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Dokument-Nr. 31218

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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.12.2021

Bundesregierung muss Gesetz für Triage-Regelung treffenDer Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen

Das Bundes­ver­fassungs­gericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überle­bens­wichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensiv­medizinischer Behand­lungs­ressourcen benachteiligt wird.

Die Beschwer­de­füh­renden sind schwer und teilweise schwerst behindert und überwiegend auf Assistenz angewiesen. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde begehren sie einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung inten­siv­me­di­zi­nischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behand­lungs­be­dürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage. Sie sind der Auffassung, der Gesetzgeber schütze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung. Der Erste Senat hatte hier einzig zu entscheiden, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, wirksame Vorkehrungen zu treffen, dass niemand in einem Fall einer Triage aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird.

Da der Gesetzgeber solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen hat, hat er die aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hier wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) folgende konkrete Handlungs­pflicht verletzt. Der Gesetzgeber muss - auch im Lichte der Behin­der­ten­rechts­kon­vention - dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper inten­siv­me­di­zi­nischer Behand­lungs­res­sourcen hinreichend wirksam verhindert wird. Er ist gehalten, dieser Handlungs­pflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen. Bei der konkreten Ausgestaltung kommt ihm ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielraum zu.

Sachverhalt:

Behinderte Menschen mit bestimmten Beein­träch­ti­gungen und Vorerkrankungen sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infek­ti­o­ns­risiko, und sie tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben. Um in der Pandemie auftretende Knapp­heits­si­tua­tionen in der Intensivmedizin und damit eine Triage von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert. Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender inten­siv­me­di­zi­nischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht. Weithin finden jedoch standardisierte Entschei­dungs­hilfen Anwendung.

Die Beschwer­de­füh­renden rügen mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde, dass der Gesetzgeber das Benach­tei­li­gungs­verbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auch die Anforderungen aus Artikel 25 der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­vention verletze, weil er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen habe, um sie wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Der Senat hat sachkundigen Dritten Gelegenheit gegeben, Stellung zu nehmen.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Aus dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung zu schützen, der sich in bestimmten Konstellationen zu einer konkreten Handlungs­pflicht des Gesetzgebers verdichtet.

a) Eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt vor, wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Gemeint sind nicht geringfügige Beein­träch­ti­gungen, sondern längerfristige Einschränkungen von Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an. Das Grundrecht schützt daher auch chronisch Kranke, die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt sind. Da ein Beschwer­de­führer zwar eine chronische Krankheit belegt, aber nicht zu den Beein­träch­ti­gungen vorgetragen hatte, war die Verfas­sungs­be­schwerde insoweit unzulässig.

b) Das Grundrecht des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat mehrere Schutz­di­men­sionen. Es schützt abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung, enthält das Gebot, die Benachteiligung wegen einer Behinderung durch Fördermaßnahmen auszugleichen und ist als objektive Wertent­scheidung in allen Rechtsgebieten zu beachten. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt darüber hinaus ein Schutzauftrag für den Gesetzgeber. Ihn trifft damit keine umfassende, auf die gesamte Lebens­wirk­lichkeit behinderter Menschen und ihres Umfelds bezogene Handlungs­pflicht. Doch kann sich der Schutzauftrag in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutz­be­dürf­tigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Zu solchen Konstellationen gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung oder eine Situation struktureller Ungleichheit. Zudem kann eine Handlungs­pflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).

c) Die Verletzung einer Schutzpflicht ist allerdings aufgrund des weiten gesetz­ge­be­rischen Spielraums zur Ausgestaltung des Schutzes nur begrenzt überprüfbar. Sie kann nur festgestellt werden, wenn Schutz­vor­keh­rungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Dem Gesetzgeber steht hier grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielraum zu.

