21.11.2024
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Dokument-Nr. 32088

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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.07.2022

Verfassungs­beschwerden gegen die Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen Masern erfolglosMasern-Impfpflicht für Kinder ist mit dem Grundgesetz vereinbar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat mehrere Verfassungs­beschwerden zurückgewiesen, die sich gegen Vorschriften des Infektions­schutzg­esetzes (IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie über die bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Folgen richten, wie etwa das Verbot, Kinder in bestimmten Einrichtungen zu betreuen. Die Zurückweisung erfolgt allerdings mit der Maßgabe einer verfassungs­konformen Auslegung, die an die zur Durchführung der Masernimpfung im Inland verfügbaren Impfstoffe anknüpft. Stehen - wie derzeit in Deutschland - ausschließlich Kombinations­impfstoffe zur Verfügung, ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfas­sungs­konform so zu verstehen, dass die Pflicht, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, nur dann gilt, wenn es sich um Kombinations­impfstoffe handelt, die keine weiteren Impfstoff­komponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken.

Die Beschwer­de­füh­renden sind jeweils gemeinsam sorge­be­rechtigte Eltern sowie ihre minderjährigen Kinder, die kommunale Kinder­ta­gess­tätten besuchen oder von einer Tagesmutter mit Erlaubnis zur Kinder­ta­gespflege nach § 43 Achtes Buch Sozial­ge­setzbuch (SGB VIII) betreut werden sollten. Sie wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmungen des Infek­ti­o­ns­schutz­ge­setzes, die eine solche Betreuung lediglich dann gestatten, wenn die betroffenen Kinder gegen Masern geimpft sind und diese Impfung auch nachgewiesen wird. Die angegriffenen Vorschriften berühren sowohl das die Gesund­heitssorge für ihre Kinder umfassende Grundrecht der beschwer­de­füh­renden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) als auch und vor allem das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht der beschwer­de­füh­renden Kinder auf körperliche Unversehrtheit. Beide Grund­rechts­po­si­tionen sind hier in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Sowohl die Eingriffe in das Elternrecht als auch die in die körperliche Unversehrtheit sind unter Berück­sich­tigung der verfas­sungs­kon­formen Auslegung verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Ohne Verstoß gegen Verfas­sungsrecht hat der Gesetzgeber dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwer­de­füh­renden Kinder und Eltern eingeräumt. 2. Die minderjährigen Beschwer­de­füh­renden sind nicht gegen Masern geimpft und verfügen über keine Immunität. Medizinische Kontra­in­di­ka­tionen zu einer Masernimpfung bestehen bei ihnen nicht. Die Verfas­sungs­be­schwerden richten sich jeweils gegen die gesetzlichen Vorschriften des Infek­ti­o­ns­schutz­ge­setzes (§ 20 Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 und 6, Abs. 12 Satz 1 und 3, Abs. 13 Satz 1 IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreu­ungs­verbot in bestimmten Einrichtungen. Die Beschwer­de­füh­renden sehen in der Pflicht zur Herbeiführung und zum Nachweis der Masernimpfung unter anderem unver­hält­nis­mäßige Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der minderjährigen Beschwer­de­füh­renden, insbesondere wegen der Pflicht, sich nicht nur gegen Masern impfen zu lassen, sondern aufgrund der Nicht­ver­füg­barkeit von Monoimpfstoffen auch gegen andere Krankheiten. Zugleich werde in unver­hält­nis­mäßiger Weise in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eingegriffen.

Grund­recht­s­ein­griffe unter Berück­sich­tigung der verfas­sungs­kon­formen Auslegung verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt

