18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 15549

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Beschluss05.03.2013Bundesverfassungsgericht1 BvR 2457/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2013, 955Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 955
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Bundesverfassungsgericht Beschluss05.03.2013

Festsetzung von Abgaben zum Vorteils­aus­gleich nur zeitlich begrenzt zulässigBverfG verpflichtet Landes­ge­setzgeber zur verfas­sungs­gemäßen Neuregelung bis 1. April 2014

Abgaben zum Vorteils­aus­gleich dürfen nicht zeitlich unbegrenzt nach der Erlangung des Vorteils festgesetzt werden. Dem Gesetzgeber obliegt es vielmehr, für einen Ausgleich zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der Beitrags­er­hebung und dem Interesse des Beitrags­schuldners an Klarheit über seine Inanspruchnahme zu sorgen. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden. Zugleich erklärte das Gericht eine Vorschrift des Bayerischen Kommunal­abgaben­gesetzes für unvereinbar mit dem verfassungs­rechtlichen Grundsatz der Rechts­si­cherheit, da diese das Interesse des Beitrags­schuldners an einer zeitlichen Grenze für die Abgabenerhebung völlig unberück­sichtigt lässt. Der Landes­ge­setzgeber ist gehalten, bis 1. April 2014 eine verfas­sungs­gemäße Neureglung zu schaffen.

Nach dem bayerischen Landesrecht beträgt die Frist, in der kommunale Beiträge festgesetzt werden dürfen, vier Jahre. Im Regelfall beginnt diese Frist mit dem Ablauf des Jahres, in dem die Beitragspflicht entstanden ist. Das Bayerische Kommu­na­l­ab­ga­ben­gesetz verweist in diesem Zusammenhang weitgehend auf die Abgabenordnung des Bundes. Artikel 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen Kommu­na­l­ab­ga­ben­ge­setzes trifft jedoch eine Sonderregelung für den Fall einer ungültigen Beitragssatzung: In diesem Fall beginnt die Frist erst mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die gültige Satzung bekanntgemacht worden ist.

Sachverhalt

Der Beschwer­de­führer war von 1992 bis 1996 Eigentümer eines an die öffentliche Entwäs­se­rungs­ein­richtung angeschlossenen bebauten Grundstücks. Bei einer Ortsbe­sich­tigung im Jahr 1992 stellte die Gemeinde fest, dass das Dachgeschoss des Gebäudes ausgebaut worden war. Für die ausgebaute Dachge­schoss­fläche zog sie den Beschwer­de­führer allerdings erst mit Nacher­he­bungs­be­scheid vom 5. April 2004 zu einem Kanal­her­stel­lungs­beitrag heran. Grundlage hierfür war eine Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwäs­se­rungs­satzung vom 5. Mai 2000, die die Gemeinde zur Heilung einer als nichtig beurteilten Vorgän­ger­satzung rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft gesetzt hatte. Während des Wider­spruchs­ver­fahrens erwies sich auch diese Satzung als unwirksam. Die Gemeinde erließ daraufhin eine neue Satzung und setzte sie rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft. Die neue Satzung wurde am 26. April 2005 im Amtsblatt der Gemeinde bekanntgemacht.

Klagen blieben vor dem VG und VGH erfolglos

Die Klage des Beschwer­de­führers gegen den Bescheid und den Wider­spruchs­be­scheid der Gemeinde blieb sowohl vor dem Verwal­tungs­gericht als auch vor dem Verwal­tungs­ge­richtshof erfolglos.

BVerfG erklärt Verfas­sungs­be­schwerde für zulässig und begründet

Die hiergegen erhobene Verfas­sungs­be­schwerde ist zulässig und begründet, soweit sie auf eine Verletzung des verfas­sungs­recht­lichen Grundsatzes der Rechtssicherheit gestützt wird. Die Entscheidung des Rechts­mit­tel­ge­richts muss - sofern kein eigenständiger neuer Gehörsverstoß durch das Rechts­mit­tel­gericht geltend gemacht wird - nicht mit der Anhörungsrüge angegriffen werden, um dem Erfordernis der Rechts­we­ger­schöpfung zu genügen.

