21.11.2024
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Dokument-Nr. 17760

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Urteil26.02.2014Bundesverfassungsgericht2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, 2 BvE 9/13, 2 BvE 10/13, 2 BvE 12/13, 2 BvR 2220/13, 2 BvR 2221/13, 2 BvR 2238/13
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2014, 1431Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 1431
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.02.2014

Bundes­verfassungs­gericht kippt Drei-Prozent-Hürde im EuropawahlrechtDrei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht ist unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen verfas­sungs­widrig

Die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht ist verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen ist der mit der Sperrklausel verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahl­rechts­gleichheit und Chancen­gleichheit nicht zu rechtfertigen. Eine abweichende verfassungs­rechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Künftige Entwicklungen kann der Gesetzgeber dann maßgeblich berücksichtigen, wenn sie aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren sind.

Die Organ­streit­ver­fahren und Verfas­sungs­be­schwerden wenden sich gegen § 2 Abs. 7 des Europa­wahl­ge­setzes (EuWG), der für die Wahl zum Europäischen Parlament eine Drei-Prozent-Sperrklausel vorsieht. Diese Regelung wurde durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Europa­wahl­ge­setzes vom 7. Oktober 2013 (BGBl I S. 3749) eingefügt. Im europäischen Recht verlangt der sogenannte Direktwahlakt, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments in jedem Mitgliedstaat nach dem Verhält­nis­wahl­system gewählt werden. Das Wahlverfahren bestimmt sich - vorbehaltlich der sonstigen Vorschriften des Direktwahlaktes - in jedem Mitgliedstaat nach den inner­staat­lichen Vorschriften. Die bei der Europawahl 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht mit Urteil vom 9. November 2011 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG und daher nichtig erklärt.

Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verstößt gegen Grundsätze der Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit der Parteien

Die Anträge in den Organ­streit­ver­fahren, soweit sie zulässig sind, und die Verfas­sungs­be­schwerden hatten vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht Erfolg. Die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verstößt unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG).

Abgesenkte Mindestschwelle stellt keine inhaltsgleiche Normwie­der­holung dar

Es kann hier dahingestellt bleiben, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber nach Nichti­g­er­klärung einer Norm eine solche inhaltsgleich erneut erlassen kann, denn die abgesenkte Mindestschwelle stellt bereits keine inhaltsgleiche Normwie­der­holung dar. Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Organtreue liegt nicht vor; der Gesetzgeber hat die Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zur Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht bewusst missachtet, sondern gerade in Ausein­an­der­setzung mit dem Urteil vom 9. November 2011 gehandelt.

Direktwahlakt eröffnet keine Möglichkeit zur Festlegung einer Sperrklausel

Der Direktwahlakt gibt einen Gestal­tungs­rahmen für den Erlass nationaler Wahlrechts­vor­schriften vor, die selbst aber den verfas­sungs­recht­lichen Bindungen des jeweiligen Mitgliedstaates unterliegen. Dass die im Direktwahlakt eröffnete Möglichkeit, eine Sperrklausel von bis zu 5 % der abgegebenen Stimmen festzulegen, zugleich deren verfas­sungs­rechtliche Zulässigkeit nach dem jeweiligen mitglied­s­taat­lichen Recht impliziert, lässt sich dem Direktwahlakt weder nach seinem Wortlaut noch durch Auslegung entnehmen.

Die dem Urteil vom 9. November 2011 zugrunde liegenden Maßstäbe beanspruchen Geltung auch im vorliegenden Verfahren.

Stimme jedes Wahlbe­rech­tigten muss gleichen Zählwert und gleiche rechtliche Erfolgschance haben

Der Grundsatz der Wahlrechts­gleichheit, der sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt, sichert die vom Demokra­tie­prinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Stimme eines jeden Wahlbe­rech­tigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Bei der Verhältniswahl verlangt dieser Grundsatz darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss, denn Ziel des Verhält­nis­wahl­systems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind.

Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden.

