15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.07.2013

Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Erfor­der­lichkeit eines fachge­richt­lichen Anhörungs­rü­ge­ver­fahrensBeschwer­de­führer beanstanden Nichtzulassung der Berufung gegen verwal­tungs­ge­richt­liches Urteil

Zur Erschöpfung des Rechtswegs muss im Grundsatz kein Anhörungs­rü­ge­ver­fahren durchlaufen werden, wenn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zum Gegenstand der Verfas­sungs­be­schwerde gemacht wird. In Einzelfällen kann dies jedoch aus Subsi­dia­ri­täts­gründen erforderlich sein, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

In dem zugrunde liegenden Fall beanstandeten die Beschwer­de­führer mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Beschwer­de­führer insbesondere, dass das Oberver­wal­tungs­gericht ihren Antrag auf Zulassung der Berufung gegen ein verwal­tungs­ge­richt­liches Urteil abgelehnt hat. Sie hatten vor dem Verwal­tungs­gericht Klage gegen einen deich­recht­lichen Planfeststellungsbeschluss erhoben. Nach diesem soll auf einem ihrer Grundstücke - anstelle einer bestehenden Hochwas­ser­schutzmauer - ein sogenannter grüner Deich errichtet werden.

Keine Verletzung des Abwägungs­gebotes erkennbar

Das Verwal­tungs­gericht wies die Klage der Beschwer­de­führer weitgehend ab; eine Verletzung des Abwägungs­gebotes könnten sie nicht mit Erfolg geltend machen. Den Antrag der Beschwer­de­führer auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberver­wal­tungs­gericht ab. Zwar sei das Verwal­tungs­gericht offensichtlich irrig davon ausgegangen, das Grundstück der Beschwer­de­führer werde nicht dauerhaft, sondern nur während der Bauzeit im Umfang eines Arbeits­streifens in Anspruch genommen. Dies sei jedoch für die Ergeb­nis­rich­tigkeit des Urteils ohne Bedeutung, da die dauerhafte teilweise Inanspruchnahme dieses Grundstücks ordnungsgemäß in die planerische Abwägung eingestellt worden sei.

Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt

Der Beschluss des Oberver­wal­tungs­ge­richts verletzt die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Er wird aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen.

Verfas­sungs­be­schwerde trotz fehlender Anhörungsrüge möglich

Der Zulässigkeit der Verfas­sungs­be­schwerde steht nicht entgegen, dass die Beschwer­de­führer keine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Oberver­wal­tungs­ge­richts erhoben haben. Wird mit der Verfas­sungs­be­schwerde eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfas­sungs­be­schwerde im Regelfall abhängig ist. Wird die Rüge einer Gehörs­ver­letzung hingegen weder ausdrücklich noch der Sache nach zum Gegenstand der Verfas­sungs­be­schwerde gemacht oder wird die zunächst wirksam im Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren erhobene Rüge einer Gehörs­ver­letzung wieder zurück genommen, hängt die Zulässigkeit der Verfas­sungs­be­schwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechts­we­ger­schöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines fachge­richt­lichen Anhörungs­rü­ge­ver­fahrens ab.

Beschwer­de­führer: OVG hat Berufungs­zu­las­sungs­gründe verkannt

Vorliegend machen die Beschwer­de­führer mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde weder ausdrücklich noch der Sache nach eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend. Auch wenn einzelne Ausführungen - isoliert betrachtet - als Rügen einer Gehörs­ver­letzung gedeutet werden könnten, dienen sie im Zusammenhang der Verfas­sungs­be­schwerde dem Ziel zu begründen, dass das Oberver­wal­tungs­gericht unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Berufungs­zu­las­sungs­gründe verkannt habe.

Anhörungsrüge auch möglich, wenn sie sich in der Verfas­sungs­be­schwerde nicht auf Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen

Aufgrund der Subsidiarität der Verfas­sungs­be­schwerde können Beschwer­de­führer jedoch gehalten sein, im fachge­richt­lichen Verfahren eine Gehörs­ver­letzung mit einer Anhörungsrüge auch dann anzugreifen, wenn sie sich in der Verfas­sungs­be­schwerde nicht auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen. Dies gilt dann, wenn ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfah­rens­be­teiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren den Rechtsbehelf ergreifen würden.

Grundsatz der Subsidiarität nicht verletzt

Im vorliegenden Fall ist der Grundsatz der Subsidiarität der Verfas­sungs­be­schwerde nicht verletzt. Es gibt insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwer­de­führer lediglich eine Versäumung der Anhörungsrüge umgehen wollten.

OVG hat Gebot des effektiven Rechtsschutzes verletzt

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist begründet. Das Oberver­wal­tungs­gericht hat durch seine Handhabung des Zulas­sungs­grundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils den Zugang zur Berufungs­instanz in sachlich nicht zu recht­fer­ti­gender Weise verengt und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.

Falsche Annahmen über Festsetzungen im Planfest­stel­lungs­be­schluss

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwal­tungs­ge­richt­lichen Urteils sind immer schon dann begründet, wenn der Rechts­mit­tel­führer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsa­chen­fest­stellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt. Dies ist den Beschwer­de­führern gelungen. Sie haben aufgezeigt, dass das Verwal­tungs­gericht in einem wesentlichen Punkt von falschen Annahmen über die Festsetzungen im Planfest­stel­lungs­be­schluss ausgegangen ist.

OVG hat Urteil des VG für richtig befunden

Das Oberver­wal­tungs­gericht hat bereits im Berufungs­zu­las­sungs­ver­fahren eine eigene Prüfung der fachpla­ne­rischen Abwägungs­ent­scheidung vorgenommen und dabei das Urteil des Verwal­tungs­ge­richts im Ergebnis für richtig befunden. Dies geht über den eingeschränkten Zweck des Zulas­sungs­ver­fahrens hinaus, das den Beteiligten zudem - insbesondere mangels förmlichen Beweis­auf­nah­me­ver­fahrens - von vornherein weniger Einwir­kungs­mög­lich­keiten auf die Tatsa­chen­fest­stellung einräumt als das Haupt­sa­che­ver­fahren. Die Vorverlagerung der Sachprüfung in das Zulas­sungs­ver­fahren stellt einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dar.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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