Abgrenzung zwischen amtlichem und nichtamtlichem Handeln nicht von Bedeutung. Es wäre der Antragsgegnerin zu I. unbenommen gewesen, mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich zur Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Partei­po­li­tikerin oder Privatperson äußern werde. Von dieser Möglichkeit hat sie keinen Gebrauch gemacht.

2. Die streit­ge­gen­ständliche Äußerung beinhaltet negative Quali­fi­zie­rungen der Antragstellerin. Hierdurch hat die Antragsgegnerin zu I. in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt.

a) Die Antragsgegnerin zu I. beschränkt sich in der streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerung nicht auf eine Bewertung der Wahl des Thüringer Minis­ter­prä­si­denten und des diesbezüglichen Verhaltens der Landtags­ab­ge­ordneten der CDU. Vielmehr beinhaltet die Äußerung auch eine grundsätzliche Stellungnahme zum Umgang mit der Antragstellerin und zu deren Verortung im demokratischen Spektrum. Die Aussage, dass die Minis­ter­prä­si­den­tenwahl mit der „Grund­über­zeugung“ gebrochen habe, mit „der AfD“ keine Mehrheiten zu bilden, qualifiziert die Antragstellerin insgesamt als eine Partei, mit der jedwede (parla­men­ta­rische) Zusammenarbeit von vornherein ausscheidet. Diese Bewertung wird dadurch verstärkt, dass die Antragsgegnerin zu I. den Vorgang als „unverzeihlich“ bezeichnete und forderte, dessen Ergebnis rückgängig zu machen. Indem sie schließlich äußerte, die Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen, hat sie deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der Antragstellerin an der Bildung parla­men­ta­rischer Mehrheiten generell als demokra­tie­schädlich erachtet, und implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Koope­ra­ti­o­ns­fä­higkeit der Antragstellerin im demokratischen Gemeinwesen gefällt.

b) Die negative Bewertung stellt sich als Eingriff in das Recht auf gleich­be­rechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Die Antragsgegnerin zu I. hat mit ihr die durch das Neutra­li­tätsgebot vorgegebenen inhaltlichen Grenzen ihrer Äußerungs­be­fugnisse überschritten, indem sie ein negatives Werturteil über die Antragstellerin als eine im politischen Wettbewerb stehende Partei gefällt hat. Sie hat gegen die Antragstellerin Partei ergriffen, indem sie sie aus dem Kreis der im demokratischen Spektrum koalitions- und koope­ra­ti­o­ns­fähigen Parteien ausgegrenzt hat.

3. Der Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Chancen­gleichheit ist nicht gerechtfertigt.

a) Es ist nicht erkennbar, dass die Äußerung zur Sicherung der Arbeits­fä­higkeit und Stabilität der Bundesregierung geboten war. Dass dem Bundeskanzler bei der Beurteilung der Frage, welcher Maßnahmen es zur Erhaltung der Stabilität und der Arbeits­fä­higkeit der Bundesregierung bedarf, ein weiter Einschät­zungs­spielraum zusteht, entbindet nicht davon, dass plausibel dargelegt werden oder in sonstiger Weise ersichtlich sein muss, dass die Stabilität der Bundesregierung im Einzelfall tatsächlich betroffen gewesen ist und einen Eingriff in das Recht auf Chancen­gleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG erforderlich gemacht hat. Daran fehlt es. Bereits vor der öffentlichen Einlassung der Antragsgegnerin zu I hatte die Bundes­vor­sitzende der CDU sich zur Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen inhaltsgleich geäußert. Die Antragsgegnerin selbst hatte den Vorgang telefonisch mit den führenden Repräsentanten der Koali­ti­o­ns­parteien besprochen, wobei die Einberufung des Koali­ti­o­ns­aus­schusses vereinbart worden war. Damit war der im Koali­ti­o­ns­vertrag vorgesehene Mechanismus zur Bewältigung krisenhafter Situationen in der Regie­rungs­arbeit im Zeitpunkt der streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerung bereits betätigt worden. Dass die Stabilität und Arbeits­fä­higkeit der Bundesregierung unabhängig von dessen Ausgang gefährdet waren, erschließt sich nicht.

