21.11.2024
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Bundessozialgericht Urteil11.08.2015

Schwerst hirngeschädigte Kinder werden nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossenKriterium der spezifischen Sehstörung als Voraussetzung für Anspruch auf Blindengeld nicht praktikabel

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat entschieden, dass auch schwerst Hirngeschädigte, die nicht sehen können, Anspruch auf Blindengeld haben. Anders als bisher entschieden, ist hierfür nicht mehr erforderlich, dass ihre Beein­träch­tigung des Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beein­träch­tigung sonstiger Sinnes­wahr­neh­mungen wie zum Beispiel Hören oder Tasten (sogenannte spezifische Störung des Sehvermögens).

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der heute 10-jährige Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minder­ver­sorgung mit Sauer-stoff schwerste Hirnschäden, die unter anderem zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intel­li­genz­min­derung geführt haben. Der Entwick­lungsstand des Klägers entspricht nur dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrneh­mungs­fä­higkeit ist im Bereich aller Sinnes­mo­da­litäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blind­heits­schwelle liegen. Der Kläger kann - mit anderen Worten - nicht sehen.

Freistaat Bayern lehnt Antrag auf Blindengeld ab

Die Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem Bayerischen Blinden­geld­gesetz. Der Freistaat Bayern lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnes­mo­da­litäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld. Das Landes­so­zi­al­gericht hat dies bestätigt.

BSG gibt bisherige Rechtsprechung auf und bejaht Anspruch auf Blindengeld

Das Bundes­so­zi­al­gericht, der für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt hatte, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten, hat seine Rechtsprechung aufgegeben und dem Kläger Blindengeld zugesprochen. Er sah sich hierzu einerseits aus "prozessualen" Gründen veranlasst. Wie inzwischen zahlreiche Entscheidungen der Instanzgerichte, darunter diejenigen über den Anspruch des Klägers, zeigen, lässt sich gerade bei mehrfach schwerst­be­hin­derten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen. Diesbezüglich hat sich das Kriterium der spezifischen Sehstörung als nicht praktikabel erwiesen; es führt zu einer Erhöhung des Risikos von Zufall­s­er­geb­nissen.

Einschränkung unter dem Aspekt der Gleich­be­handlung behinderter Menschen nicht zu rechtfertigen

Vor allem aber sieht das Bundes­so­zi­al­gericht unter dem Aspekt der Gleich­be­handlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) materiell-rechtlich keine Rechtfertigung mehr für dieses zusätzliche Erfordernis. Das Gericht kann keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür erkennen, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann.

Betroffene sind sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht blind

Das in den Materialien des Bayerischen Landes­ge­setz­gebers zum Ausdruck kommende Anliegen, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blinden­geldan­spruch führen sollen, kann die Ungleich­be­handlung schwer cerebral geschädigter Behinderter nicht begründen. Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht blind ist. Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinnes­wahr­neh­mungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedürfe, weil behin­de­rungs­be­dingte Mehrauf­wen­dungen ohnehin nicht ausgeglichen werden könnten, keinen solchen sachlichen Grund dar. Denn das Blindengeld wird derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichs­fä­higkeit zu verzichten.

Hinweis auf die Rechtslage

Bayerisches Blinden­geld­gesetz (BayBlindG)

Auszug aus Artikel 1: Anspruch

Erläuterungen

(1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben [...] zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehrauf­wen­dungen ein monatliches Blindengeld.

(2) Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt.

Als blind gelten auch Personen,

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,

2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beein­träch­tigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleichzuachten sind.

(3) [...]

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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