Enger Zusammenhang zwischen Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit der Parteien

Zwischen Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit der Parteien besteht ein enger Zusammenhang. Die verfas­sungs­rechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen folgt den gleichen Maßstäben. Beide Grundsätze unterliegen keinem absoluten Diffe­ren­zie­rungs­verbot; allerdings folgt aus ihrem formalen Charakter, dass dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt. Diffe­ren­zie­rungen im Wahlrecht können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechts­gleichheit die Waage halten kann. Hierzu zählt insbesondere die Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der zu wählenden Volksvertretung.

Maßgeblich sind die aktuellen Verhältnisse. Der Gesetzgeber ist zwar nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige Entwicklungen zu berücksichtigen. Maßgebliches Gewicht kann diesen jedoch nur dann zukommen, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren ist.

Vorsorglich statuierte Sperrklausel bringt schwerwiegenden Eingriff in Wahlrechts­gleichheit in unver­hält­nis­mäßiger Weise mit sich

Im vorliegenden Verfahren kann offenbleiben, inwieweit dem Ansatz des Deutschen Bundestages zu folgen ist, dass Sperrklauseln bereits unter Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Funkti­o­ns­fä­higkeit gerechtfertigt sind. Dies kann allenfalls für Volks­ver­tre­tungen gelten, bei denen eine Schwächung der Funkti­o­ns­fä­higkeit gleichbedeutend sein kann mit einer entsprechenden Schwächung der Fähigkeit, hierauf mit einer Korrektur des Wahlrechts zu reagieren. Denn bezogen auf das Europäische Parlament sind Korrekturen durch den nationalen Wahlrechts­ge­setzgeber möglich. Mit einer rein vorsorglich statuierten Sperrklausel würde der schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechts­gleichheit in unver­hält­nis­mäßiger Weise vorverlagert.

Für Ausgestaltung des Wahlrechts gilt strikte verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle

Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer strikten verfas­sungs­ge­richt­lichen Kontrolle. Dies folgt aus der generellen Erwägung, dass die parla­men­ta­rische Mehrheit mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlge­setz­gebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parla­ments­mehrheit sich statt von gemein­wohl­be­zogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt. Aus diesem Grunde kann die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle auch nicht durch Zubilligung von weitgehend frei ausfüllbaren Progno­se­spiel­räumen zurückgenommen werden.

Drei-Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Hinblick auf politische und institutionelle Entwicklungen

Nach diesen Maßstäben ist die Drei-Prozent-Sperrklausel (§ 2 Abs. 7 EuWG) mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Senat hat im Urteil vom 9. November 2011 festgestellt, dass die bei der Europawahl 2009 gegebenen und fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse keine hinreichenden Gründe bieten, die den mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit der politischen Parteien rechtfertigen. Eine maßgebliche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse ist seither nicht eingetreten. Die Drei-Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Hinblick auf zu erwartende politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funkti­o­ns­be­din­gungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode.

Drohende Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Europäischen Parlaments ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel nicht ersichtlich

Der Gesetzgeber geht zutreffend davon aus, dass eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene unter Umständen dann eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht rechtfertigen kann, wenn in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die denen auf nationaler Ebene vergleichbar sind, wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungs­fähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist. Eine dahingehende Entwicklung des Europäischen Parlaments wird zwar politisch angestrebt, steckt indes noch in den Anfängen. Tatsächliche Auswirkungen auf die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments sind derzeit nicht abzusehen, so dass für die Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel eine Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt.

Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Europäischen Parlaments ohne Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht nicht absehbar

Das Europäische Parlament verfolgt ausweislich seiner Entschließung vom 22. November 2012 im Einverständnis mit der derzeitigen Kommission das Ziel einer Stärkung der politischen Legitimität beider Institutionen, deren Wahl jeweils unmittelbarer mit der Entscheidung der Wähler verknüpft werden soll. Um dies zu fördern, sollen die europäischen politischen Parteien Kandidaten für das Amt des Kommis­si­ons­prä­si­denten nominieren. Eine Änderung der europa­recht­lichen Grundlagen wird jedoch nicht angestrebt. Auch bleibt unklar, wie das politische Anliegen, die demokratische Willensbildung auf europäischer Ebene zu stärken, im Rahmen des geltenden Unionsrechts mit Relevanz für die hier zu entscheidende Frage umgesetzt werden soll. Die damit verbundenen Fragen können jedoch dahin stehen. Es ist nämlich bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht konkret absehbar, dass die angestoßene politische Entwicklung ohne eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht zu einer Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Europäischen Parlaments führen könnte.

