21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil24.11.2010

BVerfG: Strenges Gentech­nik­gesetz ist verfas­sungsgemäß - Keine Lockerung des Gentech­nik­ge­setzesNormen­kon­trol­lantrag des Landes Sachsen-Anhalt in Sachen "Gentech­nik­gesetz" erfolglos

Die derzeit geltenden strengen Vorschriften für den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft sind verfas­sungsgemäß. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Damit blieb ein Normen­kon­trol­lantrag der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik erfolglos. Sachsen-Anhalt hatte mehrere restriktive Bestimmungen des Gentech­nik­ge­setzes des Bundes als verfas­sungs­widrig eingeschätzt.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat in seinem Urteil in dem Normenkontrollverfahren der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik (GenTG) über

- die Begriffs­be­stim­mungen "gentechnisch veränderter Organismus" und "Inver­kehr­bringen" (§ 3 Nummern 3 und 6 GenTG),

- das Standortregister (§ 16 a GenTG),

- den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten (§ 16 b GenTG) und

- Ansprüche bei Nutzungs­be­ein­träch­ti­gungen (§ 36 a GenTG)

verkündet und festgestellt, dass § 3 Nummern 3 und 6, § 16 a Absätze 1 bis 5, § 16 b Absätze 1 bis 4 und § 36 a des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik in der zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Gentech­nik­ge­setzes, zur Änderung des EG-Gentechnik-Durch­füh­rungs­ge­setzes und zur Änderung der Neuartige Lebensmittel- und Lebens­mit­tel­zu­ta­ten­ver­ordnung vom 1. April 2008 (Bundes­ge­setzblatt I Seite 499) geänderten Fassung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Normen formell und materiell verfas­sungsgemäß

Die angegriffenen Normen sind formell und materiell verfas­sungsgemäß

Die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes folgt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 26. Alternative GG, der eine umfassende Zuständigkeit des Bundes­ge­setz­gebers zur Regelung des Rechts der Gentechnik begründet, welche neben der Humangentechnik auch die Gentechnik in Bezug auf Tiere und Pflanzen umfasst.

Soweit die angegriffenen Vorschriften in das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) eingreifen, ist dies gerechtfertigt.

Gesetzgeber muss großzügiger Entschei­dungs­spielraum zugestanden werden

Der Gesetzgeber verfolgt mit den angegriffenen Regelungen legitime Ziele des Gemeinwohls, bei deren Verwirklichung ihm gerade vor dem Hintergrund der breiten gesell­schaft­lichen und wissen­schaft­lichen Debatte um den Einsatz von Gentechnik und eine angemessene staatliche Regulierung ein großzügiger Entschei­dungs­spielraum zugestanden werden muss.

Folgen der Gentechnik noch nicht absehbar

Mit der Möglichkeit, gezielt Veränderungen des Erbgutes vorzunehmen, greift die Gentechnik in die elementaren Strukturen des Lebens ein. Die Folgen solcher Eingriffe lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer wieder rückgängig machen. Die Ausbreitung einmal in die Umwelt ausgebrachten gentechnisch veränderten Materials ist nur schwer oder auch gar nicht begrenzbar. Angesichts eines noch nicht endgültig geklärten Erkennt­niss­tandes der Wissenschaft bei der Beurteilung der langfristigen Folgen eines Einsatzes von Gentechnik trifft den Gesetzgeber eine besondere Sorgfalts­pflicht. Er muss bei der Rechtssetzung nicht nur die von der Nutzung der Gentechnik einerseits und deren Regulierung andererseits betroffenen, grundrechtlich geschützten Interessen in Ausgleich bringen, sondern hat gleichermaßen den in Art. 20a GG enthaltenen Auftrag zu beachten, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebens­grundlagen zu schützen.

Schutz der Verbraucher wird gestärkt

Mit dem bezweckten Schutz insbesondere des Menschen, der Umwelt und fremden Eigentums vor schädlichen Auswirkungen des Einsatzes von gentechnisch veränderten Organismen und der Vorsorge gegen das Entstehen solcher Gefahren (vgl. § 1 Nr. 1 GenTG), der Sicherung der Koexistenz verschiedener landwirt­schaft­licher Erzeu­gungs­formen (vgl. § 1 Nr. 2 GenTG) und dem Inter­es­se­n­aus­gleich zwischen Grund­s­tücks­nachbarn werden insbesondere menschliches Leben, Gesundheit und Umwelt sowie Eigentum und Berufsfreiheit als andernfalls gefährdete Güter von Verfassungsrang geschützt. Weitere wichtige, auch europarechtlich anerkannte Gemein­wohl­belange wie der Schutz der Verbraucher und die Information der Öffentlichkeit werden gestärkt. Insoweit leistet die mit der Einrichtung des Stand­ort­re­gisters angestrebte Schaffung von Transparenz im Zusammenhang mit dem gezielten Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen Meinungs­bil­dungs­prozess und stellt einen eigenständigen und legitimen Zweck der Gesetzgebung dar. Um eine solche Transparenz herzustellen, ist es zulässig, bestimmte Daten der Öffentlichkeit allgemein und insoweit ohne weitere Bindung an bestimmte Zwecke zugänglich zu machen. Das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung schließt die Schaffung allgemein öffentlicher Daten - auch solcher mit Personenbezug - nicht generell aus.

Angegriffene Regelungen wahren Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinn

Die angegriffenen Regelungen sind geeignet und erforderlich, diese Zwecke zu erreichen. Sie wahren auch das Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinn. Mit der Neufassung der Begriffs­be­stim­mungen "gentechnisch veränderter Organismus" und "Inver­kehr­bringen" (§ 3 Nummern 3 und 6 GenTG) hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass auch genehmigte Freiset­zungs­versuche und ihre unbeab­sich­tigten Folgen den Kontroll- und Eingriffs­be­fug­nissen des Staates und der Folgen­ver­ant­wortung der Forschung nach Maßgabe des Gentech­nik­ge­setzes unterfallen. Der Umstand, dass es sich um nicht beabsichtigte oder technisch nicht zu vermeidende Vorgänge handeln kann, mindert nicht das mit dem Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt und der Vermarktung gentechnisch veränderter Produkte bestehende Risiko unerwünschter oder schädlicher, gegebenenfalls unumkehrbarer Auswirkungen, das im Sinn einer größtmöglichen Vorsorge beherrscht werden soll. Der Gesetzgeber liefe zudem Gefahr, seiner Verantwortung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage nicht gerecht zu werden.

Stand­ort­re­gister verletzt nicht Berufsfreiheit und informationelle Selbst­be­stimmung

Im Stand­ort­re­gister werden für das gesamte Bundesgebiet Angaben über Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen erfasst, um die Überwachung von etwaigen Auswirkungen dieser Organismen insbesondere auf den Menschen, die Umwelt und die gentechnikfreie Landwirtschaft zu ermöglichen und die Öffentlichkeit zu informieren. Mit der Aufteilung des Stand­ort­re­gisters (§ 16 a GenTG) in einen allgemein zugänglichen und einen nicht allgemein zugänglichen Teil hat der Gesetzgeber einen tragfähigen und aus verfas­sungs­recht­licher Sicht nicht zu beanstandenden Kompromiss zwischen dem Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse des Staates und der Öffentlichkeit einerseits und dem Geheim­hal­tungs­in­teresse der Bezugspersonen andererseits gefunden. Der gesetzlichen Regelung kann insbesondere nicht entge­gen­ge­halten werden, dass durch das Stand­ort­re­gister die Wahrschein­lichkeit mutwilliger Zerstörungen von gentechnisch veränderten Kulturen erhöht werde. Bereits vor dessen Einführung kam es wiederholt zu Behinderungen von Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen, denen mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts zu begegnen ist.

Regelungen über Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten lassen genug Spielraum für Einzel­fa­l­l­ent­schei­dungen

Die angegriffenen Regelungen über den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten in § 16 b GenTG lassen den Behörden und Fachgerichten genügend Spielraum, um eine verhält­nis­mäßige Anwendung der Vorsorgepflicht, der guten fachlichen Praxis und der Anforderungen an die Eignung von Person und Ausstattung im Einzelfall sicherzustellen. Dies betrifft insbesondere die Frage, was im Einzelfall zur Vorsorgepflicht und guten fachlichen Praxis gehört. Die insoweit allgemein gehaltenen Vorgaben lassen es zu, die tatsächlichen Rahmen­be­din­gungen des Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen angemessen zu berücksichtigen und den Inhalt der Pflichten auf das Maß zu beschränken, welches jeweils zur Vermeidung wesentlicher Beein­träch­ti­gungen der Schutzgüter des § 1 Nr. 1 und 2 GenTG erforderlich ist.

Ergänzung und Konkretisierung des privaten Nachbarrechts trägt zu Wahlfreiheit der Produzenten und Verbraucher bei

§ 36 a GenTG begründet keine neuartige Sonderhaftung für den Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen, sondern konkretisiert und ergänzt die bestehende verschul­den­su­n­ab­hängige Störerhaftung im privaten Nachbarrecht (§§ 1004, 906 BGB), in deren Systematik sich die Vorschrift einfügt. Diese Ergänzung und Konkretisierung des privaten Nachbarrechts stellt einen angemessenen und ausgewogenen Ausgleich der wider­strei­tenden Interessen dar, indem sie zu einem verträglichen Nebeneinander konventioneller, ökologischer und mit dem Einsatz von Gentechnik arbeitender Produk­ti­o­ns­me­thoden und einer echten Wahlfreiheit der Produzenten und Verbraucher beiträgt.

Grenze der Zumutbarkeit ist für Betroffene der Norm nicht überschritten

Insgesamt ist die vom Gesetzgeber jeweils vorgenommene Gewichtung zugunsten der verfolgten Gemeinwohlziele gerade vor dem Hintergrund der noch nicht abschließend geklärten Auswirkungen der Gentechnik nicht zu beanstanden und die Grenze der Zumutbarkeit ist für die Normadressaten - auch soweit sie zu Forschungs­zwecken handeln - nicht überschritten.

Mögliche Ungleich­be­handlung durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele gerechtfertigt

Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Soweit es zu einer Ungleich­be­handlung von Sachverhalten kommt, beruht dies auf tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des Einsatzes von Gentechnik und ist durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele gerechtfertigt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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