21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.07.2010

Kürzung der Rentenansprüche für Vertriebene und Flüchtlinge nach dem Fremd­ren­ten­gesetz verfas­sungsgemäßUngleich­be­handlung der Fremd­ren­ten­be­rech­tigten mangels Leistung eigener Beiträge zur gesetzlichen Renten­ver­si­cherung gerechtfertigt

Die Kürzung der Rentenansprüche für Vertriebene und Flüchtlinge nach dem Fremd­ren­ten­gesetz ist nicht verfas­sungs­widrig. Die Berechnung der Alters- und Hinter­blie­be­nenrente von den Renten­ver­si­che­rungs­trägern unter Berück­sich­tigung einer Obergrenze von insgesamt 25 Entgeltpunkten ist nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor, da eine Ungleich­be­handlung der Fremd­ren­ten­be­rech­tigten gegenüber den Versicherten, die ihr Versi­che­rungsleben in der Bundesrepublik Deutschland verbracht haben, dadurch gerechtfertigt ist, dass die Betroffenen keine eigenen Beiträge zur gesetzlichen Renten­ver­si­cherung geleistet haben. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Im Fremd­ren­tenrecht galt seit den 1960er Jahren das Einglie­de­rungs­prinzip, wonach Vertriebene und Flüchtlinge in der gesetzlichen Rentenversicherung nach ihrem Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland so behandelt wurden, als ob sie ihre bisherige Erwer­b­s­tä­tigkeit unter der Geltung des deutschen Renten­ver­si­che­rungs­rechts zurückgelegt hätten. Die politischen Umwälzungen in den Staaten Ost- und Südosteuropas ab Ende der 1980er Jahre veranlassten den Gesetzgeber jedoch zu einer Abkehr vom Einglie­de­rungs­prinzip. So wurden unter anderem durch den am 7. Mai 1996 in Kraft getretenen § 22 b Abs. 1 Satz 1 des Fremd­ren­ten­ge­setzes (FRG a.F.) die Fremd­ren­te­n­ansprüche dadurch beschränkt, dass für einen Berechtigten höchstens 25 Entgeltpunkte der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung zugrunde zu legen waren. Diese Begrenzung galt nur für solche Berechtigten, die ab dem 7. Mai 1996 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen hatten. Die Norm wurde in den folgenden Jahren unterschiedlich ausgelegt. Die Renten­ver­si­che­rungs­träger und Sozialgerichte gingen davon aus, dass die Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte als Gesam­to­ber­grenze für eine Einzelperson sowohl deren eigene Rente aufgrund eigener Beschäftigung im Herkunftsland als auch deren Hinter­blie­be­nenrente aufgrund Beschäftigung des Verstorbenen im Herkunftsland umfasse. Demgegenüber befand der 4. Senat des Bundes­so­zi­al­ge­richts mit Urteil vom 30. August 2001, dass die Begrenzung keine Anwendung als Gesam­to­ber­grenze fände, wenn dem Begünstigten neben der eigenen Altersrente auch eine Hinter­blie­be­nenrente nach dem Fremd­ren­ten­gesetz zustehe. Dieser Rechts­auf­fassung folgten die Renten­ver­si­che­rungs­träger jedoch nicht; auch die unteren Instanzgerichte schlossen sich ihr nur teilweise an. Durch das am 11. März 2004 im Bundestag beschlossene und am 26. Juli 2004 verkündete Renten­ver­si­cherungs-Nachhal­tig­keits­gesetz (RVNG) wurde § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG dahingehend neugefasst, dass für Fremdrenten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt höchstens 25 Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden. Art. 15 Abs. 3 RVNG ordnete das Inkrafttreten dieser Änderung mit Wirkung vom 7. Mai 1996 an.

