21.11.2024
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Dokument-Nr. 30652

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Beschluss20.07.2021Bundesverfassungsgericht1 BvR 2756/20, 1 BvR 2777/20 und 1 BvR 2775/20
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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.07.2021

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerden zum Ersten Medien­änderungs­staats­vertragBVerfG hebt Rundfunkbeitrag vorläufig auf 18,36 Euro an

Das Bunde­sverfassungs­gericht hat entschieden, dass das Land Sachsen-Anhalt durch das Unterlassen seiner Zustimmung zum Ersten Medien­änderungs­staats­vertrag die Rundfunk­freiheit der öffentlich-rechtlichen Rundfunk­an­stalten aus Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt hat. Die Bestimmungen des Artikel 1 des Ersten Medien­änderungs­staats­vertrags – mit der darin vorgesehenen Anpassung des Rundfunk­beitrags –gelten vorläufig mit Wirkung vom 20. Juli 2021 bis zum Inkrafttreten einer staats­ver­trag­lichen Neuregelung über die funkti­o­ns­ge­rechte Finanzierung von ARD, ZDF und Deutsch­landradio.

Der Rundfunkbeitrag wird in einem dreistufigen Verfahren festgesetzt. Auf der ersten Stufe melden die Rundfunk­an­stalten auf der Grundlage ihrer Program­ment­schei­dungen ihren Finanzbedarf an (Bedarfs­an­meldung). Auf der zweiten Stufe prüft die Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunk­an­stalten (KEF), ob sich die Program­ment­schei­dungen im Rahmen des Rundfunk­auf­trages halten und ob der daraus abgeleitete Finanzbedarf im Einklang mit den Grundsätzen der Wirtschaft­lichkeit und Sparsamkeit ermittelt worden ist. Auf der dritten Stufe setzen die Länder den Beitrag fest (Beitrags­fest­setzung). Der Beitrags­vor­schlag der KEF ist Grundlage für eine Entscheidung der Landes­re­gie­rungen und der Landes­pa­r­lamente. Für die Beitragsperiode 2021 bis 2024 hat die KEF eine Beitragserhöhung vorgeschlagen, wonach der Rundfunkbeitrag zum 1. Januar 2021 um 86 Cent von 17,50 Euro auf 18,36 Euro zu erhöhen war. Empfohlen hat die KEF zugleich eine Änderung der Aufteilung der Rundfunk­beiträge zwischen der ARD, dem ZDF und dem Deutsch­landradio sowie die Erhöhung der Finan­z­aus­gleichsmasse für Radio Bremen und den Saarländischen Rundfunk im Rahmen des ARD-internen Finan­z­aus­gleichs.

Keine Zustimmung vom Land Sachsen-Anhalt

Dieser Vorschlag der KEF ist im Ersten Medienänderungsstaatsvertrag aufgenommen worden, der im Juni 2020 von allen Regie­rung­s­che­finnen und Regierungschefs der Länder – mit einer Protokollnotiz des Minis­ter­prä­si­denten von Sachsen-Anhalt – unterzeichnet worden ist. Der Staatsvertrag hat ein Inkrafttreten der Änderungen zum 1. Januar 2021 vorgesehen. In 15 Ländern ist zur Umsetzung des Ersten Medien­än­de­rungs­staats­vertrags in das Landesrecht im Jahre 2020 die Zustimmung durch die gesetzgebenden Körperschaften beschlossen worden. Lediglich das Land Sachsen-Anhalt hat dem Ersten Medien­än­de­rungs­staats­vertrag bis zum 31. Dezember 2020 nicht zugestimmt, infolge dessen der Staatsvertrag nicht in Kraft treten konnte.

BVerfG: Sachsen-Anhalt hat Rundfunk­freiheit verletzt

Die Beschwer­de­führer rügen Verletzungen ihrer Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, weil durch das Unterlassen der Zustimmung ihr grund­recht­licher Anspruch auf funkti­o­ns­ge­rechte Finanzierung nicht erfüllt werde. Das BVerfG hat entschieden, dass die Verfas­sungs­be­schwerden begründet sind. Das Unterlassen des Landes Sachsen-Anhalt, dem Ersten Medien­än­de­rungs­staats­vertrag zuzustimmen, verletzt die Rundfunk­freiheit der Beschwer­de­führer aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in der Ausprägung der funkti­o­ns­ge­rechten Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk­an­stalten steht ein grund­recht­licher Finan­zie­rungs­an­spruch zu. Die Erfüllung dieses Anspruchs obliegt der Länder­ge­samtheit als föderaler Verant­wor­tungs­ge­mein­schaft, wobei jedes Land Mitver­ant­wor­tungs­träger ist. Die Rundfunk­freiheit dient der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung. Der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Auftrag zur Gewährleistung der Rundfunk­freiheit zielt auf eine Ordnung, die sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. Dabei wächst die Bedeutung der dem beitrags­fi­nan­zierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk obliegenden Aufgabe, durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen ausein­an­der­halten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfalt­si­cherndes und Orien­tie­rungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden. Dies gilt gerade in Zeiten vermehrten komplexen Infor­ma­ti­o­ns­auf­kommens einerseits und von einseitigen Darstellungen, Filterblasen, Fake News, Deep Fakes andererseits.

