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Bundesverfassungsgericht Urteil19.01.1999
Schreib- und sprechunfähige Personen dürfen nicht ausnahmslos von der Errichtung eines Testaments ausgeschlossen werden
Der Erste Senat des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren festgestellt, daß der generelle Ausschluß schreib- und sprechunfähiger Personen von der Möglichkeit, ein Testament zu errichten (Testiermöglichkeit), gegen die Verfassung verstößt.
In diesem Umfang sind die entsprechenden Vorschriften (§§ 2232 und 2233 BGB, § 31 Beurkundungsgesetz; BeurkG) mit Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz), Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Verbot der Benachteiligung Behinderter) sowie mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG (Erbrechtsgarantie), unvereinbar.
I. Rechtslage
Schreibunfähige Stumme können nach den erbrechtlichen Vorschriften kein Testament errichten, weder handschriftlich noch notariell. Die maßgeblichen Vorschriften der §§ 2232, 2233, 2247 BGB, 31 BeurkG setzen stets ein gewisses Maß an Sprech- oder Schreibfähigkeit voraus (vgl. Anlage). Nach dem Willen der Väter des BGB sollten schreib- und sprechunfähige Personen keine Testamente errichten können. Schreibunfähige Stumme seien nur in der Lage, sich durch Zeichen verständlich zu machen. Auf diese Weise lasse sich jedoch der Wille des Erblassers nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit ermitteln.
Im Gegensatz dazu können schreibunfähige Stumme Rechtsgeschäfte unter Lebenden vornehmen. Sie können mit notarieller Hilfe etwa Grundstücke kaufen und Eheverträge schließen (§ 24 BeurkG). Dies geschieht dadurch, daß der Notar neben einem Zeugen eine Vertrauensperson des schreibunfähigen Stummen beizieht, die bei der Übersetzung der Zeichen behilflich ist. Da auch für einen gemischten Ehe- und Erbvertrag gemäß § 2276 Abs. 2 BGB die Formvorschriften für Rechtsgeschäfte unter Lebenden gelten, können verheiratete oder verlobte schreibunfähige Stumme auf diese Weise im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags letztwillige Verfügungen treffen.
II. Sachverhalt
Ein infolge eines Schlaganfalls gelähmter Mann, der nicht mehr sprechen und schreiben, wohl aber hören und sich durch Zeichen verständigen konnte, setzte 1982 eine Bekannte, die ihn gepflegt hatte, durch notarielle Erklärung zur Alleinerbin ein. Neben dem beurkundenden Notar waren ein zweiter Notar als Zeuge und ein Arzt als Vertrauensperson anwesend. Beide Notare und der behandelnde Arzt kamen zu der Überzeugung, daß der Mann testierfähig sei und die Bekannte zur Alleinerbin einsetzen wolle. Nach dem Tod des Mannes im Jahre 1989 focht dessen Tochter das Testament an. Landgericht und Oberlandesgericht (OLG) gaben ihr recht. Ein Stummer könne nach § 31 BeurkG ein Testament nur durch Übergabe einer Schrift errichten, wenn er die schriftliche Erklärung abgebe, daß diese Schrift seinen letzten Willen enthalte. Daraus folge, daß ein schreibunfähiger Stummer nicht testieren könne.
Gegen das Urteil des OLG vom Oktober 1994 - sowie mittelbar gegen die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften - erhoben gesetzliche Erben der zwischenzeitlich verstorbenen Bekannten des Erblassers Verfassungsbeschwerde und rügten eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 und Art. 14 Abs. 1 GG.
III. Senatsentscheidung
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der generelle Ausschluß schreibunfähiger Stummer von jeder Testiermöglichkeit verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 sowie gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 S. 2 GG. Menschen, die in geistiger Hinsicht zu einer eigenverantwortlichen letztwilligen Verfügung in der Lage sind, dürfen nicht allein deswegen an der Testierung von Rechts wegen gehindert werden, weil sie aus körperlichen Gründen nur über eingeschränkte Verständigungsmöglichkeiten verfügen.
