24.11.2024
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Dokument-Nr. 7522

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Bundesverfassungsgericht Beschluss17.02.2009

Bundes­ver­fas­sungs­gericht setzt "Bayerisches Versamm­lungs­gesetz" teilweise außer KraftEilantrag in Sachen "Bayerisches Versamm­lungs­gesetz" zum Teil erfolgreich

Das bayerische Versamm­lungs­gesetz ist teilweise durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht außer Kraft gesetzt worden. Die Richter untersagten, Versammlungen ohne Anlass zu filmen und die Bilder unbegrenzt zu speichern. Auch fast alle Bußgeldregeln wurden aufgehoben. Die Richter wiesen darauf hin, dass sie von ihrer Befugnis, das Inkrafttreten eines Gesetzes zu verzögern oder ein in Kraft getretenes Gesetz wieder außer Kraft zu setzen, "nur mit größter Zurückhaltung" Gebrauch machen dürften, da dies "stets ein erheblicher Eingriff in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers" sei. Hier sei es aber erforderlich gewesen. Bayern ist das erste Bundesland, das ein eigenes Versamm­lungs­gesetz erlassen hat. Es enthält gegenüber dem Bundesgesetz erhebliche Verschärfungen.

Mit dem am 1. Oktober 2008 in Kraft getretenen Bayerischen Versammlungsgesetz (BayVersG), das für das Gebiet des Freistaates Bayern an die Stelle des Versamm­lungs­ge­setzes des Bundes (VersG) gerückt ist, hat ein Bundesland erstmalig von der den Bundesländern seit der Födera­lis­mus­reform zustehenden Kompetenz für das Versamm­lungsrecht Gebrauch gemacht. Hierbei knüpft der Bayerische Gesetzgeber zwar vielfach an bestehende Regelungen des VersG an, bildet die Vorschriften jedoch unter Berufung auf ein eigenständiges rechts und ordnungs­po­li­tisches Konzept fort und erhöht hierbei die Anforderungen an die Durchführung von Versammlungen. So werden unter anderem die Bekanntgabe-, Anzeige- und Mittei­lungs­pflichten für Veranstalter von Versammlungen erheblich formalisiert und ausgeweitet, die Mitwir­kungs­pflicht und die Verant­wort­lichkeit des Leiters einer Versammlung ausgedehnt und für Versamm­lungs­teil­nehmer ein allgemeines Militanzverbot eingeführt (Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 3, Art. 7 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 1 und 2 BayVersG). An diese Ge- und Verbote schließen sich Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­be­stände an, wonach den Betroffenen im Fall eines Verstoßes ohne vorausgehende verwal­tungs­rechtliche Verfügungen unmittelbar eine Geldbuße auferlegt werden kann (Art. 21 Nr. 1, 2, 7, 13 und 14 BayVersG). Auch wird eine Befugnis der Versamm­lungs­behörde geregelt, die vom Veranstalter benannten Leiter und Ordner abzulehnen, wenn sie unzuverlässig oder ungeeignet sind. Weiter ist der Katalog für polizeiliche Beobachtungs und Dokumen­ta­ti­o­ns­¬­maß­nahmen erweitert worden (Art. 9 Abs. 2 und 4 BayVersG). Die Vorschrift ermächtigt die Polizei, zur Lenkung und Leitung des Polizei­ein­satzes Übersichts­auf­nahmen (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 BayVersG) und zur Auswertung des polizeitak­tischen Vorgehens auch Übersichts­auf­zeich­nungen (Art. 9 Abs. 2 Satz 2 BayVersG) von Versammlungen anzufertigen, wobei letztere für Anschluss­nut­zungen längerfristig und eventuell sogar unbegrenzt gespeichert werden können.

Verschiedene Parteien und Organisationen legten Verfas­sungs­be­schwerde ein

Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung liegt eine Verfas­sungs­be­schwerde mehrerer Landesverbände von Gewerkschaften und Parteien sowie anderer nicht­staat­licher Organisationen gegen annähernd das gesamte BayVersG zugrunde. Die Beschwer­de­führer rügen einen versamm­lungs­feind­lichen Charakter des Gesetzes als Ganzes sowie seiner Regelungen im Einzelnen. Die Vorschriften führten zu bürokratischer Gängelei und Kontrolle der Bürger, die von der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit abschreckten. Ausdrücklich ausgenommen von den Angriffen sind allerdings die Vorschriften, die spezifischen Gefahren recht­s­ex­tre­mis­tischer Versammlungen begegnen sollen (Art. 15 Abs. 2 Nr. 1a und 2 BayVersG).

