23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.11.2019

Recht auf Vergessen: Online-Pressearchive können zu Schutz­vor­keh­rungen gegen zeitlich unbegrenzte Verbreitung perso­nen­be­zogener Berichte durch Suchmaschinen verpflichtet seinBei Abwägung zwischen Persön­lich­keits­rechten und Pressefreiheit muss besonders zeitlicher Aspekt beachtet werden

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass sich Schutzansprüche gegenüber der Verbreitung von alten Presseberichten in einem Online-Archiv nach einer Abwägung der sich gegen­über­ste­henden Grundrechte richten, bei der der Zeit unter den Kommunikations­bedingungen des Internets besonderes Gewicht zukommt ("Recht auf Vergessen"). Dabei ist zu berücksichtigen, wieweit dem Verlag Mittel zu Gebote stehen, zum Schutz der Betroffenen auf die Verbreitung der alten Berichte im Internet - insbesondere auf deren Auffindbarkeit durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen - Einfluss zu nehmen. Gestützt sind solche Ansprüche in Abgrenzung von dem Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung auf die äußerungs­recht­lichen Schutz­di­men­sionen des allgemeinen Persönlich­keits­rechts.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht auf hoher See zwei Menschen erschossen hatte. Über den Fall veröffentlichte DER SPIEGEL 1982 und 1983 unter Ausein­an­der­setzung mit der Person des namentlich genannten Beschwer­de­führers drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die beklagte Spiegel Online GmbH die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangs­bar­rieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Beschwer­de­führers in einem gängigen Inter­net­such­portal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.

BGH: Schutz der Persönlichkeit muss hinter Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit und Recht auf freie Meinung­s­äu­ßerung zurücktreten

Nachdem der 2002 aus der Haft entlassene Beschwer­de­führer erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröf­fent­lichung erlangt hatte, erhob er nach erfolgloser Abmahnung Unter­las­sungsklage mit dem Antrag, es der Beklagten zu untersagen, über die Straftat unter Nennung seines Familiennamens zu berichten. Der Bundes­ge­richtshof wies die Klage ab. Im Streitfall habe das Interesse des Beschwer­de­führers am Schutz seiner Persönlichkeit hinter dem von der Beklagten verfolgten Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinung­s­äu­ßerung zurückzutreten. Die Öffentlichkeit besitze ein anerken­nens­wertes Interesse daran, sich über vergangene zeitge­schichtliche Ereignisse wie den A.-Prozess, der untrennbar mit Person und Namen des Beschwer­de­führers verbunden sei, anhand unveränderter Origi­nal­be­richte zu informieren.

Beschwer­de­führer rügt schwerwiegende Beein­träch­tigung der Entfaltung seiner Persönlichkeit

Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung seines allgemeinen Persön­lich­keits­rechts. Er sei selbst mit seiner Tat nicht wieder ins Licht der Öffentlichkeit getreten und wolle heute davon unbelastet seine Sozial­be­zie­hungen gestalten. Demgegenüber würden Dritte bei Eingabe seines Namens im Rahmen einer Suchmaschinen-Recherche, wie sie heute weithin üblich sei, an erster Stelle auf diese Berichte gelenkt. Dies beeinträchtige ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit schwerwiegend. Der damalige Mordprozess stelle zwar unbestreitbar ein zeitge­schicht­liches Ereignis dar; daraus folge nach so langer Zeit jedoch nicht zwingend ein fortdauerndes öffentliches Interesse an der Nennung seines Namens.

BVerfG prüft primär deutsche Grundrechte bei gleichzeitiger Geltung der Unions­grund­rechte

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verwies darauf, dass das Verfahren zunächst Anlass gibt, den verfas­sungs­ge­richt­lichen Prüfungsmaßstab der Grundrechte des Grundgesetzes im Kontext des Unionsrechts näher zu bestimmen und diesen im Verhältnis zu möglichen gleichzeitig geltenden Unions­grund­rechten zu präzisieren.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht prüft inner­staat­liches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwen­dungs­bereich des Unionsrechts liegt, dabei aber - wie hier - durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das gilt auch, soweit im Einzelfall nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh daneben auch die Grund­recht­echarta der Europäischen Union Geltung beansprucht.

