24.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.12.2007

BVerfG zu den Anforderungen für die Verurteilung auf Abdruck einer Gegen­dar­stellung bei mehrdeutigen ÄußerungenErfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde des Nachrich­ten­ma­gazins "Der Spiegel"

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat das Recht Betroffener zu einer Gegen­dar­stellung gegen nach ihrer Meinung ungünstige Medienberichte bei mehrdeutigen Äußerungen eingeschränkt und die Pressefreiheit damit gestärkt. Wer eine Äußerung macht, die mehrdeutig verstanden werden kann, muss sich nicht jede denkbare Inter­pre­ta­ti­o­ns­mög­lichkeit entgegenhalten lassen.

Die Beschwer­de­führerin veröffentlichte im Jahr 2004 in ihrer Wochen­zeit­schrift (hier: DER SPIEGEL) einen Artikel über eine zivil­ge­richtliche Verurteilung einer Privatperson zur Rückzahlung von Entschä­di­gungs­zah­lungen in Höhe von 35,7 Mio. €. Diese habe nach Auffassung des Gerichts zu Unrecht Leistungen für ein angeblich in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren gegangenes Aktienvermögen erlangt.

Die von dem Artikel Betroffene erwirkte vor den Zivilgerichten den Abdruck einer Gegendarstellung. Das Oberlan­des­gericht hat dies auf die Erwägung gestützt, dass der Artikel zwar nicht zwingend die Eindrücke erwecke, gegen die sich die Betroffene mit ihrer Gegen­dar­stellung wende. Derjenige, der eine Äußerung aufstelle oder verbreite, müsse sich aber dann, wenn diese in unter­schied­lichem Sinne aufgefasst werden könne, im Rahmen von Gegen­dar­stel­lungs­ansprüchen grundsätzlich jede vertretbare, jedenfalls nicht fern liegende Inter­pre­ta­ti­o­ns­mög­lichkeit, also auch jeden nicht fern liegenden Eindruck entgegenhalten lassen. Auf die Verfassungsbeschwerde der Verlegerin hin hob die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die angegriffenen Entscheidungen auf, da sie die Beschwer­de­führerin in ihrer Pressefreiheit verletzen. Die Sache wurde an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die durch die Gegen­dar­stellung beanstandeten Tatsa­chen­be­haup­tungen waren in der Erstmitteilung nicht offen ausgesprochen worden, sondern waren nach Auffassung der Gerichte in ihr verdeckt erfolgt. Zeigt sich, dass ein erheblicher Teil eines unvor­ein­ge­nommenen und verständigen Publikums der Äußerung neben den offenen auch verdeckte, zu den offenen Aussagen abweichende Inhalte entnimmt, so ist bei der weiteren Prüfung auch von diesen Inhalten auszugehen. Ist - wie hier - nicht eindeutig, ob hinter der offenen Aussage auch eine verdeckte steht, ist darüber zu entscheiden, nach welchen Grundsätzen sich die Behandlung solcher mehrdeutiger Äußerungen im Hinblick auf Gegen­dar­stel­lungs­ansprüche richtet.

Die rechtliche Behandlung mehrdeutiger Äußerungen kann nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts je nach dem Typ des jeweils erhobenen Anspruchs zu unter­schied­lichen Maßstäben führen:

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht geht bei der Überprüfung eines Strafurteils oder von zivil­recht­lichen Verurteilungen zum Schadensersatz, zur Entschädigung oder zur Berichtigung von dem Grundsatz aus, dass die Meinungsfreiheit verletzt wird, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zu einer Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher mit nachvoll­ziehbaren Gründen Deutungen ausgeschlossen zu haben, welche die Sanktion nicht zu rechtfertigen vermögen. Müsste der Äußernde befürchten, wegen einer erfolgten Meinung­s­äu­ßerung verurteilt zu werden, obgleich Formulierung und Umstände der Äußerung auch eine nicht zur Verurteilung führende Deutung zulassen, könnte dies zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung führen und es könnten Einschüch­te­rungs­effekte eintreten, die dem Grundrecht der Kommu­ni­ka­ti­o­ns­freiheit zuwiderliefen.

