18.10.2024
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Dokument-Nr. 1286

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Beschluss25.10.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 1696/98
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • AfP 2005, 544Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP), Jahrgang: 2005, Seite: 544
  • BVerfGE 114, 339Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 114, Seite: 339
  • JuS 2006, 639Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2006, Seite: 639
  • MDR 2006, 212Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2006, Seite: 212
  • NJW 2006, 207Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2006, Seite: 207
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss25.10.2005

Verfas­sungs­be­schwerde des ehemaligen branden­bur­gischen Minis­ter­prä­si­denten gegen Bezeichnung als Stasi-Mitarbeiter erfolgreichStolpe darf nicht mehr Stasi-Mitarbeiter genannt werden

Die Verfas­sungs­be­schwerde des vormaligen Konsis­to­ri­a­l­prä­si­denten der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und ehemaligen Minis­ter­prä­si­denten des Landes Brandenburg, der von einem CDU-Politiker zukünftig die Unterlassung der Behauptung verlangte, er sei als Stasi- Mitarbeiter tätig gewesen, war erfolgreich.

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob das – klageabweisende – Urteil des Bundes­ge­richtshofs auf, weil es den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht verletze. Die dem Beschwer­de­führer nachteilige Äußerung sei nicht durch das Grundrecht auf Meinungs­freiheit gedeckt. Die Sache wurde an den Bundes­ge­richtshof zurückverwiesen.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer unterhielt in seiner Eigenschaft als Vertreter der Kirche von 1969 bis 1989 Kontakte zum Ministerium für Staats­si­cherheit. Im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg äußerte der seinerzeitige stell­ver­tretende Frakti­o­ns­vor­sitzende der CDU im Berliner Abgeord­ne­tenhaus in einer Fernsehsendung, der Beschwer­de­führer habe als „IM-Sekretär“ über 20 Jahre im Dienste der Staats­si­cherheit gestanden. Die Klage des Beschwer­de­führers gegen den CDU-Politiker auf zukünftige Unterlassung dieser Äußerungen wurde in letzter Instanz vom Bundes­ge­richtshof abgewiesen. Dabei ist das Gericht von einem mehrdeutigen Inhalt der Äußerung ausgegangen. Der Hinweis auf eine Tätigkeit „im Dienst“ des Staats­si­cher­heits­dienstes schließe nicht zwingend die Behauptung ein, der Beschwer­de­führer habe auf Grund einer Verpflich­tungs­er­klärung im Auftrag des Staats­si­cher­heits­dienstes gearbeitet. Die Äußerung könne vielmehr auch so verstanden werden, dass der Beschwer­de­führer dem Staats­si­cher­heits­dienst Dienste geleistet habe, in dem er diesem im Rahmen seiner zu ihm bestehenden Kontakte Informationen geliefert habe. Die erforderliche Güterabwägung ergebe, dass das Interesse an der Äußerung überwiege, zumal sich der Beschwer­de­führer aus eigenem Entschluss ins Rampenlicht einer öffentlichen Diskussion gestellt habe.

Die gegen die Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Der Bundes­ge­richtshof hat seiner Entscheidung die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Überprüfung von gerichtlich verhängten straf- und zivil­recht­lichen Sanktionen wegen in der Vergangenheit erfolgter mehrdeutiger Meinung­s­äu­ße­rungen entwickelten Maßstäbe zu Grunde gelegt, ohne zu berücksichtigen, dass sie auf Ansprüche auf Unterlassung zukünftiger Äußerungen nicht in gleicher Weise anwendbar sind.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht geht bei der Überprüfung von straf- oder zivil­recht­lichen Sanktionen wegen in der Vergangenheit erfolgter Meinung­s­äu­ße­rungen von dem Grundsatz aus, dass die Meinungs­freiheit verletzt wird, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zu einer Verurteilung führende Bedeutung zu Grunde legt, ohne vorher mit schlüssigen Gründen Deutungen ausgeschlossen zu haben, welche die Sanktion nicht zu rechtfertigen vermögen. Lassen Formulierungen oder die Umstände der Äußerung eine nicht das Persön­lich­keitsrecht verletzende Deutung zu, so verstößt eine straf- oder zivilrechtliche Sanktion gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (Meinungs­freiheit). Müsste der Äußernde befürchten, wegen einer Deutung, die den gemeinten Sinn verfehlt, mit staatlichen Sanktionen belegt zu werden, würden über die Beein­träch­tigung der individuellen Meinungs­freiheit hinaus negative Auswirkungen auf die generelle Ausübung des Grundrechts der Meinungs­freiheit eintreten.