Strukturelle Beein­träch­tigung der Mehrheits­bildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung nicht belegbar

Derzeit lässt sich nicht einmal abschätzen, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen die in der Entschließung vom 22. November 2012 zum Ausdruck gebrachte Position sich gegenüber den Vertretern der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat wird durchsetzen lassen. Auch der Umfang damit möglicherweise einhergehender Veränderungen im politischen Prozess innerhalb des Europäischen Parlaments in der kommenden Wahlperiode bleibt spekulativ. Soweit die Drei-Prozent-Sperrklausel danach mit der Erwägung gerechtfertigt werden sollte, der beabsichtigte „Demokra­ti­sie­rungsschub“ dürfe nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass von Deutschland aus eine Zersplitterung des Europäischen Parlaments in Kauf genommen werde, verfehlte dies nicht nur die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die Wahlrechts­gleichheit und die Chancen­gleichheit der politischen Parteien. Es würde auch der Offenheit des politischen Prozesses nicht gerecht, der für die parla­men­ta­rische Debatte gerade im Hinblick auf mögliche Umstruk­tu­rie­rungen wesentlich ist und zu dem kleine Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können. Es ist auch nicht belegbar, dass die Mehrheits­bildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung strukturell beeinträchtigt wird.

Bislang praktizierte flexible Mehrheits­bildung im Parlament muss durch Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nicht zwingen erschwert werden

Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament in Zukunft nicht mehr oder in signifikant geringerem Umfang stattfindet. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, ist jedoch ungewiss; denkbar sind jedenfalls auch Entwicklungen, die die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments unbeein­trächtigt lassen. So kann es Gründe für die Annahme geben, dass die beiden großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen, auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen an einer Zusammenarbeit interessiert, wenn nicht sogar auf eine solche angewiesen sind. Darüber hinaus kann auch nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die bislang praktizierte flexible Mehrheits­bildung im Parlament durch die Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nennenswert erschwert würde. Möglich ist auch, dass etwaige deutlichere politische Gegensätze zwischen den einzelnen Fraktionen deren internen Zusammenhalt gerade erhöhen. Zudem ist offen, ob eine infolge stärkerer partei­po­li­tischer Profilierung veränderte Wahrnehmung des Europäischen Parlaments nicht Wähler mehr als bislang zu strategischem Wahlverhalten veranlassen und dies einer Zunahme der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien entgegenwirken würde.

Die in der mündlichen Verhandlung genannte Zahl von künftig möglicherweise 80 koope­ra­ti­o­ns­un­willigen Abgeordneten lässt sich angesichts derartiger Ungewissheiten nicht mit der notwendigen Wahrschein­lichkeit prognostizieren. Ohnehin bezogen sich die betreffenden Äußerungen nicht auf die Zahl der zu erwartenden fraktionslosen Abgeordneten kleiner Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten, sondern auf Abgeordnete bestimmter unions­kri­tischer Parteien, die voraussichtlich nicht an einer Sperrklausel scheitern werden.

Auswirkungen einer denkbaren Wahl von Abgeordneten aus im Wettbewerb stehenden Parteien müssen beobachtet werden

Im Hinblick auf die Integra­ti­o­nskraft der Fraktionen ist schließlich nicht ersichtlich, dass in der kommenden Wahlperiode neu gewählte Abgeordnete kleinerer Parteien von vornherein keine Aufnahme in einer der etablierten Fraktionen oder in einer neu gegründeten weiteren Fraktion finden könnten. Es wird allerdings zu beobachten sein, wie sich eine denkbare Wahl von Abgeordneten weiterer, in der deutschen Partei­en­land­schaft im Wettbewerb stehender Parteien auswirken wird. Gesicherte Einschätzungen sind derzeit auch diesbezüglich nicht möglich. Sich etwa konkret abzeichnenden Fehlent­wick­lungen kann der Gesetzgeber Rechnung tragen.