b) Ebenso wenig ist erkennbar, dass infolge der Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen das Ansehen der und das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland in der Staaten­ge­mein­schaft in einer Weise betroffen waren, welche die mit der öffentlichen Erklärung verbundene Parteinahme zulasten der Antragstellerin hätte rechtfertigen können. Soweit die Antrags­geg­ne­rinnen geltend machen, international habe die Erwartung bestanden, dass sich die CDU als stärkste Regie­rungs­partei positioniere, war eine solche Positionierung durch die CDU-Partei­vor­sitzende bereits erfolgt. Dass die Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen das Ansehen der oder das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland in relevantem, die außenpolitische Handlungs­fä­higkeit einschränkendem Umfang zu erschüttern geeignet war, ist nicht ersichtlich. Dahingehende Reaktionen ausländischer Staatsorgane sind nicht dargelegt. Insbesondere kann dies den von den Antrags­geg­ne­rinnen vorgelegten Presse­aus­schnitten nicht entnommen werden. Allein die subjektive Einschätzung der Antragsgegnerin zu I. reicht insoweit nicht aus, da dem Bundeskanzler andernfalls umfängliche, kaum eingrenzbare Möglichkeiten eröffnet würden, unter Inanspruchnahme der Amtsautorität einseitig in den Wettbewerb der politischen Parteien einzugreifen.

c) Der Eingriff in das Recht auf Chancen­gleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ist auch nicht durch die Befugnis zur Informations- und Öffent­lich­keits­arbeit gerechtfertigt. Es kann dahinstehen, inwieweit die Bewertung der Minis­ter­prä­si­den­tenwahl in Thüringen überhaupt einen tauglichen Gegenstand der Öffent­lich­keits­arbeit der Bundesregierung und ihrer Mitglieder darstellt. Jedenfalls hat die Antragsgegnerin zu I. mit ihrer Äußerung das dabei grundsätzlich zu beachtende Neutra­li­tätsgebot verletzt. Der Äußerung kann auch nicht entnommen werden, dass sie zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor verfas­sungs­feind­lichen Bestrebungen erfolgte.

II. Soweit die streit­ge­gen­ständliche Äußerung auf den Internetseiten der Antrags­geg­ne­rinnen veröffentlicht wurde, ist der Antrag ebenfalls begründet.

1. Die Veröf­fent­lichung der streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerung auf den offiziellen Internetseiten der Antrags­geg­ne­rinnen stellt sich als amtliches Handeln dar, weil in spezifischer Weise regie­rung­s­amtliche Autorität in Anspruch genommen und auf amtsbezogene Ressourcen zurückgegriffen wurde, die allein den Antrags­geg­ne­rinnen zur Verfügung standen. Die Veröf­fent­lichung diente dabei auch der weiteren Verbreitung der streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerung und des darin enthaltenen negativen Werturteils über die Antragstellerin. Sie führt zu einer eigenständigen Verletzung des Rechts der Antragstellerin auf gleich­be­rechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG.

2. Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt. Eine Rechtfertigung folgt nicht aus einer Pflicht zur authentischen Dokumentation von Regie­rungs­handeln. Diese erstreckt sich jedenfalls nicht auf Erklärungen, die in nicht gerecht­fer­tigter Weise in das Recht auf politische Chancen­gleichheit einer politischen Partei aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG eingreifen. Die Veröf­fent­lichung nimmt auch nicht lediglich die Erfüllung einer nach dem Infor­ma­ti­o­ns­frei­heits­gesetz beziehungsweise den Pressegesetzen bestehenden Infor­ma­ti­o­ns­pflicht in allgemeiner Weise vorweg. Es kann dahinstehen, ob eine solche Auskunfts­pflicht besteht. Jedenfalls entstünde sie erst mit Vorliegen eines entsprechenden Antrags und zudem nur in dem im Einzelfall begehrten Umfang.

Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.

Sondervotum der Richterin Wallrabenstein

Die Bundeskanzlerin hat keinen Verfas­sungs­verstoß begangen. Äußert sie sich zu politischen Fragen, unterliegt der Aussageinhalt keiner Neutra­li­täts­kon­trolle durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

I. Bei der Durchführung einer solchen Kontrolle lässt die Senatsmehrheit anerkannte Argumen­ta­ti­o­ns­figuren der verfas­sungs­ge­richt­lichen Praxis außer Betracht.

Bei der Einordnung der Äußerung der Bundeskanzlerin als Amtsausübung will die Senatsmehrheit den objektiven Empfän­ger­ho­rizont eines mündigen und verständigen Bürgers einnehmen. Dieser Maßstab ist jedoch für die Abgrenzung zwischen Amtsausübung und davon zu trennender Stellungnahme einer Partei­po­li­tikerin ungeeignet.

