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- NJW 2014, 1431Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 1431
Bundesverfassungsgericht Urteil26.02.2014
Bundesverfassungsgericht kippt Drei-Prozent-Hürde im EuropawahlrechtDrei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht ist unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen verfassungswidrig
Die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht ist verfassungswidrig. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht. Unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen ist der mit der Sperrklausel verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit nicht zu rechtfertigen. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Künftige Entwicklungen kann der Gesetzgeber dann maßgeblich berücksichtigen, wenn sie aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren sind.
Die Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden wenden sich gegen § 2 Abs. 7 des Europawahlgesetzes (EuWG), der für die Wahl zum Europäischen Parlament eine Drei-Prozent-Sperrklausel vorsieht. Diese Regelung wurde durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes vom 7. Oktober 2013 (BGBl I S. 3749) eingefügt. Im europäischen Recht verlangt der sogenannte Direktwahlakt, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments in jedem Mitgliedstaat nach dem Verhältniswahlsystem gewählt werden. Das Wahlverfahren bestimmt sich - vorbehaltlich der sonstigen Vorschriften des Direktwahlaktes - in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften. Die bei der Europawahl 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. November 2011 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG und daher nichtig erklärt.
Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verstößt gegen Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien
Die Anträge in den Organstreitverfahren, soweit sie zulässig sind, und die Verfassungsbeschwerden hatten vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg. Die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verstößt unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG).
Abgesenkte Mindestschwelle stellt keine inhaltsgleiche Normwiederholung dar
Es kann hier dahingestellt bleiben, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber nach Nichtigerklärung einer Norm eine solche inhaltsgleich erneut erlassen kann, denn die abgesenkte Mindestschwelle stellt bereits keine inhaltsgleiche Normwiederholung dar. Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Organtreue liegt nicht vor; der Gesetzgeber hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht bewusst missachtet, sondern gerade in Auseinandersetzung mit dem Urteil vom 9. November 2011 gehandelt.
Direktwahlakt eröffnet keine Möglichkeit zur Festlegung einer Sperrklausel
Der Direktwahlakt gibt einen Gestaltungsrahmen für den Erlass nationaler Wahlrechtsvorschriften vor, die selbst aber den verfassungsrechtlichen Bindungen des jeweiligen Mitgliedstaates unterliegen. Dass die im Direktwahlakt eröffnete Möglichkeit, eine Sperrklausel von bis zu 5 % der abgegebenen Stimmen festzulegen, zugleich deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht impliziert, lässt sich dem Direktwahlakt weder nach seinem Wortlaut noch durch Auslegung entnehmen.
Die dem Urteil vom 9. November 2011 zugrunde liegenden Maßstäbe beanspruchen Geltung auch im vorliegenden Verfahren.
Stimme jedes Wahlberechtigten muss gleichen Zählwert und gleiche rechtliche Erfolgschance haben
Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, der sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt, sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Bei der Verhältniswahl verlangt dieser Grundsatz darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss, denn Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind.
Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden.
Enger Zusammenhang zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien
Zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien besteht ein enger Zusammenhang. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen folgt den gleichen Maßstäben. Beide Grundsätze unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot; allerdings folgt aus ihrem formalen Charakter, dass dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt. Differenzierungen im Wahlrecht können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Hierzu zählt insbesondere die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung.
Maßgeblich sind die aktuellen Verhältnisse. Der Gesetzgeber ist zwar nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige Entwicklungen zu berücksichtigen. Maßgebliches Gewicht kann diesen jedoch nur dann zukommen, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren ist.
Vorsorglich statuierte Sperrklausel bringt schwerwiegenden Eingriff in Wahlrechtsgleichheit in unverhältnismäßiger Weise mit sich
Im vorliegenden Verfahren kann offenbleiben, inwieweit dem Ansatz des Deutschen Bundestages zu folgen ist, dass Sperrklauseln bereits unter Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Funktionsfähigkeit gerechtfertigt sind. Dies kann allenfalls für Volksvertretungen gelten, bei denen eine Schwächung der Funktionsfähigkeit gleichbedeutend sein kann mit einer entsprechenden Schwächung der Fähigkeit, hierauf mit einer Korrektur des Wahlrechts zu reagieren. Denn bezogen auf das Europäische Parlament sind Korrekturen durch den nationalen Wahlrechtsgesetzgeber möglich. Mit einer rein vorsorglich statuierten Sperrklausel würde der schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit in unverhältnismäßiger Weise vorverlagert.
Für Ausgestaltung des Wahlrechts gilt strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle
Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies folgt aus der generellen Erwägung, dass die parlamentarische Mehrheit mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt. Aus diesem Grunde kann die verfassungsgerichtliche Kontrolle auch nicht durch Zubilligung von weitgehend frei ausfüllbaren Prognosespielräumen zurückgenommen werden.
