15.11.2024
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Dokument-Nr. 6222

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Urteil17.06.2008BundessozialgerichtB 8/9b AY 1/07 R
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Bundessozialgericht Urteil17.06.2008

Allein die Nichtausreise ist kein Fehlverhalten eines geduldeten Ausländers, das Kürzung der Sozialhilfe erlaubtRecht­spre­chung­s­än­derung des Bundes­so­zi­al­ge­richts

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat seine bisherige Rechtsprechung nach der ein Leistungs­emp­fänger schon dann rechts­miss­bräuchlich handelte, wenn er trotz des auf Grund der Duldung bestehenden Abschie­be­verbots nicht freiwillig ausreiste und hierfür keine anerken­nungs­werten Gründe vorlagen, aufgegeben.

Ausländer, die erfolglos die Anerkennung als Asylbewerber beantragt haben, erhalten nach Abschluss des Asylverfahrens, wenn ihre Abschiebung aus völker­recht­lichen oder humanitären Gründen bzw zur Wahrung politischer Interessen rechtlich oder tatsächlich nicht möglich ist, für die ersten Jahre keinen Aufent­halt­stitel für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, sondern lediglich eine Duldung nach § 60 a Aufent­halts­gesetz. Wegen des nicht gefestigten Aufent­halts­status werden ihnen in dieser und der Zeit des Asylverfahrens für 36 Monate (ab 28. Juli 2007 für 48 Monate) Grundleistungen nach § 3 Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz (AsylbLG) gezahlt, die niedriger sind als nach dem Sozial­ge­setzbuch Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bzw dem Sozial­ge­setzbuch Sozialhilfe (SGB XII). Erst nach Ablauf dieser Monate werden ihnen höhere Leistungen entsprechend dem SGB XII gewährt (sog Analog-Leistung). Die Zubilligung von Analog-Leistungen ist allerdings zusätzlich an die Voraussetzung geknüpft, dass der Ausländer die Aufent­haltsdauer nicht rechts­miss­bräuchlich beeinflusst hat; bei minderjährigen Kindern muss außerdem zumindest ein Elternteil, mit dem das Kind zusammenlebt, ebenfalls Analog-Leistungen erhalten. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts handelte ein Leistungs­emp­fänger schon dann rechts­miss­bräuchlich, wenn er trotz des auf Grund der Duldung bestehenden Abschie­be­verbots nicht freiwillig ausreiste und hierfür keine anerken­nungs­werten Gründe vorlagen.

Bundes­so­zi­al­gericht gibt bisherige Rechtsprechung auf

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat diese Rechtsprechung aufgegeben. Im von ihm entschiedenen Verfahren wurden sechs algerischen Staats­an­ge­hörigen (Eltern und vier Kinder), deren Aufenthalt wegen Reise­un­fä­higkeit mehrerer Personen geduldet war, ab 1. Januar 2005 statt der zuvor schon bezogenen Analog-Leistungen, nur noch die niedrigeren Grundleistungen zugestanden, weil die Eltern vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland die Pässe vernichtet hätten. Sozialgericht und Landes­so­zi­al­gericht haben den Klagen mit Rücksicht auf die bestehende Reise­un­fä­higkeit von drei Klägern stattgegeben.

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat die Sache an das Landes­so­zi­al­gericht zurückverwiesen, weil geklärt werden muss, ob die klagenden Eltern vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorsätzlich die Pässe vernichtet haben, um die Aufent­haltsdauer zu beeinflussen, und sich damit sozialwidrig verhalten haben. Insoweit kommt es nur auf das eigene Fehlverhalten des einzelnen Klägers an. Zwar genügt für den Vorwurf des Rechts­miss­brauchs nicht, dass die Kläger nicht freiwillig ausgereist sind; dass gegenwärtig Reise­un­fä­higkeit bei drei Personen vorliegt, steht der Annahme des Rechts­miss­brauchs andererseits nicht entgegen. Ob das vorwerfbare Verhalten die Aufent­haltsdauer beeinflusst hat, ist vielmehr unter Berück­sich­tigung der gesamten Zeit zu beurteilen, die nach dem maßgeblichen Fehlverhalten verstrichen ist. Dabei muss nicht feststehen, dass die Kläger das Land zu einem früheren Zeitpunkt verlassen hätten; es genügt vielmehr die generelle Eignung des Fehlverhaltens zur Beeinflussung der Aufent­haltsdauer. Eine Beeinflussung der Aufent­haltsdauer liegt jedoch ausnahmsweise nicht vor, wenn die Kläger auch ohne das Fehlverhalten in der gesamten Zeit nicht hätten abgeschoben werden können. Verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist die Verschärfung der gesetzlichen Regelungen ab 1. Januar 2005 durch den Missbrauch­s­tat­bestand bzw ab 28. August 2007 durch die Verlängerung der Vorbezugszeit von Grundleistungen (48 statt 36 Monate) auch für laufende Fälle. Bei der Voraussetzung der Vorbezugszeit handelt es sich auch nicht um eine Warte­zeit­re­gelung, deren Voraussetzungen schon erfüllt wären, wenn der Ausländer andere Sozia­l­leis­tungen als die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG oder überhaupt keine Sozia­l­leis­tungen bezogen hat.

Hinweise zur Rechtslage:

§ 3 Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz (Grundleistungen)

(1)Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt. … Zusätzlich erhalten Leistungs­be­rechtigte 1. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres 40 Deutsche Mark, 2.vom Beginn des 15. Lebensjahres an 80 Deutsche Mark monatlich als Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens. …

(2) Bei einer Unterbringung außerhalb von Ausnah­me­ein­rich­tungen im Sinn des § 44 des Asylver­fah­rens­ge­setzes können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, an Stelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Abs. 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden.

§ 2 Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz (Leistungen in besonderen Fällen) in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung

(1) Abweichend von den §§ 3 bis 7 ist das Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­gesetz auf Leistungs­be­rechtigte entsprechend anzuwenden, die über die Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufent­halts­be­endende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe das öffentliche Interesse entgegenstehen. …

§ 2 Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz in der ab 1.1.2005 geltenden Fassung

(1) Abweichend von den §§ 3 bis 7 ist das Zwölfte Buch Sozial­ge­setzbuch auf diejenigen Leistungs­be­rech­tigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten (ab 28.8.2007: 48 Monaten) Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechts­miss­bräuchlich selbst beeinflusst haben.

(3) Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushalts­ge­mein­schaft leben, erhalten Leistungen nach Abs. 1 nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushalts­ge­mein­schaft Leistungen nach Abs. 1 erhält.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 25/08 des BSG vom 17.06.2008

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