Dokument-Nr. 11154
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.01.2011
Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr: Kürzung der Erwerbsminderungsrenten verfassungsgemäßRegelung dient Gemeinwohlzweck und ist daher verhältnismäßig
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Kürzung der Erwerbsminderungsrenten auch bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr verfassungsgemäß ist.
Der Monatsbetrag einer Rente wird nach einer Rentenformel berechnet, die in einem ihrer Rechenschritte die Multiplikation aller in einem Versichertenleben erworbenen Entgeltpunkte mit dem so genannten Zugangsfaktor vorsieht.
Maximale Kürzung des Rentenmonatsbetrag Vollendung des 60. Lebensjahres liegt bei 10,8 %
Bis zum 31. Dezember 2000 betrug der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten 1,. Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 wurde der Zugangsfaktor gekürzt. Gemäß der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI wird der Zugangsfaktor von 1, für jeden Monat, in dem die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um ,003 verringert. Bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres bleibt für die Bestimmung des Zugangsfaktors allerdings die Vollendung des 60. Lebensjahres maßgebend, d. h. der davor liegende Zeitraum der Renteninanspruchnahme führt nicht zu einer weiteren Kürzung. Die Einschränkung stellt somit sicher, dass auch bei einem Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Rentenmonatsbetrag höchstens um 10,8 % gekürzt wird.
Anerkennung der Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr soll Wirkung der Rentenkürzung mildern
Um die Wirkung dieser Rentenkürzung zu mildern, hat der Gesetzgeber gleichzeitig die Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr voll anerkannt, während diese bis zum 31. Dezember 2000 nur zu einem Drittel berücksichtigt wurde. Zurechnungszeit ist die Zeit, die bei einer Erwerbsminderungsrente hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Es werden zusätzliche Entgeltpunkte bei der Rentenberechnung berücksichtigt, um eine ausreichende Rente auch im Falle vorzeitiger Invalidität zu gewährleisten. Zudem wurden Übergangsvorschriften geschaffen, die eine schrittweise Einführung der neuen Rechtslage vorsahen, so dass die volle Absenkung des Zugangsfaktors erst für Versicherte mit Rentenbeginn ab dem 1. Dezember 2003 eintrat.
Beschwerdeführer rügen Verletzung des Grundrechts auf Eigentum sowie Verletzung des Benachteiligungsverbotes
Den Beschwerdeführern wurde wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung eine Rente bewilligt. Da der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 3588/08 bei Rentenbeginn im Jahre 2005 erst 51 Jahre alt war, wurde der Zugangsfaktor nach der Neuregelung entsprechend gekürzt, so dass sich – unter Berücksichtigung der geänderten Zurechnungszeit – seine Rente um ca. 3,18 % minderte. Dies entspricht einer monatlichen Kürzung um etwa 15 Euro. Im Fall der Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 555/09, die zum Zeitpunkt des Rentenbeginns im Juli 2002 57 Jahre alt war, betrug die Kürzung der Rente aufgrund der Neuregelung im Ergebnis ca. 3,88 %, mithin etwa 16 Euro monatlich. Wegen des Rentenbeginns vor dem 1. Januar 2004 wurde auf ihre Rente die Übergangsregelung angewandt. Die gegen die Rentenkürzung erhobenen Klagen der Beschwerdeführer blieben letztlich vor dem Bundessozialgericht jeweils ohne Erfolg. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen sie eine Verletzung ihres Grundrechts auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG, des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie des Benachteiligungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.
Keine Verletzung der Grundrechte
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. Die Beschwerdeführer werden durch die angegriffenen Behörden- und Gerichtsentscheidungen sowie durch die Neuregelung des Zugangsfaktors in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI nicht in ihren Grundrechten verletzt.
Neuregelung des Zugangsfaktors dient legitimem Ziel der Sicherung von Finanzierungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn der Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres durch § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI betrifft den Schutzbereich des Grundrechts auf Eigentum. Die Vorschrift bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums und greift hierbei zugleich in bestehende Rentenanwartschaften ein. Die Regelung ist jedoch verfassungsgemäß, weil sie einem Gemeinwohlzweck dient und verhältnismäßig ist. Die Neuregelung des Zugangsfaktors dient dem legitimen Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Nach Einführung der Abschläge bei vorzeitigem Bezug einer Altersrente durch das Rentenreformgesetz im Jahre 1992 ging der Gesetzgeber davon aus, dass Versicherte anstelle einer gekürzten Altersrente bevorzugt eine Erwerbsminderungsrente beantragen würden. Mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten sollte ein solches Ausweichen auf die Erwerbsminderungsrente verhindert und auf die Inanspruchnahme der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf eine Verlängerung der Rentenbezugszeit reagiert werden.
Kürzung des Zugangsfaktors zumutbar
Die Kürzung des Zugangsfaktors war geeignet sowie erforderlich, um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, und belastet die Beschwerdeführer nicht übermäßig. Zwar hatten sie bei Inkrafttreten der Neuregelung noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet und damit eine Voraussetzung für den Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht erfüllt, so dass bei ihnen eine Ausweichreaktion von vorneherein ausscheidet. Aber auch den Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Erwerbsminderungsrente beantragen, ist eine Kürzung des Zugangsfaktors zumutbar, weil sie von der vom Gesetzgeber gleichzeitig eingeführten erhöhten Zugangszeit und vom früheren Rentenbezug profitieren. Dadurch wird die Kürzung der Erwerbsminderungsrente für diese Versichertengruppe im Ergebnis erheblich gemildert mit der Folge, dass die Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit erheblich geringeren Abschlägen belastet werden als Versicherte, die vorzeitig eine Altersrente in Anspruch nehmen.
Kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
Des Weiteren ist auch dem Grundsatz des Vertrauensschutzes durch die vom Gesetzgeber geschaffenen Übergangsregelungen hinreichend Rechnung getragen worden. Da sich die Inhalts- und Schrankenbestimmung in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI als sachgerecht erweist, liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor. Der Umstand, dass der Zugang zur Erwerbsminderungsrente – anders als die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente – eine schicksalhafte Entwicklung des Gesundheitszustandes voraussetzt, ist dadurch hinreichend berücksichtigt, dass die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten bei weitem nicht die bei Altersrenten mögliche Höhe erreichen und zudem noch durch die erhöhten Zurechnungszeiten teilweise kompensiert werden.
Verstoß gegen Benachteiligungsverbot ebenfalls nicht ersichtlich
Die Rüge der Beschwerdeführer, sie würden gegenüber nichtbehinderten Altersrentnern hinsichtlich der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtlich gleich behandelt, vermag schließlich auch keinen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu begründen. Zum einen ist der rentenrechtliche Behindertenbegriff nicht identisch mit dem allgemeinen auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellenden Behindertenbegriff, an dem sich Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG orientiert. Denn der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente stellt allein auf die Fähigkeiten des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt ab und lässt auch eine vorübergehende Krankheit ausreichen. Zum anderen ist die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI, soweit sie Behinderte im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG trifft, wegen der oben dargestellten Berücksichtigung der gesundheitsbedingten Unfähigkeit, zu arbeiten, im Vergleich zu sonstigen Erwerbslosigkeiten noch gerechtfertigt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 18.02.2011
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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