18.10.2024
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Dokument-Nr. 29014

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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.07.2020

BVerfG zur zulässigen Vorabwürdigung der Erfolgs­aus­sichten im Prozesskosten­hilfeverfahren auch bei grund­recht­lichem Abwägungs­erfordernisIn einzel­fa­l­laffinen Rechtsgebieten ist eine Abwägung grundrechtlich geschützter Interessen erlaubt

Das BVerfG hat entschieden, dass eine Vorabein­schätzung der Erfolgs­aus­sichten im Prozesskosten­hilfeverfahren auch dann zulässig ist, wenn eine solche Einschätzung eine abwägende Berück­sich­tigung der im Einzelfall wider­strei­tenden grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt.

Der nicht öffentlich bekannte Beschwer­de­führer war im Jahr 2018 wegen zweier von ihm eingeräumter einfacher Körper­ver­let­zungen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Wegen einer dritten angeklagten Körper­ver­let­zungstat, die ebenfalls in den einein­halb­mo­natigen Zeitraum zwischen den abgeurteilten Taten fiel, wurde die Strafverfolgung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Eine Anfechtung des Urteils erfolgte nicht. Über dieses Verfahren und seinen Ausgang berichtete der örtliche Ableger einer großen Tageszeitung auf seiner Internetseite. Beim Artikel befindet sich ein Foto des Beschwer­de­führers aus dem Gerichts­ver­fahren, das im Augenbereich unkenntlich gemacht ist, auf dem er aber möglicherweise für Bekannte erkennbar ist. Der unter der Abbildung stehende Text identifiziert ihn mit seinem Vornamen und Alter. Der Artikel berichtet in zuspitzender Form über die zugrun­de­lie­genden Taten und verschiedene Äußerungen des Beschwer­de­führers im Strafverfahren, wobei ihm u.a. ein Hang zur Gewalt“ und zu anlasslosen Ausrastern attestiert wird.

Zivilgerichte wiesen mangels hinreichender Erfolgsaussicht das Prozess­kos­ten­hil­fe­gesuch zurück

Das Prozess­kos­ten­hil­fe­gesuch des Beschwer­de­führers für ein zivil­ge­richt­liches Vorgehen gegen den verant­wort­lichen Presseverlag wiesen die Zivilgerichte mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurück. Auch nicht schwerwiegende Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach Einzelfall zu dem die Öffentlichkeit berech­tig­terweise inter­es­sie­renden Zeitgeschehen, über das auch indivi­du­a­li­sierend zu berichten der Presse erlaubt sei. Hier begründeten die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität der Taten ein hinreichendes Interesse an dem Bericht. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechts­schutz­gleichheit. Schwierige, nicht geklärten Rechtsfragen dürften nicht im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren entschieden werden.

Ablehnung der Prozess­kos­tenhilfe aufgrund schwieriger bislang ungeklärter Rechtfragen unzulässig

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts soll das Institut der Prozesskostenhilfe auch unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen. Maßgeblich für die verfas­sungs­rechtliche Bewertung ist, ob die Fachgerichte den Entschei­dungs­spielraum, der ihnen bei der Vorabwürdigung der Erfolgs­aus­sichten im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren nach § 114 ZPO zukommt, überspannen und dadurch den Zweck der Prozess­kos­tenhilfe, einen Gerichtszugang zu gewährleisten, deutlich verfehlen. Die Fachgerichte dürfen Prozess­kos­tenhilfe insbesondere dann nicht versagen, wenn die Entscheidung im Klageverfahren von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.

Bei einfachen Rechtsfragen kann Prozess­kos­tenhilfe abgelehnt werden

Prozess­kos­tenhilfe braucht demgegenüber nicht gewährt zu werden, wenn die entschei­dungs­er­hebliche Rechtsfrage angesichts der einschlägigen gesetzlichen Regelung oder der durch die Rechtsprechung gewährten Ausle­gungs­hilfen nicht in diesem Sinn als schwierig erscheint. Das gilt insbesondere für abwägende Subsum­ti­o­ns­ent­schei­dungen im Einzelfall, obwohl auch sie komplexe Fragen aufwerfen können. Selbst wenn die Beurteilung der Erfolgs­aus­sichten eine konkret abwägende Subsum­ti­o­ns­ent­scheidung erfordert, darf eine fachge­richtliche Voreinschätzung daher im Verfahren der Prozess­kos­tenhilfe Berück­sich­tigung finden, soweit die generellen Maßstäbe dieser Abwägung hinreichend geklärt sind. Andernfalls wäre Prozess­kos­tenhilfe in einzel­fa­l­laffinen Rechtsbereichen, etwa im regelmäßig durch konkrete Abwägung von Berich­t­er­stattungs- und Persön­lich­keits­in­teressen bestimmten Äußerungsrecht, fast immer zu gewähren. Das ist mit dem Verbot, schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren zu entscheiden, nicht gemeint.

Wahrung der Anforderungen durch Fachgerichte

Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Fachgerichte bei der ihnen gebührenden Einschätzung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg die aus der Rechtschutzgleichheit folgenden Anforderungen gewahrt. Die Gerichte haben ihrer Abschätzung der Erfolgs­aus­sichten zugrunde gelegt, dass eine identi­fi­zierende Presse­be­rich­t­er­stattung über Strafverfahren und die zugrun­de­lie­genden Taten in zeitlicher Nähe einer Verurteilung nicht generell auf Fälle schwerer Gewalt­ver­brechen oder öffentlich bekannter Personen beschränkt ist, sondern von den konkreten Umständen des Falles und dem darauf bezogenen öffentlichen Berich­t­er­stat­tungs­in­teresse abhängt. Dies entspricht dem Stand der - insbesondere auch verfas­sungs­recht­lichen - Rechtsprechung. Die danach gebotene Abwägung hat auch das Gewicht der Straftaten einzubeziehen, aber verstanden als einzel­fa­ll­be­zogener Abwägungs­ge­sichtspunkt, nicht als abstrakt zu klärende Grundsatzfrage. Die Einschätzung, ob in Anwendung dieser Maßstäbe ein gerichtliches Vorgehen gegen die indivi­du­a­li­sierende Berich­t­er­stattung hinreichend aussichtsreich war, verweist auf den konkreten Einzelfall, ist durch abwägende Würdigung des Inhalts und der Umstände der Berich­t­er­stattung, der Tat und ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit zu beantworten und daher von vornherein einer allgemeinen Klärung entzogen. Sie ist auch nicht derart schwierig oder maßstäblich offen, dass sie einer antizipierenden Würdigung im Verfahren der Prozess­kos­tenhilfe entgegenstünde. Die für die gerichtliche Einschätzung der Erfolgs­aus­sichten maßgebliche Tatsa­chen­grundlage war zudem in Gestalt des beanstandeten Presseberichts und des zugrun­de­lie­genden Strafurteils aus den Akten ersichtlich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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