Auch mit der Drei-Prozent-Sperrklausel verbundener Eingriff in Wahlrechts­gleichheit bedarf einer Rechtfertigung

Die Drei-Prozent-Sperrklausel greift zwar weniger intensiv in die Wahlrechts­gleichheit und in die Chancen­gleichheit der Parteien ein als die frühere Fünf-Prozent-Sperrklausel. Daraus folgt jedoch nicht, dass der auch mit der Drei-Prozent-Sperrklausel verbundene Eingriff in die Wahlrechts­gleichheit vernach­läs­sigbar wäre und keiner Rechtfertigung bedürfte. Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden, so dass die Sperrklausel praktische Wirksamkeit entfaltet. Da eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht gegenwärtig bereits nicht erforderlich ist, es also an der Rechtfertigung bereits dem Grunde nach fehlt, kommt es auf Fragen der Angemessenheit der Drei-Prozent-Klausel nicht an.

Abweichende Meinung des Richters Müller:

Nach meiner Überzeugung stellt der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung einer Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments und trägt damit dem Auftrag des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Wahlrechts unzureichend Rechnung. Die Bewertung des Korridors zwischen der rein theoretischen Möglichkeit und dem sicheren Eintritt einer Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Es ist nicht Sache des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen. Im Ergebnis führt die Entscheidung des Senats zur Hinnahme des Risikos einer Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments jedenfalls für die Dauer einer Legis­la­tur­periode. Dass dies verfas­sungs­rechtlich geboten ist, vermag ich nicht zu erkennen.

Die Entscheidung des Senats hat die Unzulässigkeit jeglicher Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments zur Folge. Die verfas­sungs­rechtliche Bewertung von § 2 Abs. 7 EuWG hat daher von der Frage auszugehen, ob bei einem unionsweiten Verzicht auf Sperrklauseln von einer Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments auszugehen ist. Die Prognose des Gesetzgebers, dass eine weitere Zersplitterung des Europäischen Parlaments zur Verhinderung der Bildung notwendiger Mehrheiten führen kann, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Ihre Plausibilität bleibt nicht hinter der Plausibilität vergleichbarer Prognosen, die auf nationale Parlamente bezogen sind, zurück. Inwieweit die Integra­ti­o­nskraft der bestehenden Fraktionen einer weiteren Zersplitterung des Parlaments entgegenwirken könnte, ist ebenso wenig absehbar wie die Bildung neuer Fraktionen. Soweit auf eine Zusammenarbeit der großen Fraktionen verwiesen wird, steht dem bereits entgegen, dass der Fortbestand ihrer absoluten Mehrheit nicht gewährleistet ist. Daher durfte der Gesetzgeber bei seiner Progno­se­ent­scheidung diese Umstände außer Betracht lassen.

Die Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments ist hinreichend gewichtig, um einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancen­gleichheit der Parteien zu rechtfertigen. Das Europäische Parlament ist ein Parlament eigener Art. Die Unterschiede in Aufga­ben­stellung und Funktion zum Deutschen Bundestag sind (noch) erheblich, rechtfertigen jedoch eine grundlegend andere Gewichtung der Bedeutung der Sicherung seiner Funkti­o­ns­fä­higkeit nicht.

Durchgreifende Zweifel, dass § 2 Abs. 7 EuWG den Grundsätzen der Geeignetheit und Erfor­der­lichkeit hinreichend Rechnung trägt, habe ich nicht. Unter Berück­sich­tigung des Befundes, dass mit Ausnahme Spaniens in allen Mitgliedstaaten das Erreichen eines Stimmenanteils von mindestens 3 % Voraussetzung der Zuteilung eines Mandats bei der Wahl zum Europäischen Parlaments ist, ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber eine Sperrklausel in dieser Höhe als zur Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments geeignet angesehen hat. Der Erfor­der­lichkeit des Eingriffs kann auch die Möglichkeit einer Korrektur des Europa­wahl­rechts durch den nationalen Gesetzgeber, die ihre Wirkung erst für die nachfolgende Wahlperiode entfalten könnte, nicht entge­gen­ge­halten werden. Stattdessen wäre der Gesetzgeber verpflichtet, § 2 Abs. 7 EuWG zu ändern, sollte sich nachträglich die Fehler­haf­tigkeit seiner Prognose herausstellen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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