15.11.2024
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Urteil19.01.1999Bundesverfassungsgericht1 BvR 2161/94
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Bundesverfassungsgericht Urteil19.01.1999

Schreib- und sprechunfähige Personen dürfen nicht ausnahmslos von der Errichtung eines Testaments ausgeschlossen werden

Der Erste Senat des BVerfG hat in einem Verfas­sungs­be­schwerde-Verfahren festgestellt, daß der generelle Ausschluß schreib- und sprechunfähiger Personen von der Möglichkeit, ein Testament zu errichten (Testier­mög­lichkeit), gegen die Verfassung verstößt.

In diesem Umfang sind die entsprechenden Vorschriften (§§ 2232 und 2233 BGB, § 31 Beurkun­dungs­gesetz; BeurkG) mit Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz), Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Verbot der Benachteiligung Behinderter) sowie mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG (Erbrechts­ga­rantie), unvereinbar.

I. Rechtslage

Schreibunfähige Stumme können nach den erbrechtlichen Vorschriften kein Testament errichten, weder handschriftlich noch notariell. Die maßgeblichen Vorschriften der §§ 2232, 2233, 2247 BGB, 31 BeurkG setzen stets ein gewisses Maß an Sprech- oder Schreib­fä­higkeit voraus (vgl. Anlage). Nach dem Willen der Väter des BGB sollten schreib- und sprechunfähige Personen keine Testamente errichten können. Schreibunfähige Stumme seien nur in der Lage, sich durch Zeichen verständlich zu machen. Auf diese Weise lasse sich jedoch der Wille des Erblassers nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit ermitteln.

Im Gegensatz dazu können schreibunfähige Stumme Rechtsgeschäfte unter Lebenden vornehmen. Sie können mit notarieller Hilfe etwa Grundstücke kaufen und Eheverträge schließen (§ 24 BeurkG). Dies geschieht dadurch, daß der Notar neben einem Zeugen eine Vertrau­ens­person des schrei­b­un­fähigen Stummen beizieht, die bei der Übersetzung der Zeichen behilflich ist. Da auch für einen gemischten Ehe- und Erbvertrag gemäß § 2276 Abs. 2 BGB die Formvor­schriften für Rechtsgeschäfte unter Lebenden gelten, können verheiratete oder verlobte schreibunfähige Stumme auf diese Weise im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags letztwillige Verfügungen treffen.

II. Sachverhalt

Ein infolge eines Schlaganfalls gelähmter Mann, der nicht mehr sprechen und schreiben, wohl aber hören und sich durch Zeichen verständigen konnte, setzte 1982 eine Bekannte, die ihn gepflegt hatte, durch notarielle Erklärung zur Alleinerbin ein. Neben dem beurkundenden Notar waren ein zweiter Notar als Zeuge und ein Arzt als Vertrau­ens­person anwesend. Beide Notare und der behandelnde Arzt kamen zu der Überzeugung, daß der Mann testierfähig sei und die Bekannte zur Alleinerbin einsetzen wolle. Nach dem Tod des Mannes im Jahre 1989 focht dessen Tochter das Testament an. Landgericht und Oberlan­des­gericht (OLG) gaben ihr recht. Ein Stummer könne nach § 31 BeurkG ein Testament nur durch Übergabe einer Schrift errichten, wenn er die schriftliche Erklärung abgebe, daß diese Schrift seinen letzten Willen enthalte. Daraus folge, daß ein schrei­b­un­fähiger Stummer nicht testieren könne.

Gegen das Urteil des OLG vom Oktober 1994 - sowie mittelbar gegen die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften - erhoben gesetzliche Erben der zwischen­zeitlich verstorbenen Bekannten des Erblassers Verfas­sungs­be­schwerde und rügten eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 und Art. 14 Abs. 1 GG.

III. Senat­s­ent­scheidung

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist begründet. Der generelle Ausschluß schrei­b­un­fähiger Stummer von jeder Testier­mög­lichkeit verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 sowie gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 S. 2 GG. Menschen, die in geistiger Hinsicht zu einer eigen­ver­ant­wort­lichen letztwilligen Verfügung in der Lage sind, dürfen nicht allein deswegen an der Testierung von Rechts wegen gehindert werden, weil sie aus körperlichen Gründen nur über eingeschränkte Verstän­di­gungs­mög­lich­keiten verfügen.

