21.11.2024
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Dokument-Nr. 4112

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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.03.2007

Einführung des Ethik­un­ter­richts in Berlin als Pflichtfach verfas­sungsgemäß

Der an Berliner Schulen eingeführte Ethikunterricht ist verfas­sungsgemäß. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Es nahm die Beschwerde einer Schülerin nicht zur Entscheidung an. Der verbindliche Ethikunterricht verletzt weder die Religi­o­ns­freiheit noch das Erziehungsrecht der Eltern.

Mit Wirkung für das Schuljahr 2006/2007 wurde im Land Berlin für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 der öffentlichen Schulen das Fach Ethik als ordentliches Lehrfach eingeführt. Grundlage hierfür ist eine neu gefasste Bestimmung des Schulgesetzes für das Land Berlin. Die Einführung des Lehrfachs erfolgte zunächst in der Jahrgangsstufe 7, in den Folgejahren wird der Unterricht auf jeweils eine weitere Jahrgangsstufe erstreckt. Der Ethikunterricht tritt als Pflichtfach ohne Abmel­demög­lichkeit neben den Religi­o­ns­un­terricht. Die Teilnahme am Religi­o­ns­un­terricht ist freiwillig.

Nachdem ihre Verfas­sungs­be­schwerde unmittelbar gegen das Schulgesetz als unzulässig abgewiesen worden war (BVerfG, Beschl. v. 14.07.2006 - 1 BvR 1017/06 -), beantragten die Beschwer­de­führer – eine 13- jährige Schülerin und ihre Eltern – unter Berufung auf religiöse Erwägungen und Gewis­sens­be­denken bei der Berliner Schulverwaltung die Befreiung des Mädchens von der Teilnahme am Ethikunterricht. Zugleich stellten sie beim Verwal­tungs­gericht den Eilantrag auf Freistellung vom Besuch des Unter­richtsfachs Ethik. Ihr Begehren blieb ohne Erfolg. Die nunmehr erneut erhobene Verfas­sungs­be­schwerde ist von der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts nicht zur Entscheidung angenommen worden, da die Einführung eines verbindlichen Ethik­un­ter­richts ohne Abmel­demög­lichkeit weder die Religionsfreiheit der Schülerin noch das Erziehungsrecht ihrer Eltern verletzen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Offenheit für eine Vielfalt von Meinungen und Auffassungen ist konstitutive Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich-demokratisch ausgestalteten Gemeinwesen. Der Landes­ge­setzgeber darf der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Paral­lel­ge­sell­schaften“ entgegenwirken und sich um die Integration von Minderheiten bemühen. Integration setzt nicht nur voraus, dass die religiös oder weltanschaulich geprägte Mehrheit jeweils anders geprägte Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzt und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und Andersgläubigen nicht verschließt. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, kann für den Landes­ge­setzgeber eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule sein. Die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog ist eine Grund­vor­aus­setzung nicht nur für die spätere Teilnahme am demokratischen Willens­bil­dungs­prozess, sondern auch für ein gedeihliches Zusammenleben in wechselseitigem Respekt vor den Glaubens­über­zeu­gungen und Weltan­schauungen anderer. Im Rahmen des staatlichen Erzie­hungs­auftrags darf der Landes­ge­setzgeber mit Rücksicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die religiöse Orientierung der Bevölkerung daher die Einführung eines gemeinsamen Ethik­un­ter­richts für alle Schüler ohne Abmel­demög­lichkeit vorsehen, um so die damit verfolgten legitimen Ziele gesell­schaft­licher Integration und Toleranz zu erreichen und den Schülern eine gemeinsame Wertebasis zu vermitteln. Der Berliner Landes­ge­setzgeber durfte davon ausgehen, dass bei einer Separierung der Schüler nach der jeweiligen Glaubens­richtung und einem getrennt erteilten Religi­o­ns­un­terricht oder der Möglichkeit der Abmeldung von einem Ethikunterricht den verfolgten Anliegen möglicherweise nicht in gleicher Weise Rechnung getragen werden könne wie durch einen gemeinsamen Pflicht-Ethikunterricht.

Der betroffenen Schülerin wird die Teilnahme am Religi­o­ns­un­terricht auch nicht in verfas­sungs­rechtlich unzulässiger Weise erschwert. Der freiwillige Besuch des Zusatzfachs Religion führt lediglich zu einer geringfügigen zeitlichen Mehrbelastung und besteht zudem unabhängig davon, ob zu den verbindlichen Fächern der Ethikunterricht gehört oder nicht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 48/2007 des BVerfG vom 19. April 2007

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