Antrag auf einstweilige Verfügung teilweise erfolgreich

Der Antrag der Beschwer­de­führer, das BayVersG im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde außer Kraft zu setzen, hatte teilweise Erfolg. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die Bußgeld­vor­schriften bezüglich der Bekanntgabe-, Anzeige- und Mittei­lungs­pflichten der Veranstalter, der Mitwir­kungs­pflicht des Leiters und des Militanzverbots der Teilnehmer einstweilen außer Kraft gesetzt. Auch werden die Befugnisse für polizeiliche Beobachtungs- und Dokumen­ta­ti­o­ns­maß­nahmen im Zusammenhang mit Versammlungen einstweilen modifizierend eingeschränkt. So sind insbesondere Übersichts­auf­zeich­nungen, bei denen eine Speicherung des Versamm­lungs­ge­schehens erfolgt, nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Eine Auswertung der Übersichts­auf­zeich­nungen ist nur unverzüglich nach Beendigung der Versammlung zulässig. Soweit danach die Daten nicht in Bezug auf einzelne Personen zur Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der aufgezeichneten Versammlung oder zur Abwehr künftiger versamm­lungs­spe­zi­fischer Gefahren benötigt werden, müssen sie innerhalb von zwei Monaten gelöscht oder irreversibel anonymisiert werden. Übersichts­auf­nahmen zur Lenkung und Leitung des Polizei­ein­satzes, bei denen die Bilder von dem Versamm­lungs­ge­schehen ohne Speicherung in eine Einsatzzentrale in Echtzeit übertragen werden, sind dagegen nur zulässig, wenn sie wegen der Größe oder Unüber­sicht­lichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich sind. Im Übrigen lehnte der Senat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.

Gesetz darf nur in ganz besonderen Fällen vorläufig außer Kraft gesetzt werden

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht darf von seiner Befugnis, das Inkrafttreten eines Gesetzes zu verzögern oder ein in Kraft getretenes Gesetz wieder außer Kraft zu setzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers ist. Ein Gesetz darf deshalb bei noch offenem Ausgang des Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahrens nur dann vorläufig außer Kraft gesetzt werden, wenn die Nachteile, die mit seiner Geltung nach späterer Feststellung seiner Verfas­sungs­wid­rigkeit verbunden wären, ganz besonderes Gewicht haben und in Ausmaß und Schwere deutlich die Nachteile überwiegen, die im Falle der vorläufigen Außer­kraft­setzung eines sich als verfas­sungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten.

Nach diesen Maßstäben ist aufgrund der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise stattzugeben.

Bußgeldvorschriften

1. Die Bußgeld­vor­schriften des Art. 21 Nr. 1, 2, 7, 13 und 14 BayVersG sind vorläufig außer Kraft zu setzen. Sie erheben den Verstoß gegen weitreichende versamm­lungs­rechtliche Ge- und Verbote unmittelbar zu einer Ordnungs­wid­rigkeit. Als förmliche Missbilligung rechtswidrigen vorwerfbaren Fehlverhaltens unterscheidet sich die Wirkung der Bußgeld­be­wehrung grundlegend von der Statuierung verwal­tungs­recht­licher Pflichten, die dem Bürger gegenüber auf der Grundlage eines konkre­ti­sie­renden Verwaltungsakts und unter Umständen mit den Mitteln des Verwal­tungs­voll­stre­ckungs­rechts durchgesetzt werden. Was in der jeweiligen Situation für den Einzelnen verbindlich ist, wird dort durch Verwaltungsakt - anders als bei einer Ahndung mit einer Geldbuße - zunächst einzel­fa­ll­bezogen festgestellt und dem Bürger, Rechtsklarheit schaffend und mit Rechtsmitteln überprüfbar, vor Augen gehalten, ohne dass ein Schuldvorwurf im Raum steht. Diese rechts­s­taatliche Funktion des Verwaltungsakts ist gerade in Bezug auf die hier in Rede stehenden Pflichten bedeutsam, die vom Gesetzgeber teils detailgenau ausdif­fe­renziert, teils konkre­ti­sie­rungs­be­dürftig offen ausgestaltet sind. So besteht für den Veranstalter die Pflicht zur Angabe von Ort, Zeit, Thema sowie Namen des Veranstalters bei einer Einladung für jede öffentliche Versammlung ab zwei Personen, unabhängig davon, ob sie klein oder groß ist, im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfindet, spontan oder geplant abgehalten wird. Auch wenn die erforderlichen Angaben für sich gesehen einfach sind, kann die Frage, was als Einladung zu qualifizieren ist, welche Genauigkeit erforderlich ist oder wie die Angaben bei zeitgemäßen Formen der elektronischen Kommunikation - wie SMS - zu gewährleisten sind, ernsthaft fraglich sein. Nicht ohne nähere Kenntnis zu beantworten kann auch die Frage sein, wann Angaben zu den differenzierten Anzei­ge­pflichten für Versammlungen im Freien vollständig sind oder wann unverzüglich mitzuteilende Änderungen rechtzeitig übermittelt werden. Erst recht sind die Pflichten des Versamm­lungs­leiters zur Verhinderung von Gewalt­tä­tig­keiten konkre­ti­sie­rungs­be­dürftig. Was "geeignete Maßnahmen" sind, um "Gewalt­tä­tig­keiten" "aus der Versammlung heraus" zu "verhindern", und wann eine Versammlung mangels Durch­set­zungs­fä­higkeit aufzulösen ist, ist von schwierigen Bewertungen in oftmals unüber­sicht­lichen Situationen abhängig. Nichts anderes gilt für die an den einzelnen Teilnehmer adressierte Pflicht, an Versammlungen nicht in einer Art und Weise teilzunehmen, die dazu beiträgt, dass die Versammlung ein bestimmtes Erschei­nungsbild mit einschüch­ternder Wirkung erhält. Mit den Bußgeld­vor­schriften verbindet sich so das schwer kalkulierbare Risiko einer persönlichen Sanktion, die bei den Bürgern zu Einschüch­te­rungs­ef­fekten führen und die Inanspruchnahme des Grundrechts der Versamm­lungs­freiheit beeinträchtigen kann.

