23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.01.2011

Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr: Kürzung der Erwer­bs­min­de­rungs­renten verfas­sungsgemäßRegelung dient Gemeinwohlzweck und ist daher verhältnismäßig

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass die Kürzung der Erwer­bs­min­de­rungs­renten auch bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr verfas­sungsgemäß ist.

Der Monatsbetrag einer Rente wird nach einer Rentenformel berechnet, die in einem ihrer Rechenschritte die Multiplikation aller in einem Versi­cher­tenleben erworbenen Entgeltpunkte mit dem so genannten Zugangsfaktor vorsieht.

Maximale Kürzung des Renten­mo­nats­betrag Vollendung des 60. Lebensjahres liegt bei 10,8 %

Bis zum 31. Dezember 2000 betrug der Zugangsfaktor bei Erwer­bs­min­de­rungs­renten 1,. Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwer­bs­fä­higkeit vom 20. Dezember 2000 wurde der Zugangsfaktor gekürzt. Gemäß der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI wird der Zugangsfaktor von 1, für jeden Monat, in dem die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um ,003 verringert. Bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres bleibt für die Bestimmung des Zugangsfaktors allerdings die Vollendung des 60. Lebensjahres maßgebend, d. h. der davor liegende Zeitraum der Rente­n­i­n­an­spruchnahme führt nicht zu einer weiteren Kürzung. Die Einschränkung stellt somit sicher, dass auch bei einem Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Renten­mo­nats­betrag höchstens um 10,8 % gekürzt wird.

Anerkennung der Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr soll Wirkung der Rentenkürzung mildern

Um die Wirkung dieser Rentenkürzung zu mildern, hat der Gesetzgeber gleichzeitig die Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr voll anerkannt, während diese bis zum 31. Dezember 2000 nur zu einem Drittel berücksichtigt wurde. Zurechnungszeit ist die Zeit, die bei einer Erwer­bs­min­de­rungsrente hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Es werden zusätzliche Entgeltpunkte bei der Renten­be­rechnung berücksichtigt, um eine ausreichende Rente auch im Falle vorzeitiger Invalidität zu gewährleisten. Zudem wurden Überg­angs­vor­schriften geschaffen, die eine schrittweise Einführung der neuen Rechtslage vorsahen, so dass die volle Absenkung des Zugangsfaktors erst für Versicherte mit Rentenbeginn ab dem 1. Dezember 2003 eintrat.

Beschwer­de­führer rügen Verletzung des Grundrechts auf Eigentum sowie Verletzung des Benach­tei­li­gungs­verbotes

Den Beschwer­de­führern wurde wegen teilweiser bzw. voller Erwer­bs­min­derung eine Rente bewilligt. Da der Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 3588/08 bei Rentenbeginn im Jahre 2005 erst 51 Jahre alt war, wurde der Zugangsfaktor nach der Neuregelung entsprechend gekürzt, so dass sich – unter Berück­sich­tigung der geänderten Zurechnungszeit – seine Rente um ca. 3,18 % minderte. Dies entspricht einer monatlichen Kürzung um etwa 15 Euro. Im Fall der Beschwer­de­führerin im Verfahren 1 BvR 555/09, die zum Zeitpunkt des Rentenbeginns im Juli 2002 57 Jahre alt war, betrug die Kürzung der Rente aufgrund der Neuregelung im Ergebnis ca. 3,88 %, mithin etwa 16 Euro monatlich. Wegen des Rentenbeginns vor dem 1. Januar 2004 wurde auf ihre Rente die Überg­angs­re­gelung angewandt. Die gegen die Rentenkürzung erhobenen Klagen der Beschwer­de­führer blieben letztlich vor dem Bundes­so­zi­al­gericht jeweils ohne Erfolg. Mit ihren Verfas­sungs­be­schwerden rügen sie eine Verletzung ihres Grundrechts auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG, des allgemeinen Gleich­heits­satzes (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie des Benach­tei­li­gungs­verbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

Keine Verletzung der Grundrechte

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerden zurückgewiesen. Die Beschwer­de­führer werden durch die angegriffenen Behörden- und Gericht­s­ent­schei­dungen sowie durch die Neuregelung des Zugangsfaktors in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI nicht in ihren Grundrechten verletzt.