Länder­über­greifende Finanzierung durch Ablehnung derzeit nicht gewährleistet

Der Anspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunk­an­stalten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auf funkti­o­ns­ge­rechte Finanzierung sowie die Einhaltung der dazu notwendigen prozeduralen Sicherungen obliegt den Ländern als föderaler Verant­wor­tungs­ge­mein­schaft, wobei jedes Land Mitver­ant­wor­tungs­träger ist. Erfüllt ein Land seine Mitge­währ­leis­tungs­pflicht nicht und wird dadurch die Erfüllung des grund­recht­lichen Finan­zie­rungs­an­spruchs unmöglich, liegt bereits darin eine Verletzung der Rundfunk­freiheit. Denn ohne die Zustimmung aller Länder kann die länder­über­greifende Finanzierung des Rundfunks derzeit nicht gewährleistet werden. Auch für eine verfas­sungs­rechtlich tragfähige Rechtfertigung einer Nichterfüllung des grund­recht­lichen Anspruchs ist danach auf alle Länder abzustellen. Jedenfalls genügt es im gegenwärtigen von den Ländern vereinbarten System nicht, wenn ein einzelnes Land eine Erhöhung des Rundfunk­beitrags – überdies ohne tragfähige Begründung –ablehnt.

Keine Rechtfertigung für unterlassene Zustimmung

Eine verfas­sungs­rechtlich tragfähige Rechtfertigung für das Unterlassen der Zustimmung des Landes zum Staatsvertrag und damit die ausgebliebene entsprechende Finanzierung des Rundfunks besteht hier nicht. Im gegenwärtigen System der Rundfunk­fi­nan­zierung ist eine Abweichung von der Bedarfs­fest­stellung der KEF nur durch alle Länder einvernehmlich möglich. Hält ein Land eine Abweichung für erforderlich, ist es Sache dieses Landes, das Einvernehmen aller Länder über die Abweichung von der Bedarfs­fest­stellung der KEF herbeizuführen. Das ist nicht gelungen. Es fehlt zudem an einer nachprüfbaren und verfas­sungs­rechtlich tragfähigen Begründung, um von der Feststellung der KEF abweichen zu können. Dies kann im gegenwärtigen von den Ländern vereinbarten System nur eine verfas­sungs­rechtlich zulässige Begründung aller Länder sein. Der Vortrag des Landes Sachsen-Anhalt, dass es sich seit Jahren unter den Ländern vergeblich um eine Strukturreform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bemüht habe, rechtfertigt die Abweichung von der Feststellung des Finanzbedarfs nicht. Eine Strukturreform der Rundfunk­an­stalten oder eine Reduzierung der anzubietenden Programme war mit der Verabschiedung des Medien­staats­vertrags nicht verbunden und durfte mit dieser Beitrags­fest­setzung verfas­sungs­rechtlich nicht zulässig verfolgt werden. Soweit das Land Sachsen-Anhalt auf weitere möglicherweise beitrags­re­levante Rahmen­be­din­gungen in der Folge der Pandemie abstellen wollte, hat es Tatsa­che­n­an­nahmen, die eine Abweichung rechtfertigen könnten, weder hinreichend benannt noch seine daran anknüpfende Bewertung offengelegt.

Bedürfnis nach einer Zwischen­re­gelung zur Vermeidung erhebliche Beein­träch­ti­gungen der Rundfunk­freiheit

Bis zu einer staats­ver­trag­lichen Neuregelung durch die Länder besteht ein Bedürfnis nach einer Zwischen­re­gelung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht auf Grundlage des § 35 BVerfGG, um weitere erhebliche Beein­träch­ti­gungen der Rundfunk­freiheit zu vermeiden. Es liegt nahe, hierfür übergangsweise eine dem Art. 1 des Ersten Medien­än­de­rungs­staats­vertrags entsprechende Anpassung des Rundfunk­beitrags vorzusehen. Von einer Anordnung der rückwirkenden Erhöhung des Rundfunk­beitrags zum 1. Januar 2021 wird abgesehen. Die Beurteilung der Auswirkungen der unterbliebenen Beitrags­an­passung auf die Rundfunk­an­stalten kann in dem staats­ver­traglich vereinbarten Verfahren erfolgen. Sie erfordert im gegenwärtigen System allerdings eine Stellungnahme der KEF sowie einen neuen Änderungs­staats­vertrag mit Zustimmung aller Länder. Dabei sind Kompen­sa­ti­o­ns­er­for­dernisse wegen unterbliebener Beitrags­an­passung zu berücksichtigen. Den Beschwer­de­führern steht dem Grunde nach eine solche kompensierende Mehrausstattung zu. Bei der nächsten Festsetzung des Rundfunk­beitrags ist die Notwendigkeit der Kompensation vom Beitrags­ge­setzgeber zu berücksichtigen. Hierbei werden der Mehrbedarf der Rundfunk­an­stalten, der durch eine Verschiebung von Investitionen und die Verwendung notwendig vorzuhaltender Reserven entstanden ist, wie auch etwaige Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf den Finanzbedarf der Rundfunk­an­stalten und die Zumutbarkeit von Beitrags­er­hö­hungen für die Bürgerinnen und Bürger in den Blick zu nehmen sein.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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