Sachverhalt

Die Beschwer­de­führerin des Verfahrens 1 BvR 2530/05 und die Klägerinnen der den drei konkreten Normen­kon­trollen zugrunde liegenden Ausgangs­ver­fahren siedelten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, jedoch nach dem 7. Mai 1996 nach Deutschland aus und wurden hier als Spätaus­sied­le­rinnen anerkannt. Ihre Ehemänner waren entweder schon im Herkunftsland verstorben oder starben wenige Jahre nach der Übersiedlung. In allen Fällen wurde die Berechnung der Alters- und Hinter­blie­be­nenrente von den Renten­ver­si­che­rungs­trägern unter Berück­sich­tigung einer Obergrenze von insgesamt 25 Entgeltpunkten vorgenommen, was dazu führte, dass sich für die Hinter­blie­be­nenrente kein bzw. nur ein geringer Zahlbetrag ergab, weil die 25 Entgeltpunkte bereits (teilweise) mit der eigenen Altersrente ausgeschöpft waren. Die Beschwer­de­führerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts, durch die der Bescheid des Renten­ver­si­che­rungs­trägers im Ergebnis bestätigt worden ist. In den übrigen Verfahren haben die gegen die Renten­ver­si­che­rungs­be­scheide erhobenen Klagen zur Vorlage durch einen anderen Senat des Bundes­so­zi­al­ge­richts geführt. Dieser Senat sieht in der rückwirkenden Neuregelung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG eine sog. echte Rückwirkung, die hier unzulässig sei.

Geltung gemeinsamer Obergrenze von 25 Entgeltpunkten ist mit Grundgesetz vereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde zurückgewiesen und in den verbundenen Normen­kon­troll­ver­fahren entschieden, dass die in Art. 15 Abs. 3 RVNG angeordnete (rückwirkende) Geltung der gemeinsamen Obergrenze von 25 Entgeltpunkten mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Entscheidung betrifft – entsprechend den vorliegenden Fallkon­stel­la­tionen – die Beschränkung der Höhe solcher Hinter­blie­be­nen­renten, die allein auf Zeiten nach dem Fremd­ren­ten­gesetz beruhen und die bislang noch nicht ohne die in § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG vorgesehene Beschränkung bestandskräftig gewährt worden sind.

Betroffenen Renten liegen keine eigenen Leistung in eine bundesdeutsche Renten­ver­si­cherung zugrunde

Der einstimmig ergangenen Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: Der Normen­kon­trol­lantrag ist unbegründet. Die hier betroffenen Renten, die ausschließlich auf Beitrags- und Beschäf­ti­gungs­zeiten außerhalb der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung der Bundesrepublik Deutschland beruhen, unterfallen nicht dem Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG, da ihnen keine eigene Leistung in eine bundesdeutsche Renten­ver­si­cherung zugrunde liegt.

Verstoß gegen Rückwir­kungs­verbot liegt nicht vor

Des Weiteren begründet Art. 15 Abs. 3 RVNG keinen Verstoß gegen das Rückwir­kungs­verbot. Art. 15 Abs. 3 RVNG führt zwar zumindest in formaler Hinsicht zu einer echten Rückwirkung, weil er bewirkt, dass die Neuregelung seit dem 7. Mai 1996 zeitlich anwendbar ist, obwohl sie erst mit der Verkündung am 26. Juli 2004 rechtlich existent geworden ist. Ob durch die Neufassung der Fremd­ren­ten­be­schränkung die Rechtslage tatsächlich konstitutiv verändert wurde und damit die Grundsätze des Rückwir­kungs­verbotes greifen oder ob dadurch lediglich die schon nach der alten Gesetzesfassung bestehende Rechtslage deklaratorisch bestätigt worden ist, so dass das Rückwir­kungs­verbot gar nicht eingreift, kann dahin stehen. Denn auch eine echte Rückwirkung wäre mangels eines schutzwürdigen Vertrauens der Berechtigten zulässig.