Die Prüfung von Akten der deutschen öffentlichen Gewalt anhand des Grundgesetzes entspricht der allgemeinen Funktion des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, dessen Aufgabe gerade die Wahrung des Grundgesetzes ist, und zugleich Art. 23 Abs. 1 GG, der eine Mitwirkung an der Europäischen Union vorsieht, die auf föderative Grundsätze und das Prinzip der Subsidiarität verpflichtet ist. Dem entsprechen die europäischen Verträge und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Die Präambeln des Unionsvertrages und der Grund­recht­echarta anerkennen die Vielfalt der Kulturen und Traditionen, und ebenso findet der Respekt vor der Vielge­stal­tigkeit des Grund­rechts­schutzes in den Bestimmungen der Charta seinen Ausdruck. Entsprechend erklärt Art. 5 Abs. 3 EUV den Grundsatz der Subsidiarität zu den Grundprinzipien der Europäischen Union, was in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh für den Grund­rechts­schutz ausdrücklich aufgenommen wird.

Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich darauf, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestal­tungs­spielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grund­rechts­schutzes zielt, und auf die Vermutung, dass dort ein auf Vielfalt gerichtetes grund­recht­liches Schutzniveau des Unionsrechts durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitge­währ­leistet ist.

Vom Unions­ge­setzgeber belassene Gestal­tungs­spielräume gelten auch für Grund­rechts­schutz

Belässt der Unions­ge­setzgeber den Mitgliedstaaten für die Umsetzung des Unionsrechts Gestal­tungs­spielräume, ist davon auszugehen, dass dies auch für den Grund­rechts­schutz gilt. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann hier regelmäßig angenommen werden, dass das europäische Grund­rechts­schutz­niveau innerhalb eines äußeren unions­recht­lichen Rahmens Grund­rechts­vielfalt zulässt. Der Umfang, in dem Raum für verschiedene Wertungen der Mitgliedstaaten besteht, richtet sich hier maßgeblich nach dem unions­recht­lichen Fachrecht. Dieses kann für die Umsetzung mitglied­s­taat­licher Gestal­tungs­spielräume allerdings auch grundrechtliche Maßgaben enthalten. Insoweit ist das Verhältnis zwischen Fachrecht und Grundrechten im Unionsrecht weniger statisch als nach der deutschen Verfassung.

Ist anzunehmen, dass das Fachrecht auf Grund­rechts­vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das Bundes­ver­fas­sungs­gericht auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt wird, in der Regel mitge­währ­leistet ist.

Getragen ist diese Vermutung von einer übergreifenden Verbundenheit des Grundgesetzes und der Charta in einer gemeinsamen europäischen Grund­recht­s­tra­dition, die insbesondere ein Fundament in der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention hat. Entsprechend werden sowohl die Charta als auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Menschen­rechts­kon­vention ausgelegt.

Primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes lässt Grund­recht­echarta nicht unbeachtet

Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass dabei die Grund­recht­echarta ohne Berück­sich­tigung bleibt. Vielmehr sind die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen. Damit wird die Eigen­stän­digkeit der Grundrechte des Grundgesetzes ebensowenig in Frage gestellt wie ihre Auslegung auch aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte und unter Berück­sich­tigung der spezifischen Strukturen der Rechtsordnung und gesell­schaft­lichen Wirklichkeit der Bundesrepublik. Es ist nicht von vornherein gesichert, dass die Grund­rechts­ver­bür­gungen des Grundgesetzes und der Grund­recht­echarta in jeder Hinsicht deckungsgleich sind. Welche Bedeutung anderen Grund­rechts­quellen für die Auslegung der grund­ge­setz­lichen Grundrechte zukommt, ist eine Frage des Einzelfalls und hängt insbesondere auch von Rang, Inhalt und Verhältnis der aufeinander einwirkenden Rechtsnormen ab. Insoweit kann sich eine Auslegung im Licht der Charta von einer Auslegung im Licht der Menschen­rechts­kon­vention unterscheiden.

Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab für inner­staat­liches Recht gilt nicht ausnahmslos

Die alleinige Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab für inner­staat­liches Recht, das der Durchführung gestal­tungs­offenen Unionsrechts dient, gilt nicht ausnahmslos. Zum einen kann das Fachrecht, auch soweit es den Mitgliedstaaten Gestal­tungs­spielräume belässt, ausnahmsweise engere grundrechtliche Maßgaben enthalten. Zum anderen ist, soweit das Fachrecht Raum für grundrechtliche Vielfalt eröffnet, die Vermutung eines hinreichenden Grund­rechts­schutzes durch die Grundrechte des Grundgesetzes widerleglich. Unbeschadet des substantiellen Gleichklangs der Grund­rechts­ver­bür­gungen auf der Basis der Menschen­rechts­kon­vention weisen die Mitgliedstaaten in ihren Grund­rechts­über­lie­fe­rungen hinsichtlich des Ausgleichs und der Verrechtlichung von Grund­rechts­kon­flikten durch ihre Geschichte und Lebens­wirk­lichkeit geprägte Unterschiede auf, die die Charta in Ausgleich bringen, aber nicht verein­heit­lichen kann und will.

Eine Prüfung am Maßstab allein der deutschen Grundrechte ist nur dann nicht ausreichend, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte.

Anhaltspunkte dafür, dass das unions­rechtliche Fachrecht ausnahmsweise spezifische grundrechtliche Maßgaben für die mitglied­s­taat­lichen Gestal­tungs­spielräume enthalten soll, müssen sich aus dem Wortlaut und Regelungs­zu­sam­menhang des Fachrechts selbst ergeben. Einschränkungen begründen sich insoweit nicht schon daraus, dass im unions­recht­lichen Fachrecht auf die unein­ge­schränkte Achtung der Grund­recht­echarta oder einzelner ihrer Bestimmungen verwiesen wird.

Einer möglichen Widerlegung der Vermutung, dass die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes das grundrechtliche Schutzniveau der Union mitge­währ­leistet, ist ebenfalls nur bei konkreten und hinreichenden Anhaltspunkten nachzugehen. Ist erkennbar, dass der Europäische Gerichtshof spezifische Schutzstandards zugrundelegt, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet werden, so ist das in die Prüfung einzubeziehen. Dasselbe gilt, wenn sich das im Einzelfall maßgebliche Schutzniveau aus Rechten der Charta herleitet, die keine Entsprechung im Grundgesetz haben.

Bei nicht ausreichendem Schutzniveau durch deutschen Grundrechte ist Charta ausnahmsweise in Prüfung einzubeziehen

Gewährleisten die deutschen Grundrechte das Schutzniveau der Charta ausnahmsweise nicht mit, sind die entsprechenden Rechte der Charta insoweit in die Prüfung einzubeziehen. Soweit sich hierbei ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auslegung der Charta stellen, legt das Bundes­ver­fas­sungs­gericht diese dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. Andernfalls hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Unions­grund­rechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen und grundsätzlich zur Geltung zu bringen.

Die primäre Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes seitens des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellt die unmittelbare Anwendbarkeit der Grund­recht­echarta in deren Anwen­dungs­bereich nicht in Frage. Entsprechend können die Fachgerichte dem Europäischen Gerichtshof sich insoweit stellende Ausle­gungs­fragen zum Unionsrecht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vorlegen. Dies lässt unberührt, dass die Fachgerichte, soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestal­tungs­spielräume belässt, immer auch die Grundrechte des Grundgesetzes zur Anwendung zu bringen haben.