Die Eingriffe sowohl in das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder sind verfas­sungs­rechtlich allein bei verfas­sungs­kon­former Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt. Dann genügen sie den Anforderungen des Grundsatzes des Geset­zes­vor­behalts und sind im verfas­sungs­recht­lichen Sinn verhältnismäßig. Die angegriffenen Regelungen genügen den aus dem Grundsatz des Geset­zes­vor­behalts folgenden Anforderungen nur bei verfas­sungs­kon­former Auslegung. Wäre § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG so zu verstehen, dass die Norm auch gilt, wenn nur Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoff­kom­po­nenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten, verstieße sie gegen den Grundsatz des Geset­zes­vor­behalts. § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann jedoch verfassungskonform so auslegt werden, dass die daraus resultierende Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung bei ausschließ­licher Verfügbarkeit von Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoff­kom­po­nenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfa­ch­impf­stoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masern­schutz­ge­setzes getroffenen grund­recht­lichen Wertungen. Mit diesem Verständnis werden die Grenzen verfas­sungs­kon­former Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoff­kom­po­nenten in einem Mehrfa­ch­impfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfas­sungs­konforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfa­ch­impf­stoff­kom­bi­na­tionen wird jedoch dem Gesetz weder ein entge­gen­ge­setzter Sinn verliehen noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt oder das gesetz­ge­be­rische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt. Die angegriffenen Regelungen sind in dieser verfas­sungs­kon­formen Auslegung auch verhältnismäßig. Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreu­ungs­verbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) einen verfas­sungs­rechtlich legitimen Zweck, nämlich den Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung. Gleiches gilt für die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Die Annahme des Gesetzgebers, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Maser­n­er­krankung zu schützen vermögen, beruht auf zuverlässigen Grundlagen und hält auch der strengen verfas­sungs­recht­lichen Prüfung stand. Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grund­recht­s­ein­griffe engen Einschät­zungs­spielraums konnte der Gesetzgeber in Einklang mit dem Verfas­sungsrecht von einer Gefahrenlage durch eine Maser­n­er­krankung für verletzliche Personen ausgehen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können. Die auf Gemeinschafts- und Gesund­heits­ein­rich­tungen bezogene Auf- und Nachweispflicht ist ebenso wie das bei ausbleibendem Nachweis geltende Betreu­ungs­verbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet, die mit dem Masern­schutz­gesetz verfolgten Zwecke zu erreichen. Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamt­be­völ­kerung zu erhöhen als auch dazu, diese in solchen Gemein­schaft­s­ein­rich­tungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben.

Masern-Impfpflicht zum Schutz des Einzelnen als auch der Bevölkerung im verfas­sungs­recht­lichen Sinne erforderlich

Die Pflichten, bei Betreuung in bestimmten Gemein­schaft­s­ein­rich­tungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreu­ungs­verbot sind sowohl zum Schutz des Einzelnen als auch zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfas­sungs­recht­lichen Sinne erforderlich. Unter Berück­sich­tigung des dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschät­zungs­spielraums ist nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung standen. Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemein­schafts­schutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen hat. Dafür konnte er sich auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen. Die beanstandeten Vorschriften über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreu­ungs­verbot erweisen sich auch als angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinn. Trotz des nicht unerheblichen Gewichts der mittelbaren Eingriffe in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und in das der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG werden diese jeweils nicht unzumutbar im Hinblick auf den Schutz von Leben und Gesundheit durch eine Maser­n­er­krankung gefährdeter Personen belastet. Die angegriffenen Vorschriften greifen mit nicht unerheblichem Gewicht zielgerichtet mittelbar sowohl in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder ein. Die Eingriffe erfolgen dabei in unter­schied­licher Weise und mit verschiedenem Gewicht. Das Eingriffs­gewicht in das Grundrecht der beschwer­de­füh­renden Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG korrespondiert mit dem des Eingriffs in das auf die Gesund­heitssorge bezogene Elternrecht. Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften den Schutz eines überragend gewichtigen Rechtsguts, der hier auch dringlich ist. Die angegriffenen Vorschriften dienen dem Schutz vor einer Maser­n­er­krankung. Demnach ist insoweit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen, wobei es um den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen geht, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können. Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kommt ein hohes Gewicht zu. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesund­heits­ge­fähr­dungen umfasst. Angesichts der sehr hohen Anste­ckungs­gefahr bei Masern und den mit einer Maser­n­er­krankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter. Die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kinder­ta­gess­tätten und in der Kinder­ta­gespflege steigen, beruht auf tragfähigen Grundlagen und ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Ohne Verstoß gegen Verfas­sungsrecht hat der Gesetzgeber mit den angegriffenen Auf- und Nachweis­pflichten sowie den bei deren Ausbleiben eintretenden Folgen dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwer­de­füh­renden Kinder und Eltern eingeräumt. Die damit verbundenen nicht unerheblichen Grund­recht­s­ein­griffe sind ihnen zugunsten des Gesund­heits­schutzes vor den Gefahren einer Maserninfektion von verletzlichen Personen und damit einem Gemein­wohl­belang von hohem Rang derzeit zuzumuten.