Inhaber von Regie­rung­s­ämtern werden regelmäßig in ihrer Doppelrolle wahrgenommen. Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger bestehen aufgrund der Verschränkung von staatlichem Amt und partei­po­li­tischer Zugehörigkeit gegenüber einem Regie­rungs­mitglied nur begrenzte Neutra­li­täts­er­war­tungen. Beides hat der Senat erkannt, zieht daraus aber keine Konsequenzen. Die Einordnung einer Äußerung der Bundeskanzlerin als ebensolche bereitet gerade wegen ihrer Doppelrolle keine Schwierigkeiten. Zweifelhaft und unbewiesen ist hingegen die Hypothese, sie könne diese Vermutung mit einer hinreichenden Distanzierung von ihrem Amt entkräften. Eher wäre darauf abzustellen, ob ausnahmsweise ein Regie­rungs­mitglied ausschließlich in Wahrnehmung seines Amtes spricht, sich also deutlich von seiner Parteifunktion distanziert.

Dass zudem die redaktionelle Einordnung der Äußerung durch die in der Pressekonferenz anwesenden Journalistinnen und Journalisten unbeachtlich sein soll, geht nicht nur an der Wirklichkeit vorbei, in der Bürgerinnen und Bürger für ihre persönliche politische Willensbildung auf die mediale Berich­t­er­stattung angewiesen sind. Die Senatsmehrheit blendet damit auch konzeptionell den vielschichtigen Kommu­ni­ka­ti­o­ns­prozess einer demokratischen Gesellschaft und damit die Grundlage des politischen Willens­bil­dungs­pro­zesses aus, dessen Schutz die Äußerungs­be­schrän­kungen der Bundeskanzlerin gerade dienen sollen.

II. 1. Zum „Schutz des politischen Willens­bil­dungs­pro­zesses vom Volk hin zu den Staatsorganen vor seiner Umkehrung“ hat der Senat zunächst nur die Öffent­lich­keits­arbeit der Regierung in Wahlkampfzeiten begrenzt. Die hierbei aufgestellten Maßstäbe hat er schrittweise allgemein zu einer Neutra­li­täts­pflicht für Äußerungen von Regie­rungs­mit­gliedern weiter­ent­wickelt.

2. Bereits für die Öffent­lich­keits­arbeit der Regierung – im Sinne der Selbst­dar­stellung der Regie­rungs­arbeit – waren und sind diese inhaltlichen Neutra­li­täts­maßstäbe umstritten. Ich halte sie für verfehlt.

Die Selbst­dar­stellung der Regierung ist etwas anderes als die sachbezogene Öffent­lich­keits­arbeit. Diese ist, auch wenn sie von einem Minister oder einer Ministerin ausgeübt wird, eine spezifische Form der Verwal­tung­s­tä­tigkeit und unterliegt – dementsprechend justiziablen – Vorgaben wie Richtigkeit, Sachlichkeit und Zurückhaltung.

Ich kann nicht erkennen, dass bei der Selbst­dar­stellung der Regierung eine Neutra­li­täts­pflicht dem Schutz der Richtung des Willens­bil­dungs­pro­zesses vom Volk zu den Staatsorganen vor seiner Umkehrung dienen könnte. Eine offene Parteinahme der Regie­rungs­mit­glieder für die Parteien, die die Regierung tragen, ist hierfür nicht das Problem. Bürgerinnen und Bürger erwarten von den Regie­rungs­mit­gliedern nur begrenzt Neutralität, nämlich insoweit, als sie Funktionen der Fachverwaltung ausüben.

Das Konzept einer Trennung, das der Senat verfolgt, wäre daher nicht zwischen Amtsausübung und Parteitätigkeit, sondern zwischen Exekutiv- und Regie­rung­s­tä­tigkeit zu verorten. Indem der Senat stattdessen die Amtsausübung eines Regie­rungs­mit­glieds insgesamt den Vorgaben unterstellt, die ihrem Grunde nach für Exekutivhandeln gelten, verkennt er die eigentliche Regie­rungs­funktion, die im parla­men­ta­rischen Regie­rungs­system des Grundgesetzes vom Parlament der Bundeskanzlerin und ihrem Kabinett überantwortet ist.