In Streit stehende Verbreitung von Presseberichten fällt unter sogenanntes Medienprivileg

In vorliegendem Verfahren bilden demnach alleine die Grundrechte des Grundgesetzes den Prüfungsmaßstab. Der nach §§ 823, 1004 BGB analog zu entscheidende Rechtsstreit befindet sich zwar im Anwen­dungs­bereich des Unionsrechts (nämlich ursprünglich der Daten­schutz­richtlinie 95/46/EG und heute der Datenschutz-Grundverordnung). Die hier in Streit stehende Verbreitung von Presseberichten fällt jedoch unter das sogenannte Medienprivileg, für dessen Ausgestaltung den Mitgliedstaaten unionsrechtlich ein Umset­zungs­spielraum zusteht. Es geht damit nicht um die Anwendung von vollständig determiniertem Unionsrecht. Anhaltspunkte, dass der Grund­rechts­schutz des Grundgesetzes hier das Schutzniveau der Grund­recht­echarta nicht abdecken würde, sind nicht ersichtlich.

Verfas­sungs­be­schwerde erfolgreich

In der Sache hatte die Verfas­sungs­be­schwerde Erfolg. Gegenstand der Verfas­sungs­be­schwerde ist die Gewährung von Grund­rechts­schutz im Verhältnis zwischen Privaten. Die Grundrechte gelten hier im Wege der mittelbaren Drittwirkung. Hierbei sind die sich gegen­über­ste­henden Grundrechte miteinander abzuwägen.

Gefährdungen für Persön­lich­keits­ent­faltung ergibt sich vornehmlich aus Form und Inhalt der Veröf­fent­lichung selbst

Auf Seiten des Beschwer­de­führers ist sein allgemeines Persön­lich­keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in seinen äußerungs­recht­lichen Schutz­di­men­sionen einzustellen, nicht aber das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung. Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht in seinen äußerungs­recht­lichen Dimensionen bietet Schutz vor einer perso­nen­be­zogenen Berich­t­er­stattung und Verbreitung von Informationen, die geeignet sind, die Persön­lich­keits­ent­faltung erheblich zu beeinträchtigen. Es schützt vor der Verbreitung perso­nen­be­zogener Berichte und Informationen im öffentlichen Raum als Ergebnis eines Kommu­ni­ka­ti­o­ns­pro­zesses. Gefährdungen für die Persön­lich­keits­ent­faltung ergeben sich hier vornehmlich aus Form und Inhalt der Veröf­fent­lichung selbst. Seine Schutzgehalte sind nicht abschließend umschriebene, voneinander abzugrenzende Gewähr­leis­tungen, sondern in Blick auf den konkreten Schutzbedarf einzel­fa­ll­bezogen und im Abgleich mit den Grundrechten Dritter heraus­zu­a­r­beiten. Der Schutz des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts ist insoweit flexibel und durch die Einbindung der Person in ihre sozialen Beziehungen relativiert. Demnach folgt aus dem Persön­lich­keitsrecht nicht ein allein dem Einzelnen überlassenes umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person. Es zielt jedoch darauf, die Grund­be­din­gungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann.

Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung stellt eigene Ausprägung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts dar

Hiervon abzugrenzen ist das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung als eigene Ausprägung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts. Auch ihm kann im Wege der mittelbaren Drittwirkung im Zivilrecht Bedeutung zukommen. Es bietet Schutz davor, dass Dritte sich individueller Daten bemächtigen und sie in nicht nachvoll­ziehbarer Weise als Instrument nutzen, um die Betroffenen auf Eigenschaften, Typen oder Profile festzulegen, auf die sie keinen Einfluss haben und die dabei aber für die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie eine gleich­be­rechtigte Teilhabe in der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Dabei unterscheidet sich seine Wirkung zwischen Privaten von seiner unmittelbar staats­ge­richteten Schutzwirkung. Insbesondere lassen sich Anforderungen und Recht­fer­ti­gungs­lasten hier nicht in gleicher Weise formal bestimmen, sondern sind in Blick auf die unter­schied­lichen Konstellationen zwischen Privaten je nach Schutzbedarf durch Abwägung zu ermitteln. Ebensowenig wie das Recht der Darstellung der eigenen Person begründet das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung ein allgemeines oder gar umfassendes Selbst­be­stim­mungsrecht über die Nutzung der eigenen Daten. Es gewährleistet den Einzelnen aber die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich und von ihnen genutzt werden. Es enthält damit die Gewährleistung, über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substantiell mitzuent­scheiden.