Drei-Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Hinblick auf politische und institutionelle Entwicklungen
Nach diesen Maßstäben ist die Drei-Prozent-Sperrklausel (§ 2 Abs. 7 EuWG) mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Senat hat im Urteil vom 9. November 2011 festgestellt, dass die bei der Europawahl 2009 gegebenen und fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse keine hinreichenden Gründe bieten, die den mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien rechtfertigen. Eine maßgebliche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse ist seither nicht eingetreten. Die Drei-Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Hinblick auf zu erwartende politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funktionsbedingungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode.
Drohende Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel nicht ersichtlich
Der Gesetzgeber geht zutreffend davon aus, dass eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene unter Umständen dann eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht rechtfertigen kann, wenn in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die denen auf nationaler Ebene vergleichbar sind, wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist. Eine dahingehende Entwicklung des Europäischen Parlaments wird zwar politisch angestrebt, steckt indes noch in den Anfängen. Tatsächliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sind derzeit nicht abzusehen, so dass für die Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel eine Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt.
Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments ohne Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht nicht absehbar
Das Europäische Parlament verfolgt ausweislich seiner Entschließung vom 22. November 2012 im Einverständnis mit der derzeitigen Kommission das Ziel einer Stärkung der politischen Legitimität beider Institutionen, deren Wahl jeweils unmittelbarer mit der Entscheidung der Wähler verknüpft werden soll. Um dies zu fördern, sollen die europäischen politischen Parteien Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren. Eine Änderung der europarechtlichen Grundlagen wird jedoch nicht angestrebt. Auch bleibt unklar, wie das politische Anliegen, die demokratische Willensbildung auf europäischer Ebene zu stärken, im Rahmen des geltenden Unionsrechts mit Relevanz für die hier zu entscheidende Frage umgesetzt werden soll. Die damit verbundenen Fragen können jedoch dahin stehen. Es ist nämlich bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht konkret absehbar, dass die angestoßene politische Entwicklung ohne eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht zu einer Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments führen könnte.
Strukturelle Beeinträchtigung der Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung nicht belegbar
Derzeit lässt sich nicht einmal abschätzen, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen die in der Entschließung vom 22. November 2012 zum Ausdruck gebrachte Position sich gegenüber den Vertretern der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat wird durchsetzen lassen. Auch der Umfang damit möglicherweise einhergehender Veränderungen im politischen Prozess innerhalb des Europäischen Parlaments in der kommenden Wahlperiode bleibt spekulativ. Soweit die Drei-Prozent-Sperrklausel danach mit der Erwägung gerechtfertigt werden sollte, der beabsichtigte „Demokratisierungsschub“ dürfe nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass von Deutschland aus eine Zersplitterung des Europäischen Parlaments in Kauf genommen werde, verfehlte dies nicht nur die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien. Es würde auch der Offenheit des politischen Prozesses nicht gerecht, der für die parlamentarische Debatte gerade im Hinblick auf mögliche Umstrukturierungen wesentlich ist und zu dem kleine Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können. Es ist auch nicht belegbar, dass die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung strukturell beeinträchtigt wird.
Bislang praktizierte flexible Mehrheitsbildung im Parlament muss durch Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nicht zwingen erschwert werden
Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament in Zukunft nicht mehr oder in signifikant geringerem Umfang stattfindet. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, ist jedoch ungewiss; denkbar sind jedenfalls auch Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments unbeeinträchtigt lassen. So kann es Gründe für die Annahme geben, dass die beiden großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen, auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen an einer Zusammenarbeit interessiert, wenn nicht sogar auf eine solche angewiesen sind. Darüber hinaus kann auch nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die bislang praktizierte flexible Mehrheitsbildung im Parlament durch die Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nennenswert erschwert würde. Möglich ist auch, dass etwaige deutlichere politische Gegensätze zwischen den einzelnen Fraktionen deren internen Zusammenhalt gerade erhöhen. Zudem ist offen, ob eine infolge stärkerer parteipolitischer Profilierung veränderte Wahrnehmung des Europäischen Parlaments nicht Wähler mehr als bislang zu strategischem Wahlverhalten veranlassen und dies einer Zunahme der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien entgegenwirken würde.
Die in der mündlichen Verhandlung genannte Zahl von künftig möglicherweise 80 kooperationsunwilligen Abgeordneten lässt sich angesichts derartiger Ungewissheiten nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Ohnehin bezogen sich die betreffenden Äußerungen nicht auf die Zahl der zu erwartenden fraktionslosen Abgeordneten kleiner Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten, sondern auf Abgeordnete bestimmter unionskritischer Parteien, die voraussichtlich nicht an einer Sperrklausel scheitern werden.