Zur Begründung heißt es weiter:

Erbrechts­ga­rantie (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG)

Das Erfordernis der schriftlichen oder mündlichen Bestätigung des notariellen Testaments verletzt bei schrei­b­un­fähigen Stummen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit.

Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit der Anwendung der Formvor­schriften die an sich legitimen Gemein­wohl­zwecke der Rechts­si­cherheit und des Schutzes nicht selbst­be­stim­mungs­fähiger Menschen. Der mit dem Formzwang bewirkte Testieraus­schluß ist jedoch verfas­sungs­rechtlich nur dann erforderlich, wenn eine hinreichend gesicherte Verständigung mit schrei­b­un­fähigen Stummen nicht möglich ist oder ihnen das für die Testa­ment­s­er­richtung nötige geistige Verständnis fehlt.

Die generelle Annahme des Gesetzgebers, daß es allen schrei­b­un­fähigen Stummen an der für die Testa­ment­s­er­richtung erforderlichen Handlungsund Einsichts­fä­higkeit mangelt, ist jedoch unzutreffend. Wie gerade der konkrete Fall zeigt, gibt es durchaus schreib- und sprechunfähige Personen, die über die für eine Testa­ment­s­er­richtung erforderliche intellektuelle und physische Selbst­be­stim­mungs­fä­higkeit verfügen. Bei ihnen ist demzufolge der Ausschluß der Testier­mög­lichkeit nicht zum Schutz vor fremdbestimmten oder unver­ant­wort­lichen Rechts­ge­schäften erforderlich. Er ist auch zur Wahrung von Rechts­si­cherheit nicht geboten. Bei selbst­be­stim­mungs­fähigen Personen sind als milderes Mittel Beurkun­dungs­ver­fahren denkbar, die zu einer zuverlässigen Feststellung des letzten Willens führen. So kann etwa durch die Heranziehung weiterer neutraler Personen in ausreichendem Maße kontrolliert werden, ob der beurkundende Notar die Testier­fä­higkeit des schreib- und sprechunfähigen Erblassers richtig einschätzt und seine Willen­s­er­klä­rungen zutreffend deutet.

Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 )

Die geltenden Formvor­schriften für Testamente verletzen im Hinblick auf schreibunfähige Stumme auch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleich­be­handlung besteht darin, daß ein verheirateter oder verlobter schrei­b­un­fähiger Stummer im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags ausnahmsweise letztwillige Verfügungen treffen kann, ein alleinstehender schrei­b­un­fähiger Stummer hingegen nicht. Der Senat führt aus, daß für diese Ungleich­be­handlung keine recht­fer­ti­genden Gründe ersichtlich sind.

Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)

Die Formvor­schriften führen auch zu einer unzulässigen Benachteiligung Behinderter.

Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleich­be­handlung. Behinderte werden z.B. benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betäti­gungs­mög­lich­keiten vorenthalten, welche anderen Menschen offenstehen.

Da die gesetzlichen Former­for­dernisse für letztwillige Verfügungen dazu führen, daß schreib- und sprechunfähige Behinderte in ihren Testier­mög­lich­keiten erheblich beeinträchtigt werden, liegt eine solche Verschlech­terung der Lebenssituation Behinderter im Vergleich zur Lebenssituation Nicht­be­hin­derter vor.

Diese Ungleich­be­handlung ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. Zwar kann das Benach­tei­li­gungs­verbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht ohne jede Einschränkung gelten. Fehlen einer Person gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung des Rechts kein Verstoß gegen das Benach­tei­li­gungs­verbot. Eine rechtliche Schlech­ter­stellung Behinderter ist danach jedoch nur zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen. Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerläßlich sein, um behin­de­rungs­be­zogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Solche behin­de­rungs­be­dingten Besonderheiten liegen bei der Testa­ment­s­er­richtung aber nur in den Fällen vor, in denen schreib- und sprechunfähige Personen nicht die dafür erforderliche Einsichts- oder Handlungs­fä­higkeit besitzen. Besitzen schreib- und sprechunfähige Behinderte indes die nötige intellektuelle und physische Selbst­be­stim­mungs­fä­higkeit, werden sie durch die gesetzlichen Formvor­schriften über die Testa­ment­s­er­richtung in unzulässiger Weise benachteiligt.