Ein gleicher Schutzbedarf für die individuelle Grund­rechts­ausübung und die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Meinungs­bil­dungs­pro­zesses besteht indessen nicht bei gerichtlichen Entscheidungen über die Unterlassung zukünftiger Äußerungen. Hier ist zu berücksichtigen, dass der Äußernde die Möglichkeit hat, sich in der Zukunft eindeutig auszudrücken und damit zugleich klar zu stellen, welcher Äußerungsinhalt der rechtlichen Prüfung zu Grunde zu legen ist. Verletzt eine mehrdeutige Meinung­s­äu­ßerung das Persön­lich­keitsrecht eines anderen, scheidet daher ein Anspruch auf zukünftige Unterlassung nicht allein deshalb aus, weil die Äußerung auch eine Deutungs­va­riante zulässt, die zu keiner oder nur einer geringeren Persön­lich­keits­ver­letzung führt. Dem hat der Bundes­ge­richtshof nicht ausreichend Rechnung getragen. Er hätte seiner Prüfung die das Persön­lich­keitsrecht stärker verletzende Deutungs­va­riante zu Grunde legen müssen.

2. Auch die vom Bundes­ge­richtshof vorgenommene Abwägung widerspricht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Die Aussage, der Beschwer­de­führer habe als „IM-Sekretär“ im Dienste des Staats­si­cher­heits­dienstes gestanden ist – wie auch der Bundes­ge­richthof feststellt – eine schwerwiegende Persön­lich­keits­ver­letzung. Bei der Verbreitung von Tatsa­chen­be­haup­tungen, deren Wahrheitsgehalt nicht endgültig festgestellt werden kann, kann zwar auch eine möglicherweise unwahre Behauptung nicht untersagt werden, soweit der Äußernde vor der Aufstellung und Verbreitung seiner Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt hat. Liegt ein schwerwiegender Eingriff in das Persön­lich­keitsrecht vor, sind aber hohe Anforderungen an die Erfüllung der Sorgfalts­pflicht zu stellen.

Diesen Anforderungen des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts ist der Bundes­ge­richtshof bei der Bemessung des Umfangs der Wahrheits- und Sorgfalts­pflicht nicht gerecht geworden. Die Art der Tätigkeit des Beschwer­de­führers im Kontakt mit dem Staats­si­cher­heits­dienst war selbst für die vom Bundes­ge­richtshof gefundene weniger eingriff­sin­tensive Deutungs­va­riante streitig. Die auch von öffentlichen Stellen verbreiteten Aussagen hierzu waren ebenso wie die Medien­be­rich­t­er­stattung kontrovers. Von dem Äußernden ist daher im Interesse des Persön­lich­keits­schutzes des Betroffenen zu verlangen, dass er dann, wenn er sich eine bestimmte, das Persön­lich­keitsrecht verletzende Sicht auf bekannte Tatsachen zu eigen macht, zum Ausdruck bringt, dass diese Sicht umstritten und der Sachverhalt nicht wirklich aufgeklärt ist. Es führt nicht zu einer Überspannung der Wahrheits­pflicht, wenn der Äußernde bei einer künftigen Meinung­s­äu­ßerung offen legen muss, dass eine gesicherte Tatsa­chen­grundlage für die von ihm aufgestellte Tatsa­chen­be­hauptung fehlt.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht (pm)

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