21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss17.11.2009

Hausmusik: Klavierspielen am Sonntag ist nicht zwangsläufig eine Ruhestörung - BVerfG kippt Bußgeld wegen MusizierensBegriff "erhebliche Ruhestörung" muss präzise ausgelegt werden

Verstößt Klavierspielen gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm zu machen? Einstündiges Klavierspielen am Sonntag kann jedenfalls nicht ohne genaue Prüfung als "erhebliche Ruhestörung" eingestuft und mit einem Bußgeld bestraft werden. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer bewohnt mit seiner Ehefrau und sechs Kindern ein Reihenhaus in Berlin.

Musik­be­geisterte Familie

Nach dem Beschwer­de­vor­bringen sind alle Famili­en­mit­glieder "musikbegeistert, einige praktizierende Musiker". Die Tochter des Beschwer­de­führers übt jeden Tag am späten Nachmittag für etwa eine Stunde Klavier. Als sie an einem Sonntag im Februar 2008 wiederum Klavier übte, rief der Nachbar, der sich durch das Klavierspiel gestört fühlte, nach ca. 1/2 bis 3/4 Stunde die Polizei. Nachdem die Polizeibeamten gegangen waren, übte die Tochter noch ca. 15 Minuten weiter Klavier.

Bezirksamt: Klavierspielen verstößt gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm zu machen

Das zuständige Bezirksamt setzte wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird (§ 4 LImSchG Bln), eine Geldbuße in Höhe von 75,- € gegen den Beschwer­de­führer fest. Auf seinen Einspruch hin reduzierte das Amtsgericht die Geldbuße auf 50,- €. Der vor dem Amtsgericht als Zeuge vernommene Polizeibeamte bekundete, dass er das von ihm wahrgenommene Klavierspiel wie der Nachbar als störend empfunden habe. Der Antrag des Beschwer­de­führers auf Zulassung der Rechts­be­schwerde wurde vom Kammergericht verworfen.

Amtsgericht muss Fall neu verhandeln – Ab wann Musizieren "erhebliche Ruhestörung" darstellt nicht ausreichend begründet

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat auf die Verfas­sungs­be­schwerde des Beschwer­de­führers das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Das Urteil des Amtsgerichts verletzt den Beschwer­de­führer in seinem grund­rechts­gleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG, weil es die §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 Landes-Immis­si­ons­schutz­gesetz Berlin (LImSchG Bln) in nicht verfas­sungs­gemäßer Weise anwendet. Bei der vom Amtsgericht vorgenommenen Rechtsanwendung im vorliegenden Fall ist für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar, wann das Musizieren in der eigenen Wohnung an Sonn- und Feiertagen eine "erhebliche Ruhestörung" im Sinne von § 4 LImSchG Bln darstellt.

BVerfG bemängelt Annahme des Amtsgerichts, dass Ruhestörung durch Zeugenaussagen von Nachbar und Polizist bewiesen sei

Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein besonderes Bestimmt­heitsgebot, das den Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeld­be­wehrung so konkret zu umschreiben, dass der Normadressat erkennen kann, welches Verhalten der Gesetzgeber sanktioniert. Für die Rechtsprechung folgt daraus, dass jede Rechtsanwendung verboten ist, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Gemessen daran verletzt das Urteil des Amtsgerichts den Beschwer­de­führer in seinem grund­rechts­gleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG. Das Amtsgericht geht offenbar - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Kammergerichts und entsprechend Ziffer 4 Abs. 2 der Ausfüh­rungs­vor­schriften zum LImSchG Bln - davon aus, dass bei verhal­tens­be­dingten Geräu­schim­mis­sionen jeder verständige, nicht besonders geräu­sch­emp­findliche Mensch feststellen könne, ob eine erhebliche Ruhestörung vorliege und sieht im Ausgangsfall auf der Grundlage der Aussagen des Nachbarn und des hinzugerufenen Polizeibeamten eine erhebliche Ruhestörung durch das sonntägliche Klavierspiel als erwiesen an. Das Amtsgericht unternimmt keinen Versuch, den normativen Gehalt des ausle­gungs­be­dürftigen Begriffs "erhebliche Ruhestörung" zu erfassen und dieses Tatbe­stands­merkmal auch im Hinblick auf das Musizieren in der eigenen Wohnung begrifflich zu präzisieren. Die Entscheidung darüber, ob eine "erhebliche Ruhestörung" vorliegt, wird vielmehr dem als Zeugen vernommenen Polizeibeamten überlassen. Diese Rechtsanwendung räumt der zuständigen Behörde erhebliche Spielräume schon bei der Beantwortung der Frage ein, ob die tatbe­stand­lichen Voraussetzungen der §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln vorliegen. Sie erhöht damit die den Vorschriften anhafteten Ungewissheiten in einer den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügenden Weise. Denn bei Zugrundelegung der Rechtsaufassung des Amtsgerichts wird die Entscheidung über die Sankti­o­ns­be­dürf­tigkeit eines Verhaltens nicht generell-abstrakt durch den Gesetzgeber, sondern durch die vollziehende Gewalt für den konkreten Einzelfall getroffen.

Da das Amtsgericht die Vorschriften jedenfalls in einer Weise angewendet hat, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist, kann dahinstehen, ob der aus § 4 und § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln zusam­men­ge­setzte Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand als solcher den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt.

Quelle: ra-online, BVerfG

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss8910

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI