21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss03.11.2021

Zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungs­beiträgen nach Eintritt der Vorteilslage mit dem Grundgesetz unvereinbarKAG-Regelung verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Kommunal­abgaben­gesetzes Rheinland-Pfalz (KAG RP) mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungs­rechtlichen Grundsatz der Rechts­si­cherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) insoweit unvereinbar ist, als danach Erschließungs­beiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können. Die Beitrags­pflichten verjähren in Rheinland-Pfalz zwar vier Jahre nach Entstehung des Abgabeanspruchs. Der Beginn der Festset­zungsfrist knüpft damit allerdings nicht an den Eintritt der Vorteilslage an, weil die Entstehung des Abgabeanspruchs von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. So bedarf es unter anderem einer öffentlichen Widmung der Erschlie­ßungs­anlage, die erst nach tatsächlicher Fertigstellung der Anlage erfolgen kann. Die tatsächliche Vorteilslage und die Beitrags­er­hebung können somit zeitlich weit ausein­an­der­fallen. Dies verstößt gegen das Rechts­s­taats­prinzip in seiner Ausprägung als der Rechts­si­cherheit dienendes Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit. Der Landes­ge­setzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu treffen.

Im hier vorliegenden Fall wendet sich ein Eigentümer mehrerer Grundstücke in Rheinland-Pfalz gegen die Erhebung von Erschlie­ßungs­bei­trägen für die Herstellung einer Straße. In den Jahren 1985/1986 wurde die an die Grundstücke des Klägers angrenzende Straße vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1991 zog die Stadt den Kläger zu Voraus­leis­tungen auf den Erschlie­ßungs­beitrag heran. Die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße wurde 1999 endgültig aufgegeben. Die Straße wurde stattdessen in den Jahren 2003/2004 zweispurig weitergebaut und in ihrer vollen Länge 2007 als Gemeindestraße gewidmet. Die Stadt setzte daraufhin für die hier maßgeblichen Flurstücke Erschließungsbeiträge fest. Dabei brachte sie die vom Kläger gezahlten Voraus­leis­tungen in Abzug. Nachdem das Verwal­tungs­gericht zunächst zwei Bescheide aufhob, setzte die Stadt die beanstandeten Beitrags­be­scheide 2011 neu fest und erhob für ein einzelnes Flurstück einen Nacher­he­bungs­beitrag. Die dagegen gerichtete Klage blieb vor Verwaltungs- und Oberver­wal­tungs­gericht überwiegend erfolglos. Die Beitragspflicht sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden. Die vierjährige Festset­zungsfrist sei somit erst am 31. Dezember 2011 abgelaufen, also nach Erlass der angefochtenen Bescheide. Sie sei auch nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.

BVerwG bittet BVerfG um Klärung

Auf die Revision des Klägers setzte das Bundes­ver­wal­tungs­gericht das Verfahren aus und legte dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechts­si­cherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar sei, soweit er die Erhebung von Erschlie­ßungs­bei­trägen zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage erlaubt. Es ist der Überzeugung, dass die Regelungen keine hinreichende Berück­sich­tigung des Interesses des Beitrags­schuldners an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme gewährleisteten. Im konkreten Verfahren sei die Vorteilslage im Ausgangs­ver­fahren nicht erst mit der Widmung der Straße im Jahre 2007, sondern spätestens mit der endgültigen Aufgabe ihrer durchgehend vierspurigen Herstellung im Jahre 1999 eingetreten. Sei die Beitrags­er­hebung danach mehr als zehn Jahre nach Eintritt der Vorteilslage erfolgt, so sei angesichts der in anderen Bundesländern geltenden Höchstfristen nicht von vornherein auszuschließen, dass eine vom rheinland-pfälzischen Gesetzgeber noch zu erlassende Regelung die Heranziehung des Klägers zu Erschlie­ßungs­bei­trägen hindere und somit seine Beitragspflicht dem Grunde nach entfallen lasse.

BVerfG: Verstoß gegen Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit

§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP ist insoweit mit den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz der Rechts­si­cherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar, soweit danach die Möglichkeit besteht, dass nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage unbefristet Beiträge erhoben werden. Das im Rechts­s­taats­prinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit schützt davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Es erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteils­aus­gleich und gilt in allen Fällen, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitrags­ansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können.

Begriff der Vorteilslage muss somit an tatsächliche Gegebenheiten anknüpfen

Das Gebot der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit verlangt, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen. Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, muss daher für die Betroffenen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfän­ger­ho­rizonts auch erkennbar sein. Der Begriff der Vorteilslage muss somit an rein tatsächliche, für den möglichen Beitrags­schuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Entste­hungs­vor­aus­set­zungen für die Beitragsschuld außen vor lassen.

Fachge­richtliche Anforderungen für Vorteilslage nicht zu beanstanden

Nach der fachge­richt­lichen Rechtsprechung kommt es im Erschlie­ßungs­bei­tragsrecht für die abzugeltende Vorteilslage allein auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschlie­ßungs­maßnahme an. Eine derartige Vorteilslage ist anzunehmen, wenn eine beitragsfähige Erschlie­ßungs­anlage den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspricht und dies für den Beitrags­pflichtigen erkennbar ist. Diese fachge­richtliche Rechtsprechung konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschlie­ßungs­recht­lichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise. Danach verstößt es gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, dass das rheinland-pfälzische Landesrecht in § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Erschlie­ßungs­bei­trägen ermöglicht.

Verjäh­rungs­beginn wird ohne zeitliche Obergrenze nach hinten verschoben

§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP gestattet in Fällen, in denen die mit Erschlie­ßungs­bei­trägen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten ist, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben sind, die Festsetzung von Erschlie­ßungs­bei­trägen ohne zeitliche Begrenzung. Denn der Beginn der Festset­zungsfrist hängt von der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ab, obwohl die tatsächliche Vorteilslage schon im Falle einer zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschlie­ßungs­anlage und damit bereits vor dem Vorliegen sämtlicher Beitrag­s­ent­ste­hungs­vor­aus­set­zungen eintreten kann. Die Regelung verschiebt auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies wird den Anforderungen des Gebots der Belas­tungs­klarheit und -vorher­seh­barkeit nicht gerecht.

Auch keine Ausschlussfrist in sonstigen Regelungen

Auch aus sonstigen Regelungen ergeben sich keine zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschlie­ßungs­bei­trägen, die allein an den Zeitpunkt der Erlangung des tatsächlichen Vorteils anknüpfen. Eine absolute Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschlie­ßungs­bei­trägen ergibt sich insbesondere auch nicht aus § 53 Abs. 2 Satz 1 Verwal­tungs­ver­fah­rens­gesetz (VwVfG) oder dessen analoger Anwendung. Auch ist der Grundsatz von Treu und Glauben von vornherein nicht geeignet, um dem Beitrags­pflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festset­zungs­ver­jährung bei Erschlie­ßungs­bei­trägen zu verschaffen.

Dreißigjährige Ausschlussfrist genügt verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht

Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteils­aus­gleich und der Einzelnen an Rechts­si­cherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjäh­rungs­be­stim­mungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Ob dabei die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen ist, stellt eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar. Jedenfalls genügte eine dreißigjährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wieder­ver­ei­nigung den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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