Klägerinnen durften bei Berechnung der Alters- und Hinter­blie­be­nen­renten nicht auf Berück­sich­tigung von mehr als 25 Entgeltpunkten vertrauen

Das grundsätzliche Verbot der echten Rückwirkung greift nur ein, wenn eine gesetzliche Regelung dazu geeignet war, Vertrauen auf ihren Fortbestand in vergangenen Zeiträumen zu erwecken. Die Klägerinnen in den Ausgangs­ver­fahren der Normen­kon­trollen konnten jedoch nicht darauf vertrauen, dass bei der Berechnung ihrer Alters- und Hinter­blie­be­nen­renten mehr als 25 Entgeltpunkte berücksichtigt würden. Bis zur Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts am 30. August 2001 bestand keine Grundlage für dieses Vertrauen, weil damals nach überein­stim­mender Rechts­auf­fassung weder die Renten­ver­si­che­rungs­träger noch die Sozialgerichte von einem solchen Regelungsgehalt der Norm ausgingen. Die dement­ge­gen­stehende Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts vom 30. August 2001 war zur Vertrau­ens­bildung ebenfalls ungeeignet. Die höchst­rich­terliche Rechtsprechung ist nicht Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Schutzwürdiges Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchst­rich­ter­licher Rechtsprechung kann allenfalls bei gefestigter, langjähriger Rechtsprechung entstehen, die hier nicht existierte. Die auch nach dieser Entscheidung noch abweichende Haltung der Renten­ver­si­che­rungs­träger und eines beachtlichen Teils der Sozialgerichte stand vielmehr der Bildung von Vertrauen in den Fortbestand der Auslegung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG a.F. durch das Bundes­so­zi­al­gericht entgegen. Dass ein weiterer Senat des Bundes­so­zi­al­ge­richts am 11. März 2004 dessen Rechts­auf­fassung bestätigte, ändert daran nichts, da die Neufassung durch das RV-Nachhal­tig­keits­gesetz am selben Tag im Bundestag beschlossen wurde. Ab dem Tag des endgültigen Geset­zes­be­schlusses des Bundestags kann der Bürger nicht mehr auf den Fortbestand der bisherigen Regelung vertrauen, sondern muss mit dem Inkrafttreten der Neuregelung ernsthaft rechnen.

Norm bewirkt keine Diskriminierung wegen der Heimat oder der Herkunft und Verstößt nicht gegen allgemeinen Gleichheitssatz

Aus den vorgenannten Gründen ist die Verfas­sungs­be­schwerde gleichfalls unbegründet, soweit die Beschwer­de­führerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf Vertrau­ens­schutz rügt. Die Beschwer­de­führerin ist auch nicht durch § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG n.F. in anderen Grundrechten verletzt. Die Norm bewirkt keine Diskriminierung wegen der Heimat oder der Herkunft (Art. 3 Abs. 3 GG) der Fremd­ren­ten­be­rech­tigten, da die unter­schiedliche renten­rechtliche Behandlung dieser Personen ausschließlich in unter­schied­lichen Versi­che­rungs­bio­grafien begründet ist. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor. Gegenüber den Versicherten, die ihr Versi­che­rungsleben in der Bundesrepublik Deutschland verbracht haben, ist die Ungleichbehandlung der Fremd­ren­ten­be­rech­tigten dadurch gerechtfertigt, dass sie keine eigenen Beiträge zur gesetzlichen Renten­ver­si­cherung geleistet haben. Im Vergleich zu früheren Bürgern der DDR, die für die Zeiten vor der Wieder­ver­ei­nigung ebenfalls keine Beiträge an Renten­ver­si­che­rungs­träger der Bundesrepublik Deutschland gezahlt, sondern in der DDR Rentenansprüche/-anwartschaften erworben haben, folgt die Rechtfertigung der Ungleich­be­handlung daraus, dass die beiden deutschen Staaten eine Einheit auch auf dem Gebiet der Sozia­l­ver­si­cherung vereinbart haben, wozu ein einheitliches Rentenrecht gehörte. Auch die Wahl des Stichtags 7. Mai 1996 ist sachlich vertretbar.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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