Maßnahmen zur Vermeidung oder Reduzierung von Maser­n­in­fek­tionen nicht zu beanstanden

Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber für die von ihm geförderte (früh)kindliche Betreuung (§ 24 Abs. 1 bis 3 SGB VIII) mit den angegriffenen Regelungen Maßnahmen ergriffen hat, die Maser­n­in­fek­tionen von Kindern vermeiden oder zumindest deutlich reduzieren sollen. Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass in den hier gegen­ständ­lichen Gemein­schaft­s­ein­rich­tungen zur Kinderbetreuung nach den statistisch belegten Impfquoten in den dort betreuten Altersgruppen keine zum Gemein­schafts­schutz ausreichenden Quoten bestehen. Zugleich haben die betreuten Kinder typischerweise Kontakte zu besonders schutzwürdigen Personen, die eine hohe alter­ss­pe­zi­fische Inzidenz für Masern sowie eine gesteigerte Wahrschein­lichkeit aufweisen, im Falle einer Maser­n­in­fi­zierung Komplikationen auszubilden, sich aber wegen einer Kontra­in­di­kation nicht selbst wirksam durch eine Impfung schützen können (zum Beispiel Kinder im ersten Lebensjahr, Schwangere). Mit der Bindung der Auf- und Nachweispflicht einer Masernimpfung an die Betreuung in Gemein­schaft­s­ein­rich­tungen im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG hat der Gesetzgeber die Reichweite der angegriffenen Regelungen gegenständlich begrenzt. Dementsprechend führt das Ausbleiben des in § 20 Abs. 8 und 9 IfSG geforderten Auf- und Nachweises der Masernimpfung auch nicht zum Ausschluss jeglicher frühkindlichen oder vorschulischen Förderung außerhalb der Familie. Die anderweitige Betreuung von Kindern in den betroffenen Alterskohorten bleibt auch famili­en­über­greifend jedenfalls im selbst­or­ga­ni­sierten privaten Bereich zulässig.

Gesetzgeber durfte Schutz vor Maserninfektion gefährdeter Menschen Vorrang einräumen

Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Maser­n­er­krankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertra­gungs­fä­higkeit und Anste­ckungs­gefahr sowie das nicht zu vernach­läs­sigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis) zu erleiden. Demgegenüber treten bei einer Impfung nahezu immer nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahr­scheinlich. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krank­heits­fällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwer­de­füh­renden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grund­recht­s­träger. Es ist verfas­sungs­rechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesund­heit­lichen Sicherheit des Kindes. Dem Indivi­du­al­schutz durch die Impfung zugunsten der Kinder kommt auch in der Abwägung der Interessen durch eine Maserninfektion zumindest in ihrer Gesundheit gefährdeter Personen einerseits mit dem Elternrecht andererseits Bedeutung zu. Da auch das die Gesund­heitssorge betreffende Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kindes­wohlo­ri­entiert auszuüben und die Vornahme empfohlener Impfungen der Gesundheit des Kindes dienlich ist, kommt dem Eingriff in das Elternrecht insoweit kein besonders hohes Gewicht zu. Eine Abwägung zugunsten der Gesundheit von Personen, die sich selbst nicht durch Impfung vor einer Maser­n­er­krankung schützen können und deshalb nur über eine Herdenimmunität geschützt werden können, ist daher verfas­sungs­rechtlich unbedenklich.

Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen zum Schutz vulnerabler Personen zumutbar

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorge­be­rech­tigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masern­impf­schutzes ausschließlich Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffe zur Verfügung stehen. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Dennoch überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfa­ch­impf­stoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfa­ch­impf­stoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindes­wohl­dienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infek­ti­o­ns­risiko besteht noch entsprechende schwere Krank­heits­verläufe eintreten können. Dem steht die Dringlichkeit des Gesund­heits­schutzes derjenigen Personen gegenüber, die sich nicht durch Impfung schützen können, mittels Gemein­schafts­schutz. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 Prozent, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemein­schaft­s­ein­rich­tungen betreut werden. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz vulnerabler Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombi­na­ti­o­ns­impf­stoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Die angegriffenen Vorschriften des Infek­ti­o­ns­schutz­ge­setzes über die Auf- und Nachweispflicht sowie das Betreu­ungs­verbot in Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG bei ausbleibendem Nachweis verletzen die beschwer­de­füh­renden Kinder auch nicht in ihrem Recht auf Gleich­be­handlung aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die von den beschwer­de­füh­renden Kindern als gleich­heits­widrig gerügten Diffe­ren­zie­rungen sind durch Sachgründe gerechtfertigt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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