18.10.2024
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Dokument-Nr. 29048

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.06.2020

BVerfG: Arbeitgeber dürfen keine Leiha­r­beits­kräfte als Streikbrecher einsetzenVerfassungs­beschwerde gegen Verbot des Einsatzes von Streikbrechern erfolglos

Das Bundes­verfas­sungs­ge­richts hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich unmittelbar gegen § 11 Abs. 5 des Arbeitnehmer­überlassungs­gesetzes richtete. Die Vorschrift enthält das bußgeldbewehrte Verbot, Leiha­r­beits­kräfte auf bestreikten Arbeitsplätzen einzusetzen, wenn der Entlei­her­betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist, also den Einsatz als Streikbrecher. Die Kammer entschied, nachdem sie dazu Stellungnahmen eingeholt hatte, dass die Regelung die Beschwer­de­führerin nicht in ihren Grundrechten verletzt.

Die Beschwer­de­führerin wendet sich als Arbeitgeberin in der Unter­hal­tungs­in­dustrie gegen das 2017 eingeführte Streik­bre­cher­verbot in § 11 Abs. 5 Arbeit­neh­mer­über­las­sungs­gesetz (AÜG). Hiernach darf der Entleiher Leiha­r­beits­kräfte nicht auf bestreikten Arbeitsplätzen tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Die Beschwer­de­führerin sieht sich durch das Verbot insbesondere in der Wahl der Mittel eines Arbeitskampfes eingeschränkt und verletze dadurch ihre Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG.

BVerfG: Grund­rechts­ver­letzung weder dargelegt noch ersichtlich

Nach Auffassung des BVerfG ist die Verfas­sungs­be­schwerde teilweise unzulässig. Das gilt, soweit sie sich auch gegen das Leistungs­ver­wei­ge­rungsrecht von Leiha­r­beits­kräften nach § 11 Abs. 5 Satz 3 und 4 AÜG wendet, da diese Regeln schon weit über ein Jahr gelten und damit die Frist zur Einlegung einer Verfas­sungs­be­schwerde gegen sie verstrichen ist. Es gilt auch für die Rüge der Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG, da die Möglichkeit einer Grund­rechts­ver­letzung insoweit weder dargelegt noch ersichtlich ist. Auf eine Verletzung der aus Art. 12 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechte der Leiha­r­beits­kräfte kann sich die Beschwer­de­führerin als Arbeitgeberin ohnehin nicht berufen.

BVerfG hat zwei Fragen nicht beantwortet

Das BVerfG hat offengelassen, ob die Beschwer­de­führerin als nicht tarifgebundene Arbeitgeberin in den persönlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fällt und ob der Einsatz von Leiha­r­beits­kräften als Streikbrecher überhaupt als Mittel im Arbeitskampf geschützt wird. Jedenfalls ist die angegriffene Regelung mit den sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen vereinbar. Das Grundrecht der Koali­ti­o­ns­freiheit ist zwar vorbehaltlos gewährleistet, aber wie jedes Grundrecht zugunsten anderer Ziele mit Verfassungsrang durch den Gesetzgeber beschränkbar. Die Ausübung der Koali­ti­o­ns­freiheit durch beide Tarifparteien erfordert sogar koordinierende gesetzliche Regelungen, welche die wider­strei­tenden Grund­rechts­po­si­tionen in Ausgleich bringen. Dabei hat der Gesetzgeber einen weiten Handlungs­spielraum. Grundsätzlich ist es den Tarif­ver­trags­parteien selbst überlassen, ihre Kampfmittel den sich wandelnden Umständen anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen. Der Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers findet insofern seine Grenzen am objektiven Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Funkti­o­ns­fä­higkeit der Tarifautonomie darf nicht gefährdet werden, was nur gilt, solange zwischen den Tarif­ver­trags­parteien ein ungefähres Kräfte­gleich­gewicht Parität besteht. Der Gesetzgeber ist aber nicht verpflichtet, Disparitäten auszugleichen, die nicht strukturell bedingt sind, sondern auf inneren Schwächen einer Koalition beruhen.

Angegriffene Regelungen verletzen weder die Koali­ti­o­ns­freiheit noch sind sie unver­hält­nismäßig

Danach verletzt die angegriffene Regelung nicht die Koali­ti­o­ns­freiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Die hier angegriffene Regelung ist vom Entschei­dungs­spielraum des Gesetzgebers gedeckt. Die Regelung ist insbesondere auch im engeren Sinne verhältnismäßig. Das zeigt die gebotene Abwägung aller Belange unter Berück­sich­tigung der Belastungen. Diese sind zwar gewichtig. Die Arbeitgeber werden in ihrer Entscheidung beschränkt, Leiha­r­beits­kräfte einzusetzen, um sich gegen einen Streik zu wehren. Doch verbietet die Vorschrift nicht den generellen Einsatz von Leiha­r­beits­kräften im Betrieb, sondern nur den unmittelbaren oder mittelbaren Einsatz als Streikbrecher.

Ziele des Gesetzgebers rechtfertigen Grund­rechts­be­schrän­kungen

Der Gesetzgeber verfolgt damit Ziele von so erheblichem Gewicht, dass sie grundsätzlich geeignet sind, auch gewichtige Grund­rechts­be­schrän­kungen zu rechtfertigen. Das gilt für das Ziel, auch Leiha­r­beits­kräften ein sozial angemessenes Arbeits­ver­hältnis zu sichern, wie auch für das Ziel, die Funkti­o­ns­fä­higkeit der grundrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie zu sichern, weil die Arbeit­neh­mer­über­lassung in gesteigertem Maße im Arbeitskampf eingesetzt worden sei und dies die Kräfte erheblich zulasten der Gewerkschaften verschiebt. Damit zielt die Regelung auf die grundlegende Parität der Tarif­ver­trags­parteien ab. Die Gewerkschaften verfügen entgegen der Auffassung der Beschwer­de­führerin auch nicht bereits über stärkere Kampfmittel. Gerade sie sind auf ein ausgewogenes Kräfte­ver­hältnis im Arbeitskampf angewiesen, um ihre Positionen auf Augenhöhe zu verhandeln. Damit verletzt der Gesetzgeber auch nicht die staatliche Pflicht zur Neutralität. Es ist ihm gerade nicht verwehrt, die Rahmen­be­din­gungen im Tarif­ver­tragsrecht zu ändern, um Parität wieder­her­zu­stellen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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