Neuregelung des Zugangsfaktors dient legitimem Ziel der Sicherung von Finanzierungen der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn der Erwer­bs­min­de­rungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres durch § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI betrifft den Schutzbereich des Grundrechts auf Eigentum. Die Vorschrift bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums und greift hierbei zugleich in bestehende Rente­n­an­wart­schaften ein. Die Regelung ist jedoch verfassungsgemäß, weil sie einem Gemeinwohlzweck dient und verhältnismäßig ist. Die Neuregelung des Zugangsfaktors dient dem legitimen Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung zu sichern und damit die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Systems der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaft­lichen Bedingungen anzupassen. Nach Einführung der Abschläge bei vorzeitigem Bezug einer Altersrente durch das Renten­re­form­gesetz im Jahre 1992 ging der Gesetzgeber davon aus, dass Versicherte anstelle einer gekürzten Altersrente bevorzugt eine Erwer­bs­min­de­rungsrente beantragen würden. Mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwer­bs­min­de­rungs­renten sollte ein solches Ausweichen auf die Erwer­bs­min­de­rungsrente verhindert und auf die Inanspruchnahme der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf eine Verlängerung der Renten­be­zugszeit reagiert werden.

Kürzung des Zugangsfaktors zumutbar

Die Kürzung des Zugangsfaktors war geeignet sowie erforderlich, um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, und belastet die Beschwer­de­führer nicht übermäßig. Zwar hatten sie bei Inkrafttreten der Neuregelung noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet und damit eine Voraussetzung für den Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht erfüllt, so dass bei ihnen eine Ausweich­re­aktion von vorneherein ausscheidet. Aber auch den Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Erwer­bs­min­de­rungsrente beantragen, ist eine Kürzung des Zugangsfaktors zumutbar, weil sie von der vom Gesetzgeber gleichzeitig eingeführten erhöhten Zugangszeit und vom früheren Rentenbezug profitieren. Dadurch wird die Kürzung der Erwer­bs­min­de­rungsrente für diese Versi­cher­ten­gruppe im Ergebnis erheblich gemildert mit der Folge, dass die Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwer­bs­fä­higkeit mit erheblich geringeren Abschlägen belastet werden als Versicherte, die vorzeitig eine Altersrente in Anspruch nehmen.

Kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz

Des Weiteren ist auch dem Grundsatz des Vertrau­ens­schutzes durch die vom Gesetzgeber geschaffenen Überg­angs­re­ge­lungen hinreichend Rechnung getragen worden. Da sich die Inhalts- und Schran­ken­be­stimmung in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI als sachgerecht erweist, liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor. Der Umstand, dass der Zugang zur Erwer­bs­min­de­rungsrente – anders als die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente – eine schicksalhafte Entwicklung des Gesund­heits­zu­standes voraussetzt, ist dadurch hinreichend berücksichtigt, dass die Abschläge bei Erwer­bs­min­de­rungs­renten bei weitem nicht die bei Altersrenten mögliche Höhe erreichen und zudem noch durch die erhöhten Zurech­nungs­zeiten teilweise kompensiert werden.

Verstoß gegen Benach­tei­li­gungs­verbot ebenfalls nicht ersichtlich

Die Rüge der Beschwer­de­führer, sie würden gegenüber nicht­be­hin­derten Altersrentnern hinsichtlich der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtlich gleich behandelt, vermag schließlich auch keinen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu begründen. Zum einen ist der renten­rechtliche Behin­der­ten­begriff nicht identisch mit dem allgemeinen auf die Teilnahme am gesell­schaft­lichen Leben abstellenden Behin­der­ten­begriff, an dem sich Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG orientiert. Denn der Anspruch auf Erwer­bs­min­de­rungsrente stellt allein auf die Fähigkeiten des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt ab und lässt auch eine vorübergehende Krankheit ausreichen. Zum anderen ist die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI, soweit sie Behinderte im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG trifft, wegen der oben dargestellten Berück­sich­tigung der gesund­heits­be­dingten Unfähigkeit, zu arbeiten, im Vergleich zu sonstigen Erwer­bs­lo­sig­keiten noch gerechtfertigt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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