Folgen der Entscheidung

a) Die Formvor­schriften der §§ 2232, 2233 BGB, 31 BeurkG dürfen fortan nicht mehr auf schreib- und sprechunfähige Behinderte, die geistig und körperlich zu einer Testa­ment­s­er­richtung in der Lage sind, angewendet werden. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung können schreib- und sprechunfähige Personen künftig mit notarieller Hilfe letztwillige Verfügungen (Testamente, Erbverträge etc.) errichten. Ihr letzter Wille kann für eine Übergangszeit in der Weise notariell beurkundet werden, wie es bei rechts­ge­schäft­lichen Erklärungen unter Lebenden nach den Vorschriften des BeurkG geregelt ist.

b) Bereits errichtete letztwillige Verfügungen schreib- und sprechunfähiger Personen müssen jedenfalls dann als rechtswirksam anerkannt werden, wenn sie den Anforderungen der §§ 22 bis 26 BeurkG genügen.

Ist der Erbfall bereits in der Vergangenheit eingetreten, dann müssen die Gerichte allerdings berücksichtigen, daß die Belange der Rechts­si­cherheit und des Vertrau­ens­schutzes im Einzelfall der Berufung auf die verfas­sungs­mäßige Rechtslage entgegenstehen können. Rechtskräftig abgeschlossene Verfahren bleiben grundsätzlich unberührt. Ferner folgt aus dem Grundsatz des Vertrau­ens­schutzes, daß die Berufung auf die verfas­sungs­mäßige Rechtslage ausgeschlossen sein kann, wenn sich der testa­men­ta­rische Erbe in der Vergangenheit - anders als im Ausgangs­ver­fahren - nicht auf die Verfas­sungs­wid­rigkeit der gesetzlichen Formvor­schriften berufen und der durch die Formvor­schriften Begünstigte in schutzwürdiger Weise auf die gesetzliche Regelung vertraut hat. Da die Verfas­sungs­mä­ßigkeit des Testieraus­schlusses in der Literatur im wesentlichen erst seit 1991 in Zweifel gezogen wird, wird unter den genannten Voraussetzungen eine von den bisherigen gesetzlichen Formvor­schriften abweichende Beurteilung eines Testaments als wirksam für die vor dem Jahre 1991 liegenden Erbfälle regelmäßig aus Vertrau­ens­schutz­gründen ausscheiden.

Auszug aus dem Gesetz:

§ 2232 BGB

Zur Niederschrift eines Notars wird ein Testament errichtet, indem der Erblasser dem Notar seinen letzten Willen mündlich erklärt oder ihm eine Schrift mit der Erklärung übergibt, daß die Schrift seinen letzten Willen enthalte. Der Erblasser kann die Schrift offen oder verschlossen übergeben; sie braucht nicht von ihm geschrieben zu sein.

§ 2233 Abs. 2 BGB

Ist der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht imstande, Geschriebenes zu lesen, so kann er das Testament nur durch mündliche Erklärung errichten.

§ 2233 Abs. 3 BGB

Vermag der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu sprechen, so kann er das Testament nur durch Übergabe einer Schrift errichten.

§ 31 BeurkG Übergabe einer Schrift durch Stumme

Ein Erblasser, der nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu sprechen vermag (§ 2233 Abs. 3 BGB), muß die Erklärung, daß die übergebene Schrift seinen letzten Willen enthalte, bei der Verhandlung eigenhändig in die Niederschrift oder auf ein besonderes Blatt schreiben, das der Niederschrift beigefügt werden soll. Das eigenhändige Niederschreiben der Erklärung soll in der Niederschrift festgestellt werden. Die Niederschrift braucht von dem behinderten Beteiligten nicht besonders genehmigt zu werden.

§ 24 BeurkG

Besonderheiten für Taube und Stumme, mit denen eine schriftliche Verständigung nicht möglich ist.

(1) Vermag ein Beteiligter nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu hören oder zu sprechen und sich auch nicht schriftlich zu verständigen, so soll der Notar dies in der Niederschrift feststellen. Wird in der Niederschrift eine solche Feststellung getroffen, so muß zu der Beurkundung eine Vertrau­ens­person zugezogen werden, die sich mit dem behinderten Beteiligten zu verständigen vermag; in der Niederschrift soll festgestellt werden, daß dies geschehen ist. Die Niederschrift soll auch von der Vertrau­ens­person unterschrieben werden.

(2) Die Beurkundung von Willen­s­er­klä­rungen ist insoweit unwirksam, als diese darauf gerichtet sind, der Vertrau­ens­person einen rechtlichen Vorteil zu verschaffen.

(3) Das Erfordernis, nach § 22 einen Zeugen oder zweiten Notar zuzuziehen, bleibt unberührt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BVerfG vom 12.03.1999

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