Verbreitung von Informationen fällt nicht immer in Bereich der Rundfunk­freiheit

Auf Seiten der Beklagten sind die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG) heranzuziehen. Demgegenüber ist die Freiheit der Rundfunk­be­rich­t­er­stattung durch die Einstellung der Berichte in ein Onlinearchiv nicht berührt. Die Verbreitung von Informationen unterfällt nicht schon immer dann der Rundfunk­freiheit, wenn sie sich dafür elektronischer Informations- und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­systeme bedient.

Grundrechte sind miteinander abzuwägen

Die sich gegen­über­ste­henden Grundrechte sind miteinander abzuwägen, wozu zunächst ihr jeweiliger Gewähr­leis­tungs­gehalt zu erfassen ist. Hierbei ist insbesondere auch den Kommu­ni­ka­ti­o­ns­be­din­gungen des Internets Rechnung zu tragen.

Zeitlicher Aspekt bei Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persön­lich­keits­rechts­schutz bedeutsam

Für die Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persön­lich­keits­rechts­schutz waren die zeitlichen Umstände schon immer bedeutsam. Während die Rechtsprechung für die aktuelle Berich­t­er­stattung über Straftaten in der Regel dem Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse den Vorrang einräumt und jedenfalls bezüglich rechtskräftig verurteilter Straftäter grundsätzlich auch identi­fi­zierende Berichte als zulässig ansieht, hat sie gleichzeitig klargestellt, dass das berechtigte Interesse an einer identi­fi­zie­renden Berich­t­er­stattung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Tat abnimmt.

Informationen bleiben heutzutage durch Digitalisierung langfristig verfügbar

Unter den heutigen Bedingungen der Infor­ma­ti­o­ns­tech­nologie und der Verbreitung von Informationen durch das Internet bekommt die Berück­sich­tigung der Einbindung von Informationen in die Zeit indes eine neue rechtliche Dimension. Während Informationen früher als Printmedien und Rundfunksen­dungen der Öffentlichkeit nur in einem engen zeitlichen Rahmen zugänglich waren und anschließend weithin in Vergessenheit gerieten, bleiben sie heute - einmal digitalisiert und ins Netz gestellt - langfristig verfügbar. Sie entfalten ihre Wirkung in der Zeit nicht nur gefiltert durch das flüchtige Erinnern im öffentlichen Diskurs fort, sondern bleiben unmittelbar für alle dauerhaft abrufbar. Die Informationen können nun jederzeit von völlig unbekannten Dritten aufgegriffen werden, werden Gegenstand der Erörterung im Netz, können dekon­tex­tu­a­lisiert neue Bedeutung erhalten und in Kombination mit weiteren Informationen zu Profilen der Persönlichkeit zusammengeführt werden, wie es insbesondere mittels Suchmaschinen durch namensbezogene Abfragen verbreitet ist.

Person muss vor unbegrenzter Vorhaltung früherer Positionen, Äußerungen und Handlungen geschützt werden

Bei der Auslegung und Anwendung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts ist dem Rechnung zu tragen. Zur Freiheit gehört es, persönliche Überzeugungen und das eigene Verhalten fortzu­ent­wickeln und zu verändern. Hierfür bedarf es eines rechtlichen Rahmens, der es ermöglicht, von seiner Freiheit unein­ge­schüchtert Gebrauch zu machen, und die Chance eröffnet, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Rechtsordnung muss deshalb davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffnet die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit. Bildlich wird dies zum Teil auch als "Recht auf Vergessen" oder als "Recht auf Vergessenwerden" bezeichnet.