Versamm­lungs­rechtliche Ge- und Verbote gelten weiterhin

2. Dagegen scheidet eine vorläufige Außer­kraft­setzung der den Bußgeld­vor­schriften zugrunde liegenden versamm­lungs­recht­lichen Ge- und Verbote aus. Eine solche hätte zur Folge, dass es dem Bayerischen Versamm­lungsrecht bis zur Entscheidung über die Hauptsache an zentralen Vorschriften, wie etwa schon generell an einer Anzeigepflicht, fehlte. Damit wäre eine sichere Wahrnehmung des Versamm­lungs­rechts zumindest erheblich gefährdet. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht müsste wenigstens einige der angegriffenen Vorschriften durch eine gerichtliche Anordnung ersetzen. Das aber kann nur in Sonder­kon­stel­la­tionen gerechtfertigt sein, die hier nicht gegeben sind. Außerdem werden die Nachteile der angegriffenen Vorschriften durch die vorläufige Außer­kraft­setzung der Bußgeld­vor­schriften so weit aufgefangen, dass eine weitergehende einstweilige Anordnung nicht geboten erscheint.

Richter schränken polizeiliche Beobachtungs- und Dokumen­ta­ti­o­ns­maß­nahmen ein

3. Mit einschränkenden Maßgaben zu versehen ist weiterhin die Anwendung des Art. 9 Abs. 2 und 4 BayVersG, der Befugnisse der polizeilichen Beobachtungs- und Dokumen­ta­ti­o­ns­maß­nahmen regelt. Die Vorschrift erlaubt generell "zur Lenkung und Leitung des Polizei­ein­satzes" die Anfertigung von Übersichts­auf­nahmen (Kamera-Monitor-Übertragung) und „zur Auswertung des polizeitak­tischen Vorgehens“ die Anfertigung von Übersichts­auf­zeich­nungen. In solchen Aufzeichnungen sind nach dem heutigen Stand der Technik die Einzelpersonen in der Regel indivi­du­a­li­sierbar mit erfasst. Der Sache nach ermächtigt Art. 9 Abs. 2 Satz 2 BayVersG damit zu einer anlasslosen Aufzeichnung des gesamten Versamm­lungs­ge­schehens einschließlich der Ablichtung der einzelnen Versamm­lungs­teil­nehmer, die hierzu zurechenbar keinen Anlass gesetzt haben. Bei jeder Versammlung muss folglich jeder Teilnehmer damit rechnen, dass seine Teilnahme unabhängig von der Größe und dem Gefah­ren­po­tential der Versammlung aufgezeichnet wird. Der hierin liegende Nachteil erhält dadurch weiteres Gewicht, dass die Übersichts­auf­zeich­nungen zur Abwehr künftiger versamm­lungs­spe­zi­fischer Gefahren ein Jahr ab Entstehung und zu Zwecken der allgemeinen Strafverfolgung auch darüber hinaus genutzt und gespeichert werden können. Eine solche anlasslose Daten­be­vor­ratung, die allein an die Wahrnehmung der Versamm­lungs­freiheit und damit an das Gebrauchmachen von einem für die demokratische Meinungsbildung elementaren Grundrecht anknüpft, führt zu durchgreifenden Nachteilen. Durch einschränkende Maßgaben hat der Senat diese Nachteile bis zur Entscheidung in der Hauptsache begrenzt. Danach sind Übersichts­auf­zeich­nungen nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen und auch die anschließende Nutzung und Speicherung anlassbezogen begrenzt bleibt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 17/2009 vom 27. Februar 2009

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