Regie­rungs­arbeit ist politisch und in einer Partei­en­de­mo­kratie parteipolitisch geprägt. Die Sorge, dass die Richtung des politischen Willens­bil­dungs­pro­zesses umgekehrt werden könnte, wird gerade durch den Anschein von Neutralität des Regie­rungs­handelns begründet. Themensetzung, Gewichtung der Belange, Auswahl der Expertise, Bewertung von Argumenten, also alle politischen Leitungs­ent­schei­dungen stellen eben Entscheidungen dar. Sie sind nie neutral, sondern beruhen auf Prägungen, Überzeugungen und Wirklich­keits­wahr­neh­mungen, die in einer Gesellschaft sehr unterschiedlich sind. Wahlen dienen dazu, bei diesen Entscheidungen einen Unterschied zu machen.

Daher spricht bereits bei der Selbst­dar­stellung der Regie­rung­s­tä­tigkeit nichts für eine Neutra­li­täts­pflicht.

3. Äußerungen einzelner Regie­rungs­mit­glieder zu konkreten politischen Fragen sind erst recht nicht einer Neutra­li­täts­pflicht unterworfen.

Geht man mit dem Senat davon aus, dass für die – selbst­dar­stellende – Öffent­lich­keits­arbeit der Regierung Neutra­li­täts­pflichten gelten, müsste ein genereller Maßstab für alle Äußerungen von Regie­rungs­mit­gliedern format- und situa­ti­o­ns­bezogen präzisiert werden. Oder er müsste so gefasst sein, dass die Kontext­be­din­gungen einer Äußerung berücksichtigt werden können.

Der Senat wählt mit dem Trennungs­konzept einen anderen Weg. Er unterwirft regie­rung­s­amtliche Äußerungen engen Neutra­li­täts­vorgaben und verweist die Ausein­an­der­setzung mit politischen Parteien auf den Bereich „außerhalb der amtlichen Funktion“.

Bezogen auf den Wahlkampf hat die Unterscheidung zwischen der Regie­rungs­arbeit zuzuordnender Selbst­dar­stellung und partei­po­li­tischer Wahlwerbung ihren Sinn. Regie­rungs­mit­glieder sollen ihre Ressourcen nicht für den Wahlkampf verwenden dürfen, sondern ihn ebenso mit persönlichem Einsatz führen müssen wie andere Parteipolitiker auch. Auch die Differenzierung zwischen „dienstlichen“ und privaten Meinung­s­äu­ße­rungen hat in zahlreichen Kontexten ihre Berechtigung. Sie erlaubt die Wahrnehmung persönlicher Freiheiten und bewahrt zugleich die Institution, der eine Person „dienstlich“ angehört, davor, mit deren Auffassungen oder Verhal­tens­weisen gleichgesetzt zu werden. Weder das eine noch das andere ist aber angezeigt, wenn Regie­rungs­mit­glieder sich zu politischen Fragen parteinehmend äußern. Regie­rungs­mit­glieder stehen auch – und gerade – persönlich in der politischen Verantwortung. Umgekehrt dient die Möglichkeit der Parteinahme in ihrem Fall nicht nur der Verwirklichung persönlicher Freiheiten.

III. Das berechtigte Anliegen, das der Senat mit dieser Trennung verfolgt, findet sich nicht auf der Seite der Amtsausübung des Regie­rungs­mit­glieds, sondern auf der Seite seiner partei­po­li­tischen Betätigung. Bei letzterer soll es nicht auf die spezifischen Möglichkeiten und Mittel des Ministeramtes zurückgreifen dürfen. Es geht also nicht um ein inhaltliches Äußerungsverbot, sondern um ein Ressour­cen­nut­zungs­verbot.

Damit lässt sich eine exzessive Öffent­lich­keits­arbeit der Regierung im Wahlkampf, also die Nutzung von Regie­rungs­res­sourcen für parteis­pe­zi­fische Zwecke unterbinden und der politische Wettbewerb sichern.

Allerdings ist ein solches Verbot nur für die Nutzung wirtschaft­licher Ressourcen plausibel. Durch den Rückgriff auf sie ersparen sich Regie­rungs­parteien eigene Aufwendungen. Dies und nicht der Inhalt der – selbst­dar­stel­lenden – Öffent­lich­keits­arbeit kann den Partei­en­wett­bewerb verzerren. Dass eine regierende Partei ihre Wahlprogramme umsetzt und damit auch in kommenden Wahlen überzeugen will, ist gerade Folge der in den vorangegangenen Wahlen zum Ausdruck gekommenen Präferenzen der Wählerinnen und Wähler.

Daher ist es verfehlt, der Nutzung der Ressourcen die Nutzung der Amtsautorität gleichzustellen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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