Auswirkungen einer denkbaren Wahl von Abgeordneten aus im Wettbewerb stehenden Parteien müssen beobachtet werden
Im Hinblick auf die Integrationskraft der Fraktionen ist schließlich nicht ersichtlich, dass in der kommenden Wahlperiode neu gewählte Abgeordnete kleinerer Parteien von vornherein keine Aufnahme in einer der etablierten Fraktionen oder in einer neu gegründeten weiteren Fraktion finden könnten. Es wird allerdings zu beobachten sein, wie sich eine denkbare Wahl von Abgeordneten weiterer, in der deutschen Parteienlandschaft im Wettbewerb stehender Parteien auswirken wird. Gesicherte Einschätzungen sind derzeit auch diesbezüglich nicht möglich. Sich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen kann der Gesetzgeber Rechnung tragen.
Auch mit der Drei-Prozent-Sperrklausel verbundener Eingriff in Wahlrechtsgleichheit bedarf einer Rechtfertigung
Die Drei-Prozent-Sperrklausel greift zwar weniger intensiv in die Wahlrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien ein als die frühere Fünf-Prozent-Sperrklausel. Daraus folgt jedoch nicht, dass der auch mit der Drei-Prozent-Sperrklausel verbundene Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vernachlässigbar wäre und keiner Rechtfertigung bedürfte. Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden, so dass die Sperrklausel praktische Wirksamkeit entfaltet. Da eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht gegenwärtig bereits nicht erforderlich ist, es also an der Rechtfertigung bereits dem Grunde nach fehlt, kommt es auf Fragen der Angemessenheit der Drei-Prozent-Klausel nicht an.
Abweichende Meinung des Richters Müller:
Nach meiner Überzeugung stellt der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments und trägt damit dem Auftrag des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Wahlrechts unzureichend Rechnung. Die Bewertung des Korridors zwischen der rein theoretischen Möglichkeit und dem sicheren Eintritt einer Funktionsbeeinträchtigung ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Es ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen. Im Ergebnis führt die Entscheidung des Senats zur Hinnahme des Risikos einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments jedenfalls für die Dauer einer Legislaturperiode. Dass dies verfassungsrechtlich geboten ist, vermag ich nicht zu erkennen.
Die Entscheidung des Senats hat die Unzulässigkeit jeglicher Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments zur Folge. Die verfassungsrechtliche Bewertung von § 2 Abs. 7 EuWG hat daher von der Frage auszugehen, ob bei einem unionsweiten Verzicht auf Sperrklauseln von einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments auszugehen ist. Die Prognose des Gesetzgebers, dass eine weitere Zersplitterung des Europäischen Parlaments zur Verhinderung der Bildung notwendiger Mehrheiten führen kann, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Ihre Plausibilität bleibt nicht hinter der Plausibilität vergleichbarer Prognosen, die auf nationale Parlamente bezogen sind, zurück. Inwieweit die Integrationskraft der bestehenden Fraktionen einer weiteren Zersplitterung des Parlaments entgegenwirken könnte, ist ebenso wenig absehbar wie die Bildung neuer Fraktionen. Soweit auf eine Zusammenarbeit der großen Fraktionen verwiesen wird, steht dem bereits entgegen, dass der Fortbestand ihrer absoluten Mehrheit nicht gewährleistet ist. Daher durfte der Gesetzgeber bei seiner Prognoseentscheidung diese Umstände außer Betracht lassen.
Die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments ist hinreichend gewichtig, um einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien zu rechtfertigen. Das Europäische Parlament ist ein Parlament eigener Art. Die Unterschiede in Aufgabenstellung und Funktion zum Deutschen Bundestag sind (noch) erheblich, rechtfertigen jedoch eine grundlegend andere Gewichtung der Bedeutung der Sicherung seiner Funktionsfähigkeit nicht.
Durchgreifende Zweifel, dass § 2 Abs. 7 EuWG den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit hinreichend Rechnung trägt, habe ich nicht. Unter Berücksichtigung des Befundes, dass mit Ausnahme Spaniens in allen Mitgliedstaaten das Erreichen eines Stimmenanteils von mindestens 3 % Voraussetzung der Zuteilung eines Mandats bei der Wahl zum Europäischen Parlaments ist, ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber eine Sperrklausel in dieser Höhe als zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments geeignet angesehen hat. Der Erforderlichkeit des Eingriffs kann auch die Möglichkeit einer Korrektur des Europawahlrechts durch den nationalen Gesetzgeber, die ihre Wirkung erst für die nachfolgende Wahlperiode entfalten könnte, nicht entgegengehalten werden. Stattdessen wäre der Gesetzgeber verpflichtet, § 2 Abs. 7 EuWG zu ändern, sollte sich nachträglich die Fehlerhaftigkeit seiner Prognose herausstellen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 26.02.2014
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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