"Recht auf Vergessenwerden" besteht nicht in einem grundsätzlich allein von Betroffenen beherrschbaren Sinn

Allerdings folgt aus dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht kein "Recht auf Vergessenwerden" in einem grundsätzlich allein von den Betroffenen beherrschbaren Sinn. Welche Informationen als interessant, bewundernswert, anstößig oder verwerflich erinnert werden, unterliegt insoweit nicht der einseitigen Verfügung des Betroffenen. Aus dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht folgt damit nicht das Recht, alle früheren perso­nen­be­zogenen Informationen, die im Rahmen von Kommu­ni­ka­ti­o­ns­pro­zessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet löschen zu lassen.

Begrenzung auf anonymisierte Berich­t­er­stattung würde gewichtige Beschränkung von Infor­ma­ti­o­ns­mög­lich­keiten bedeuten

Auf der Gegenseite ist dem Schutzgehalt der Meinungs- und Pressefreiheit angemessen Rechnung zu tragen. Eine Begrenzung auf eine anonymisierte Berich­t­er­stattung bedeutet eine gewichtige Beschränkung von Infor­ma­ti­o­ns­mög­lich­keiten der Öffentlichkeit sowie des Rechts der Presse, selbst zu entscheiden, worüber sie wann, wie lange und in welcher Form berichtet. Solche Archive ermöglichen einen einfachen Zugang zu Informationen und sind zugleich eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen. Auch für Bildung und Erziehung sowie für die öffentliche Debatte in der Demokratie kommt ihnen eine wichtige Rolle zu.

Betroffene müssen Schutz­be­dürf­tigkeit näher darlegen können

Für die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung gilt danach folgendes: Ein Verlag darf anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich auch in ein Onlinearchiv einstellen. Schutzmaßnahmen können erst dann geboten sein, wenn Betroffene sich an ihn gewandt und ihre Schutz­be­dürf­tigkeit näher dargelegt haben. Welche Bedeutung verstrichener Zeit für den Schutz gegenüber einer ursprünglich rechtmäßigen Veröf­fent­lichung zukommt, liegt maßgeblich in Wirkung und Gegenstand der Berich­t­er­stattung, insbesondere darin, wieweit die Berichte das Privatleben und die Entfal­tungs­mög­lich­keiten der Person als ganze beeinträchtigen. Bedeutsam ist, neben dem neu gewonnenen Kontext der Berichte und dem zwischen­zeit­lichen Verhalten des Betroffenen, in welcher Einbindung die Informationen unter den konkreten Umständen im Netz kommuniziert werden. Die Belastung der Betroffenen hängt auch daran, wieweit eine Information im Netz tatsächlich breitenwirksam gestreut, etwa wieweit sie von Suchmaschinen prioritär kommuniziert wird.

Für den Ausgleich sind zudem Abstufungen hinsichtlich der Art möglicher Schutzmaßnahmen seitens des Presseverlags zu berücksichtigen, die die sich ändernden Bedeutungen von Informationen in der Zeit abfedern. Anzustreben ist ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhält, diesen bei Schutzbedarf - insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen - aber einzel­fa­ll­bezogen doch hinreichend begrenzt.

Entscheidung hält Anforderungen an Persön­lich­keits­schutz nicht stand

Die angegriffene Entscheidung hält diesen Anforderungen nicht in jeder Hinsicht stand. Vorliegend wäre in Betracht zu ziehen gewesen, ob dem beklagten Presse­un­ter­nehmen auf die Anzeige des Beschwer­de­führers hin zumutbare Vorkehrungen hätten auferlegt werden können und müssen, die zumindest gegen die Auffindbarkeit der Berichte durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen einen gewissen Schutz bieten, ohne die Auffindbarkeit und Zugänglichkeit des Berichts im Übrigen übermäßig zu hindern.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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