Vorschrift verstößt gegen Gebot der Rechts­si­cherheit

Die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für die Zulässigkeit rückwirkender Gesetze sind im vorliegenden Fall nicht verletzt. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen Kommu­na­l­ab­ga­ben­ge­setzes selbst entfaltet dem Beschwer­de­führer gegenüber keine Rückwirkung. Die Norm trat zum 1. Januar 1993 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt lag noch keine wirksam heilende Satzung im Sinne der Vorschrift vor. Eine solche wurde auch später nicht zum oder vor dem 1. Januar 1993 in Kraft gesetzt. Unabhängig von der Neuregelung hatte die Verjährungsfrist daher noch nicht zu laufen begonnen. c) Die genannte Vorschrift verstößt jedoch gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechts­si­cherheit als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechts­s­taats­prinzips in seiner Ausprägung als Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit.

Gewährleistung von Rechts­si­cherheit und Vertrau­ens­schutz

Rechts­si­cherheit und Vertrau­ens­schutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbst­be­stimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. Der Grundsatz des Vertrau­ens­schutzes besagt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen. Das Rechts­s­taats­prinzip gewährleistet darüber hinaus aber unter bestimmten Umständen Rechts­si­cherheit auch dann, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. Es schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belas­tungs­klarheit und Vorher­seh­barkeit davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können.

Inanspruchnahme von Beitrags­pflichten zum Vorteils­aus­gleich muss zeitlich begrenzt sein

Soweit Beitrags­pflichten zum Vorteils­aus­gleich an zurückliegende Tatbestände anknüpfen, ist es verfas­sungs­rechtlich geboten, diese Inanspruchnahme zeitlich zu begrenzen. Die Verjährung von Geldleis­tungs­ansprüchen der öffentlichen Hand soll einen gerechten Ausgleich zwischen dem berechtigten Anliegen der Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung dieser Ansprüche auf der einen Seite und dem schutzwürdigen Interesse der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite bewirken, irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend disponieren zu können. Dabei ist es den Verjäh­rungs­re­ge­lungen eigen, dass sie ohne individuell nachweisbares oder typischerweise vermutetes, insbesondere ohne betätigtes Vertrauen greifen. Sie schöpfen ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit vielmehr aus dem Grundsatz der Rechts­si­cherheit.

Gesetzgeber muss Verjäh­rungs­re­ge­lungen zur Erhebung von Beiträgen zum Vorteils­aus­gleich treffen

Für die Erhebung von Beiträgen zum Vorteils­aus­gleich ist der Gesetzgeber verpflichtet, Verjäh­rungs­re­ge­lungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass diese nicht unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Die Legitimation von Beiträgen liegt in der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugekommen ist. Je weiter dieser Zeitpunkt bei der Beitrags­er­hebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Der Grundsatz der Rechts­si­cherheit gebietet, dass ein Vorteils­emp­fänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss.

Erforderlicher Ausgleich zwischen Rechts­si­cherheit und Rechts­rich­tigkeit und Fiskalinteresse durch Gesetzgeber nicht geregelt

In Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen Kommu­na­l­ab­ga­ben­ge­setzes hat es der Gesetzgeber verfehlt, den erforderlichen Ausgleich zwischen Rechts­si­cherheit auf der einen Seite und Rechts­rich­tigkeit und Fiskalinteresse auf der anderen Seite zu schaffen. Indem er den Verjäh­rungs­beginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten verschiebt, lässt er die berechtigte Erwartung des Bürgers darauf, eine gewisse Zeit nach Entstehen der Vorteilslage nicht mehr mit der Festsetzung des Beitrags rechnen zu müssen, gänzlich unberück­sichtigt.

Ohne gesetzliche Neuregelung tritt Nichtigkeit der verfas­sungs­widrigen Vorschrift ein

Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den verfas­sungs­widrigen Zustand zu beseitigen, kommt vorliegend nur eine Unver­ein­ba­r­keits­er­klärung in Betracht. Sie führt dazu, dass die verfas­sungs­widrige Vorschrift von Gerichten und Verwal­tungs­be­hörden nicht mehr angewendet werden darf. Laufende Gerichts- und Verwal­tungs­ver­fahren, in denen diese Vorschrift entschei­dungs­er­heblich ist, bleiben bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens aber bis zum 1. April 2014, ausgesetzt oder sind auszusetzen. Trifft der Gesetzgeber bis zum 1. April 2014 keine Neuregelung, tritt Nichtigkeit der verfas­sungs­widrigen Vorschrift ein.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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