18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.09.2015

Strafverfahren mit hohem Medieninteresse: Verweigerte Zusendung einer anonymisierten Urteilskopie an Zeitungsverlag verletzt Grundrecht auf PressefreiheitErfolgreiche Verfassungs­beschwerde auf Zusendung einer Urteilskopie

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde eines Zeitungverlags gegen eine Entscheidung des Thüringer Ober­verwaltungs­gerichts stattgegeben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Das Ober­verwaltungs­gericht hatte es im Eil­rechts­schutz­verfahren abgelehnt, einen Land­gerichts­präsidenten zur Zusendung einer anonymisierten Urteilskopie über ein von hohem Medieninteresse begleitetes Strafverfahren zu verpflichten. Die Entscheidung des Ober­verwaltungs­gerichts verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Die vom Ober­verwaltungs­gericht angeführten Gründe lassen eine Gefährdung des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens oder weiterer Strafverfahren nicht erkennen.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens, eine Zeitungs-Verlagsgruppe, begehrte im Eilrechts­schutz­ver­fahren die Übersendung einer anonymisierten Urteilskopie über ein Strafverfahren vor dem Landgericht gegen den ehemaligen Innenminister des Freistaates T. und Beigeordneten der Stadt E. (nachfolgend: der Beigeladene). Diesen hatte das Landgericht wegen Vorteilsannahme in zwei Fällen und Abgeord­ne­ten­be­stechung zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt. Die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen weiteren Beschuldigten stellte das Landgericht bis zur Revisi­ons­ent­scheidung des Bundes­ge­richtshofs zurück.

OVG lehnt Antrag auf Auskunft­s­er­teilung ab

Das Verwal­tungs­gericht hat den Präsidenten des Landgerichts antragsgemäß verpflichtet, der Beschwer­de­führerin Auskunft über die schriftlichen Urteilsgründe durch Übersendung einer anonymisierten Kopie des vollständigen Urteils zu erteilen. Auf die Beschwerde des Beigeladenen änderte das Oberver­wal­tungs­gericht mit angefochtenem Beschluss die Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts ab und lehnte den Antrag der Beschwer­de­führerin auf Auskunft­s­er­teilung ab. Hiergegen richtet sich die Verfas­sungs­be­schwerde.

BVerfG bejaht Verletzung der Pressefreiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 und 2 des Thüringer Pressegesetzes (ThürPrG) durch das Oberver­wal­tungs­gericht die Beschwer­de­führerin in ihrer Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

Auskunfts­pflichtigen Stellen steht grundsätzlich Ermes­sens­spielraum bei Frage nach Art und Umfang der Auskunft zu

Im Ausgangspunkt hat das Oberver­wal­tungs­gericht die Vorschrift allerdings in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend ausgelegt, dass den auskunfts­pflichtigen Stellen - auch unter Berück­sich­tigung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG - grundsätzlich ein Ermes­sens­spielraum bei der Frage nach Art und Umfang der Auskunft zusteht. In keinem der Landes­pres­se­gesetze - so auch nicht in Thüringen - wird der Inhalt des presse­recht­lichen Auskunfts­an­spruchs näher präzisiert. Den Behörden wird ein Ermes­sens­spielraum zugestanden, der sich lediglich im Einzelfall zu einem Anspruch auf Akteneinsicht verdichten soll. Bei der Bestimmung der konkreten Tragweite des Auskunfts­an­spruchs im Einzelfall ist eine Abwägung der wider­strei­tenden Interessen vorzunehmen. Das danach maßgebliche öffentliche Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse ist anhand des Gegenstands des Auskunft­s­er­suchens und damit der beabsichtigten Berich­t­er­stattung zu bestimmen. Im Grundsatz besteht jedoch kein Anspruch auf Akteneinsicht.

Besonderheiten für Auskunft über Gericht­s­ent­schei­dungen nicht ausreichend beachtet

Für die Auskunft über Gericht­s­ent­schei­dungen gelten jedoch Besonderheiten, die das Oberver­wal­tungs­gericht nicht hinreichend beachtet hat. Es ist weithin anerkannt, dass aus dem Rechts­s­taatsgebot einschließlich der Justi­z­ge­wäh­rungs­pflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung grundsätzlich eine Rechtspflicht zur Publikation veröf­fent­li­chungs­würdiger Gericht­s­ent­schei­dungen folgt. Diese Veröf­fent­li­chungs­pflicht erstreckt sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern kann bereits vor Rechtskraft greifen. Sie bezieht sich auf die Entscheidungen als solche in ihrem amtlichen Wortlaut. Hiermit korrespondiert ein presse­recht­licher Auskunfts­an­spruch von Medien­ver­tretern.

Persönliche Angaben in Gericht­s­ent­scheidung sind zu anonymisieren

Der Zugang zu Gericht­s­ent­schei­dungen ist allerdings nicht unbegrenzt. So sind die Entscheidungen etwa hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände in der Regel zu anonymisieren. Unberührt von der grundsätzlichen Zugänglichkeit von Gericht­s­ent­schei­dungen bleiben auch die allgemeinen gesetzlichen wie verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an den weiteren Umgang der Medien mit den Entscheidungen. Die Sorgfalts­pflichten der Medien können jedoch nicht schon generell zum Maßstab für das Zugäng­lich­machen der gerichtlichen Entscheidungen seitens der Gerichts­ver­waltung gemacht werden.

Anhaltspunkte für Gefahr einer Vereitelung, Erschwerung oder Verzögerung des Strafverfahrens durch Herausgabe der Urteils­ab­schrift nicht ersichtlich

Wieweit die Beein­träch­tigung des weiteren oder anderer Gerichts­ver­fahren der Zugäng­lich­machung von Gericht­s­ent­schei­dungen Grenzen setzen kann und Entscheidungen deshalb auch als Ganze zurückgehalten werden können, kann hier offenbleiben. Denn jedenfalls tragen die in dem angegriffenen Beschluss angeführten Gründe eine Zurückhaltung der in Frage stehenden Entscheidungen nicht. Er verweist ohne nähere Darlegungen auf eine bloß mögliche Gefährdung des noch nicht rechtskräftigen Verfahrens des Beigeladenen sowie weiterer Strafverfahren, namentlich auf die potentielle Beein­träch­tigung von Zeugen. Dies genügt zur Ablehnung eines auf Herausgabe der Urteils­ab­schrift gerichteten Auskunfts­an­spruchs nicht. Jedenfalls angesichts des Umstands, dass es sich bei dem Beigeladenen um eine Person des öffentlichen Lebens handelt und es um strafrechtliche Vorwürfe mit öffentlichem Bezug geht, können die begehrten Entscheidungen allenfalls dann vollständig unter Verschluss gehalten werden, wenn konkrete Anhaltspunkte die Gefahr einer Vereitelung, Erschwerung, Verzögerung oder Gefährdung der sachgemäßen Durchführung eines Strafverfahrens im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 1 ThürPrG unmittelbar und dringend nahelegen. Solche Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich. Auch drängt sich in keiner Weise auf, dass die Beschwer­de­führerin ihr obliegende Sorgfalts­pflichten und die Rechte Dritter nicht respektieren wird.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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