18.10.2024
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Dokument-Nr. 21112

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Beschluss29.04.2015Bundesverfassungsgericht1 BvR 1849/11
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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.04.2015

Ablehnung eines Beratungs­hilfe­antrags erfordert förmliche EntscheidungRechtspfleger darf nicht nur mündliche Hinweise geben

Wird einem Antrag auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungs­hilfe­gesetz nicht in vollem Umfang entsprochen, muss hierüber grundsätzlich förmlich entschieden werden. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht in einem Beschluss bekräftigt.

Dem Gebot der Rechts­schutz­gleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG genügt es nicht, wenn das Amtsgericht den Beratungshilfeantrag nach Erteilung mündlicher Hinweise durch den Rechtspfleger als erledigt erachtet, obwohl ausdrücklich eine anwaltliche Beratung gewünscht war. Zudem überdehnt die Verweisung auf die Beratungsstelle der Behörde, gegen die Widerspruch eingelegt werden soll, den Begriff der „Zumutbarkeit“ vorrangiger anderer Hilfs­mög­lich­keiten. Einer Verfas­sungs­be­schwerde hat die Kammer stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang

Die Beschwer­de­führerin beantragte beim Amtsgericht einen Berech­ti­gungs­schein für eine anwaltliche Beratung nach dem Beratungs­hil­fe­gesetz. Ihr Antrag auf Erwer­bs­min­de­rungsrente aus der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung war abgelehnt worden; hiergegen wollte sie - mit anwaltlicher Hilfe - Widerspruch einlegen. Der Rechtspfleger beim Amtsgericht wies die Beschwer­de­führerin mündlich darauf hin, dass sie Widerspruch bei der Renten­ver­si­cherung einlegen oder sich an die Auskunfts- und Beratungsstelle der Renten­ver­si­cherung wenden könne. Er stellte weder einen Berech­ti­gungs­schein aus noch beschied er den Antrag förmlich.

Die Beschwer­de­führerin legte hiergegen „Erinnerung, hilfsweise Beschwerde“ beim Amtsgericht ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Wider­spruchs­ver­fahren ohne anwalt­lichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim Amtsgericht wies die Erinnerung mit Beschluss vom 10. Juni 2011 zurück. Die Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit erledigt; die Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht.

Entscheidung des Amtsgerichts verstößt gegen Gebot der Rechts­schutz­gleichheit

Der Beschluss des Amtsgerichts vom 10. Juni 2011 verstößt gegen das Gebot der Rechts­schutz­gleichheit, stellte das Bundes­ver­fas­sungs­gericht fest. Die Auslegung und Anwendung des Beratungs­hil­fe­ge­setzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann hier nur dann eingreifen, wenn Verfas­sungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit beruhen. Die Fachgerichte überschreiten ihren Entschei­dungs­spielraum erst dann, wenn sie einen Ausle­gungs­maßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechts­ver­folgung oder Rechts­ver­tei­digung unver­hält­nismäßig erschwert wird. Dabei müssen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen und insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfah­rens­rechte brauchen oder diese selbst geltend machen können.

Berech­ti­gungs­schein hätte erteilt werden müssen

Diesen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügt der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts nicht. Das Amtsgericht hätte den beantragten Berech­ti­gungs­schein erteilen müssen. Das Amtsgericht durfte nicht davon ausgehen, dass sich das Beratungs­hil­fe­be­gehren aufgrund der Hinweise des Rechtspflegers erledigt hat, da die Beschwer­de­führerin ausdrücklich einen Beratungs­hil­fe­schein für die Konsultation eines Rechtsanwalts beantragt hatte. Zudem wird der Verweis auf Selbsthilfe dem Anspruch der Beschwer­de­führerin auf Rechts­schutz­gleichheit nicht gerecht. Aufgrund des mit der Erinnerung von der Beschwer­de­führerin vorgetragenen Sachverhalts war hinreichend deutlich, dass das von ihr beabsichtigte Wider­spruchs­ver­fahren tatsächliche und rechtliche Fragen aufwirft, für deren Klärung auch ein kostenbewusster solventer Rechtsuchender einen Rechtsanwalt in Anspruch nähme anstatt selbst Widerspruch zu erheben.

Rechtspfleger hätte über Beratungs­hil­feantrag entscheiden müssen

Auch soweit das Amtsgericht es für zumutbar erachtet hat, die Beratungsstelle des Renten­ver­si­che­rungs­trägers in Anspruch zu nehmen, wird die Rechts­schutz­gleichheit der Beschwer­de­führerin verletzt. Wie das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits entschieden hat, wird der Begriff der Zumutbarkeit von den Fachgerichten überdehnt, wenn ein Rechtsuchender für das Wider­spruchs­ver­fahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet. Da sich der Beratungs­hil­feantrag nicht durch die Erteilung der Hinweise erledigt hat, hätte der Rechtspfleger über ihn entscheiden müssen. Die hiervon abweichende Vorgehensweise des Rechtspflegers erschwert ohne erkennbaren Sachgrund den Zugang der Beschwer­de­führerin zu Rechtsberatung für das von ihr beabsichtigte Wider­spruchs­ver­fahren. Sie erschwert auch generell die Durchsetzung des Anspruchs auf Beratungshilfe, weil ein vor Bewilligung von Beratungshilfe in der Regel noch nicht anwaltlich vertretener Antragsteller mangels eines mit Rechts­be­helfs­be­lehrung versehenen Beschlusses nicht ohne weiteres weiß, dass und wie er gegen die Versagung der Beratungshilfe vorgehen kann.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht (pm/pt)

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