Zur Begründung heißt es weiter:
Erbrechtsgarantie (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG)
Das Erfordernis der schriftlichen oder mündlichen Bestätigung des notariellen Testaments verletzt bei schreibunfähigen Stummen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit der Anwendung der Formvorschriften die an sich legitimen Gemeinwohlzwecke der Rechtssicherheit und des Schutzes nicht selbstbestimmungsfähiger Menschen. Der mit dem Formzwang bewirkte Testierausschluß ist jedoch verfassungsrechtlich nur dann erforderlich, wenn eine hinreichend gesicherte Verständigung mit schreibunfähigen Stummen nicht möglich ist oder ihnen das für die Testamentserrichtung nötige geistige Verständnis fehlt.
Die generelle Annahme des Gesetzgebers, daß es allen schreibunfähigen Stummen an der für die Testamentserrichtung erforderlichen Handlungsund Einsichtsfähigkeit mangelt, ist jedoch unzutreffend. Wie gerade der konkrete Fall zeigt, gibt es durchaus schreib- und sprechunfähige Personen, die über die für eine Testamentserrichtung erforderliche intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen. Bei ihnen ist demzufolge der Ausschluß der Testiermöglichkeit nicht zum Schutz vor fremdbestimmten oder unverantwortlichen Rechtsgeschäften erforderlich. Er ist auch zur Wahrung von Rechtssicherheit nicht geboten. Bei selbstbestimmungsfähigen Personen sind als milderes Mittel Beurkundungsverfahren denkbar, die zu einer zuverlässigen Feststellung des letzten Willens führen. So kann etwa durch die Heranziehung weiterer neutraler Personen in ausreichendem Maße kontrolliert werden, ob der beurkundende Notar die Testierfähigkeit des schreib- und sprechunfähigen Erblassers richtig einschätzt und seine Willenserklärungen zutreffend deutet.
Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 )
Die geltenden Formvorschriften für Testamente verletzen im Hinblick auf schreibunfähige Stumme auch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleichbehandlung besteht darin, daß ein verheirateter oder verlobter schreibunfähiger Stummer im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags ausnahmsweise letztwillige Verfügungen treffen kann, ein alleinstehender schreibunfähiger Stummer hingegen nicht. Der Senat führt aus, daß für diese Ungleichbehandlung keine rechtfertigenden Gründe ersichtlich sind.
Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)
Die Formvorschriften führen auch zu einer unzulässigen Benachteiligung Behinderter.
Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleichbehandlung. Behinderte werden z.B. benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen Menschen offenstehen.
Da die gesetzlichen Formerfordernisse für letztwillige Verfügungen dazu führen, daß schreib- und sprechunfähige Behinderte in ihren Testiermöglichkeiten erheblich beeinträchtigt werden, liegt eine solche Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter im Vergleich zur Lebenssituation Nichtbehinderter vor.
Diese Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Zwar kann das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht ohne jede Einschränkung gelten. Fehlen einer Person gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung des Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach jedoch nur zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen. Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerläßlich sein, um behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Solche behinderungsbedingten Besonderheiten liegen bei der Testamentserrichtung aber nur in den Fällen vor, in denen schreib- und sprechunfähige Personen nicht die dafür erforderliche Einsichts- oder Handlungsfähigkeit besitzen. Besitzen schreib- und sprechunfähige Behinderte indes die nötige intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit, werden sie durch die gesetzlichen Formvorschriften über die Testamentserrichtung in unzulässiger Weise benachteiligt.
Folgen der Entscheidung
a) Die Formvorschriften der §§ 2232, 2233 BGB, 31 BeurkG dürfen fortan nicht mehr auf schreib- und sprechunfähige Behinderte, die geistig und körperlich zu einer Testamentserrichtung in der Lage sind, angewendet werden. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung können schreib- und sprechunfähige Personen künftig mit notarieller Hilfe letztwillige Verfügungen (Testamente, Erbverträge etc.) errichten. Ihr letzter Wille kann für eine Übergangszeit in der Weise notariell beurkundet werden, wie es bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen unter Lebenden nach den Vorschriften des BeurkG geregelt ist.
b) Bereits errichtete letztwillige Verfügungen schreib- und sprechunfähiger Personen müssen jedenfalls dann als rechtswirksam anerkannt werden, wenn sie den Anforderungen der §§ 22 bis 26 BeurkG genügen.
