18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.06.2016

Verfassungs­beschwerde gegen Versagung von Schmerzensgeld nach rechtswidriger Freiheits­ent­ziehung erfolgreichAbweisung der Schaden­s­er­satzklage durch das Landgericht stellt Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts und des Rechts auf Freiheit der Person dar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde gegen die Abweisung einer Schmer­zens­geldklage stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Im Ausgangs­ver­fahren klagte der Beschwer­de­führer erfolglos auf Zahlung eines Schmer­zens­geldes, weil er im Zusammenhang mit Protesten gegen einen Castortransport rechtswidrig in Gewahrsam genommen worden war. Das Bundes­verfassungs­gericht entschied, dass die Klageabweisung den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persönlichkeits­recht und in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt, da das Landgericht insbesondere die Bedeutung der Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles einbezogen hat.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwer­de­führer nahm vom 26. auf den 27. November 2011 anlässlich eines Castor­transports an der Blockade einer Bahnstrecke teil. Der Aufforderung der Polizei, sich zu entfernen, kam der Beschwer­de­führer nicht nach. Daraufhin verbrachte die Polizei ihn in eine naheliegende Gewahr­sam­sein­richtung, die er gegen Mittag des folgenden Tages wieder verlassen konnte. Auf Antrag des Beschwer­de­führers stellte das zuständige Landgericht zunächst fest, dass die Freiheitsentziehung wegen Verstoßes gegen den Richter­vor­behalt rechtswidrig gewesen war. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme als solcher ließ das Landgericht offen. Die hierauf erhobene Klage auf Zahlung eines Schmer­zens­geldes wies das Landgericht mit angefochtenem Urteil ab. Die Gehörsrüge blieb ebenfalls ohne Erfolg. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügte der Beschwer­de­führer vornehmlich eine Verletzung seines Grundrechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und seiner Versamm­lungs­freiheit (Art. 8 Abs. 1 GG).

Geldent­schä­digung wegen rechtswidrigem Freiheitsentzug zu Unrecht verneint

Das Bunde­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht einen Anspruch des Beschwer­de­führers auf Geldentschädigung für den erlittenen rechtswidrigen Freiheitsentzug verneint hat, der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht werden.

Schutzauftrag des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts wird durch Anspruch auf Ausgleich immaterieller Schäden verwirklicht

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts durch den Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens verwirklicht wird. Dies gilt nicht weniger, wenn auch das Grundrecht auf Freiheit der Person betroffen ist. Dass eine Geldent­schä­digung wegen der Verletzung immaterieller Persön­lich­keits­be­standteile nach der zivil­ge­richt­lichen Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung einer hinreichenden Schwere und des Fehlens einer anderweitigen Genug­tu­ungs­mög­lichkeit beansprucht werden kann, ist verfas­sungs­rechtlich und auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unbedenklich.

Landgericht verkennt nachhaltige Beein­träch­tigung durch rechtswidrige Festsetzung des Beschwer­de­führers

In den angegriffenen Entscheidungen verkennt das Landgericht die Anforderungen an die Verwirklichung des grund­recht­lichen Schutzes, indem es seine Auffassung, dass die von dem Beschwer­de­führer erlittene Rechtseinbuße durch die gerichtliche Feststellung der Rechts­wid­rigkeit des Gewahrsams hinreichend ausgeglichen sei, allein auf eine Würdigung der Umstände der Durchführung des Gewahrsams gestützt hat. Demgegenüber wird die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles einbezogen. Zu beanstanden ist insbesondere, dass das Landgericht in der mindestens achtstündigen rechtswidrigen Festsetzung des Beschwer­de­führers keine nachhaltige Beein­träch­tigung gesehen hat, ohne die abschreckende Wirkung zu erwägen, die einer derartigen Behandlung für den künftigen Gebrauch des Rechts auf Versamm­lungs­freiheit zukommen kann. Soweit das Landgericht zur Begründung der Abweisung der Geldent­schä­digung auf den Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 11. November 2009 Bezug nimmt und ausführt, die Fallge­stal­tungen seien nicht vergleichbar, da sich der Beschwer­de­führer im vorliegenden Verfahren rechtswidrig im Bereich des Bahnkörpers aufgehalten habe, verkennt es, dass dies für die verfas­sungs­rechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit, Durchführung und Dauer der Ingewahr­samnahme gerade des Beschwer­de­führers unbeachtlich ist.

Entschädigung kann nicht mit Hinweis auf Verzögerungen aufgrund von Abwick­lungs­pro­blemen der Polizei verneint werden

Das Absehen von einer Entschädigung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die durchgeführte Freiheits­ent­ziehung ohne richterliche Entscheidung lediglich ein Abwick­lungs­problem der Polizei angesichts der großen Anzahl festgesetzter Versamm­lungs­teil­nehmer war. Die Polizei hat vielmehr über viele Stunden nicht die gebotenen Anstrengungen unternommen, um eine richterliche Entscheidung herbeizuführen oder die Festsetzung zu beenden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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