Im Hinblick auf Ansprüche auf Unterlassung zukünftiger Äußerungen geht das Bundes­ver­fas­sungs­gericht (vgl. Verfas­sungs­be­schwerde des ehemaligen branden­bur­gischen Minis­ter­prä­si­denten gegen Bezeichnung als Stasi-Mitarbeiter erfolgreich) allerdings davon aus, dass verfas­sungs­rechtlich erhebliche Einschüch­te­rungs­effekte für den sich Äußernden durch Maßnahmen des Persön­lich­keits­schutzes nicht ausgelöst werden, soweit der Äußernde die Möglichkeit hat, die Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts eines anderen ohne übermäßige Belastungen für sich durch eigenes Tun abzuwehren. Bei mehrdeutigen Äußerungen kann dies durch Klarstellung ihres Inhalts geschehen. Soweit eine nunmehr eindeutige Aussage keine Rechts­ver­letzung bewirkt, entfällt ein Unter­las­sungs­an­spruch. Die Gerichte sind in den angegriffenen Entscheidungen davon ausgegangen, dass diese für Unter­las­sungs­ansprüche geltenden Grundsätze auf das Recht der Gegen­dar­stellung anwendbar sind. Das aber hat die Kammer verneint.

Auch bei der Klärung, ob wegen einer mehrdeutigen Aussage ein Anspruch auf Gegen­dar­stellung besteht, ist das Ziel maßgebend, Einschüch­te­rungs­effekte für den Äußernden nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Erreichung dieses Ziels lässt sich nicht hinreichend sichern, wenn die für Unter­las­sungs­ansprüche geltenden Grundsätze für den Umgang mit mehrdeutigen Äußerungen auf Erstmit­tei­lungen angewandt werden, gegen die sich Gegen­dar­stel­lungen richten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Presse nur in seltenen Ausnahmefällen eine Möglichkeit hat, die Veröf­fent­lichung einer Entgegnung des Betroffenen durch Angabe einer Klarstellung oder Berichtigung der Äußerung abzuwehren. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass der Abdruck einer Gegen­dar­stellung einen nur schwer ausgleichbaren Imageschaden für das zum Abdruck verpflichtete Presse­un­ter­nehmen bewirken kann. Die bei einer Verurteilung zum Abdruck der Gegen­dar­stellung offen bleibenden Fragen der Wahrheit und Rechtmäßigkeit einer Berich­t­er­stattung vermag die Leserschaft regelmäßig nicht selbst zu klären. Der Abdruck einer Gegen­dar­stellung kann bei den Lesern deshalb Zweifel und Misstrauen auch gegenüber einer wahrheits­gemäßen und rechtlich nicht zu beanstandenden Berich­t­er­stattung wecken, die sich nachträglich kaum mehr beseitigen lassen. Solche Nachteile müssen zwar in beschränktem Umfang um des Schutzes des von einer Berich­t­er­stattung nachteilig Betroffenen Willen hingenommen werden, der einer Presseäußerung regelmäßig nicht mit Aussicht auf gleiche publizistische Wirkung entgegentreten kann. Die Hinnahme solcher Nachteile stößt aber auf verfas­sungs­rechtliche Bedenken, wenn dem gewichtige gegenläufige Belange des Schutzes der Pressefreiheit entgegenstehen.

Viele Sachverhalte lassen sich auf dem beschränkten Raum, der für einen Pressebericht meist nur zur Verfügung stehe, nicht derart vollständig darstellen, dass unter­schiedliche Eindrücke der Leserschaft ausgeschlossen werden. Auch können die veröf­fent­lichten Recher­che­er­gebnisse noch nicht vollständig sein, dürfen aber dennoch schon der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, so dass Raum für Mutmaßungen bleibt, welche weiteren Details mit dem Berichteten zusammen hängen. Werden solche Rahmen­be­din­gungen pressemäßiger Arbeit bei der Ausgestaltung des Rechts der Gegen­dar­stellung nicht hinreichend berücksichtigt, könnte die Presse mit Gegen­dar­stel­lungs­ansprüchen überhäuft und in der Folge zu einer starken Zurückhaltung in ihrer Berich­t­er­stattung veranlasst sein. Diese würde dem Ziel widersprechen, auf ein hohes Maß an Informiertheit der Öffentlichkeit durch die Presse hinzuwirken.

Eine Verurteilung zur Gegen­dar­stellung darf daher nicht schon dann ermöglicht werden, wenn eine "nicht fern liegende Deutung" bei der Ermittlung einer verdeckten Aussage einen gegen­dar­stel­lungs­fähigen Inhalt ergibt, wie die Fachgerichte vorliegend aber angenommen haben. Verfas­sungs­rechtlich unbedenklich wäre es demgegenüber, würden die Gerichte den auch sonst bei verdeckten Äußerungen angewandten Maßstab zugrunde legen, ob sich eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Aussage dem Leser als unabweisbare Schluss­fol­gerung aufdrängen muss.

Unter Anwendung dieser Grundsätze entspricht das Vorgehen der Fachgerichte vorliegend nicht den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben, wenn sie die Äußerungen mit solchen Inhalten als gegen­dar­stel­lungsfähig ansehen, die sie als "nicht fern liegende Deutung" oder gar als "nicht fern liegenden Eindruck" verstehen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 05/08 des BVerfG vom 22.01.2008

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