Verfas­sungs­be­schwerde erweist sich als begründet

1. Besteht das Risiko, dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung inten­siv­me­di­zi­nischer Behand­lungs­res­sourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen. In einer Rechtsordnung, die auf eine gleich­be­rechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist, kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden, der die Betroffenen nicht ausweichen können und die unmittelbar zu einer Gefährdung der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als überragend bedeutsam geschützten Rechtsgüter Gesundheit und Leben führt. Die Betroffenen können sich in einer solchen Situation zudem nicht selbst schützen.

a) Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Beschwer­de­füh­renden ein Risiko besteht, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überle­bens­wichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Aus der Gesamtschau der sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen wie auch aus den fachlichen Handlungs­emp­feh­lungen ergibt sich, dass die Betroffenen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt sind. So wird auch aus ärztlicher Sicht davon ausgegangen, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensiv-medizinische Therapie subjektive Momente ergeben können, die Diskri­mi­nie­rungs­risiken beinhalten. Als sachkundige Dritte befragte Fachein­rich­tungen und Sozialverbände haben im Einklang mit wissen­schaft­lichen Studien dargelegt, dass ein Risiko besteht, in einer Situation knapper medizinischer Ressourcen aufgrund einer Behinderung benachteiligt zu werden. Mehrere sachkundige Dritte haben ausgeführt, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und eine unbewusste Stereo­ty­pi­sierung das Risiko mit sich bringe, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen.

b) Dieses Risiko wird auch durch die fachlichen Empfehlungen der Deutschen Inter­dis­zi­plinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für inten­siv­me­di­zi­nische Entscheidungen bei pande­mie­be­dingter Knappheit nicht beseitigt. Die Empfehlungen sind rechtlich nicht verbindlich und auch kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht, sondern nur ein Indiz für diesen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können. Zwar stellen sie ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunde­r­kran­kungen oder Behinderungen nicht zulässig ist. Ein Risiko birgt gleichwohl, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgs­aus­sichten der inten­siv­me­di­zi­nischen Behandlung bezeichnet werden. Insofern ist nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungs­aus­sichten verbunden wird. Auch wird die Erfolgsaussicht der Überle­bens­wahr­schein­lichkeit als für sich genommen zulässiges Kriterium nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen.

2. Der Gesetzgeber hat bislang keine Vorkehrungen getroffen, die dem Risiko einer Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung bei der Verteilung von knappen inten­siv­me­di­zi­nischen Behand­lungs­res­sourcen wirksam begegnen.

Zwar hat sich der Gesetzgeber mehrfach mit dem Schutzgebot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG befasst. Insbesondere hat er mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbst­be­stimmung von Menschen mit Behinderungen, dem Bundes­teil­ha­be­gesetz, deutsches Recht an die Behin­der­ten­rechts­kon­vention angepasst und mit dem Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen die Barrie­re­freiheit zu fördern gesucht. Auch finden sich allgemeine Diskri­mi­nie­rungs­verbote im Sozialrecht. Jedoch fehlen hinreichend wirksame, auch nach Art. 25 BRK geforderte Vorgaben zum Diskri­mi­nie­rungs­schutz im Gesund­heitswesen, die in der Situation der pande­mie­be­dingten Triage vor Benachteiligung wegen der Behinderung schützen könnten.

Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pande­mie­be­dingten Triage in einer extremen Entschei­dungs­si­tuation. Sie müssen entscheiden, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden inten­siv­me­di­zi­nischen Ressourcen erhalten soll und wer nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung diskri­mi­nie­rungsfrei zu berücksichtigen. Dafür muss sichergestellt sein, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überle­bens­wahr­schein­lichkeit entschieden wird. Derzeitige gesetzliche Regelungen erschöpfen sich indes entweder in einer Wiederholung des Benach­tei­li­gungs­verbots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG oder beschränken sich darauf, dass besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen sei, was zur Erfüllung der aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG resultierenden staatlichen Handlungs­pflicht nicht genügt. Desgleichen gewährleistet das aktuelle ärztliche Berufsrecht den Schutz vor Benachteiligung nicht.

3. Dem Gesetzgeber steht bei der Entscheidung, wie die konkrete Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Einzelnen erfüllt werden soll, ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielraum zu.

Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten, dem Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper inten­siv­me­di­zi­nischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen. Dabei hat er zu berücksichtigen, dass die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesund­heits­wesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde. Gleiches gilt im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten. Daher sind die Sachge­setz­lich­keiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entschei­dungs­pro­zessen, ebenso zu achten wie die Letzt­ver­ant­wortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt.

Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Vertei­lungs­ent­schei­dungen macht. Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen; ein Kriterium, das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genügt, kann vom Gesetzgeber vorgegeben werden. Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen, wie ein Mehraugen-Prinzip bei Auswah­l­ent­schei­dungen oder für die Dokumentation, oder er kann die Unterstützung vor Ort regeln. Dazu kommt die Möglichkeit spezifischer Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des inten­siv­me­di­zi­nischen Personals, um auf die Vermeidung von Benach­tei­li­gungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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