Ist der Erbfall bereits in der Vergangenheit eingetreten, dann müssen die Gerichte allerdings berücksichtigen, daß die Belange der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes im Einzelfall der Berufung auf die verfassungsmäßige Rechtslage entgegenstehen können. Rechtskräftig abgeschlossene Verfahren bleiben grundsätzlich unberührt. Ferner folgt aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, daß die Berufung auf die verfassungsmäßige Rechtslage ausgeschlossen sein kann, wenn sich der testamentarische Erbe in der Vergangenheit - anders als im Ausgangsverfahren - nicht auf die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Formvorschriften berufen und der durch die Formvorschriften Begünstigte in schutzwürdiger Weise auf die gesetzliche Regelung vertraut hat. Da die Verfassungsmäßigkeit des Testierausschlusses in der Literatur im wesentlichen erst seit 1991 in Zweifel gezogen wird, wird unter den genannten Voraussetzungen eine von den bisherigen gesetzlichen Formvorschriften abweichende Beurteilung eines Testaments als wirksam für die vor dem Jahre 1991 liegenden Erbfälle regelmäßig aus Vertrauensschutzgründen ausscheiden.
Auszug aus dem Gesetz:
§ 2232 BGB
Zur Niederschrift eines Notars wird ein Testament errichtet, indem der Erblasser dem Notar seinen letzten Willen mündlich erklärt oder ihm eine Schrift mit der Erklärung übergibt, daß die Schrift seinen letzten Willen enthalte. Der Erblasser kann die Schrift offen oder verschlossen übergeben; sie braucht nicht von ihm geschrieben zu sein.
§ 2233 Abs. 2 BGB
Ist der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht imstande, Geschriebenes zu lesen, so kann er das Testament nur durch mündliche Erklärung errichten.
§ 2233 Abs. 3 BGB
Vermag der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu sprechen, so kann er das Testament nur durch Übergabe einer Schrift errichten.
§ 31 BeurkG Übergabe einer Schrift durch Stumme
Ein Erblasser, der nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu sprechen vermag (§ 2233 Abs. 3 BGB), muß die Erklärung, daß die übergebene Schrift seinen letzten Willen enthalte, bei der Verhandlung eigenhändig in die Niederschrift oder auf ein besonderes Blatt schreiben, das der Niederschrift beigefügt werden soll. Das eigenhändige Niederschreiben der Erklärung soll in der Niederschrift festgestellt werden. Die Niederschrift braucht von dem behinderten Beteiligten nicht besonders genehmigt zu werden.
§ 24 BeurkG
Besonderheiten für Taube und Stumme, mit denen eine schriftliche Verständigung nicht möglich ist.
(1) Vermag ein Beteiligter nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht hinreichend zu hören oder zu sprechen und sich auch nicht schriftlich zu verständigen, so soll der Notar dies in der Niederschrift feststellen. Wird in der Niederschrift eine solche Feststellung getroffen, so muß zu der Beurkundung eine Vertrauensperson zugezogen werden, die sich mit dem behinderten Beteiligten zu verständigen vermag; in der Niederschrift soll festgestellt werden, daß dies geschehen ist. Die Niederschrift soll auch von der Vertrauensperson unterschrieben werden.
(2) Die Beurkundung von Willenserklärungen ist insoweit unwirksam, als diese darauf gerichtet sind, der Vertrauensperson einen rechtlichen Vorteil zu verschaffen.
(3) Das Erfordernis, nach § 22 einen Zeugen oder zweiten Notar zuzuziehen, bleibt unberührt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 01.04.2005
Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BVerfG vom 12.03.1999
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