21.11.2024
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Bundessozialgericht Urteil30.11.2016

Kein "Streikrecht" für VertragsärzteVertragsärzte haben "Präsenzpflicht" gegenüber ihren Patienten

Vertragsärzte sind nicht berechtigt, ihre Praxis während der Sprech­stun­den­zeiten zu schließen, um an einem "Warnstreik" teilzunehmen. Derartige, gegen gesetzliche Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen gerichtete "Kampfmaßnahmen" sind mit der gesetzlichen Konzeption des Vertrags­a­rzt­rechts unvereinbar. Die entsprechenden vertrags­a­rzt­recht­lichen Bestimmungen sind auch verfas­sungsgemäß. Dies hat das Bundes­so­zi­al­gericht entschieden.

Im vorliegenden Verfahren informierte der als Facharzt für Allge­mein­medizin zugelassene Kläger die beklagte Kassenärztliche Vereinigung im Herbst 2012 darüber, dass er zusammen mit fünf anderen Vertragsärzten "das allen Berufsgruppen verfas­sungs­rechtlich zustehende Streikrecht" ausüben und deshalb am 10. Oktober sowie am 21. November 2012 seine Praxis schließen werde.

SG weist Klage gegen Verweis ab

Die Beklagte erteilte dem Kläger einen Verweis als Diszi­pli­n­a­r­maßnahme, da er durch die Praxis­schlie­ßungen seine vertrag­s­ärzt­lichen Pflichten schuldhaft verletzt habe. Das Sozialgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen. Ein Streikrecht als Grund für eine Unterbrechung der Praxistätigkeit sei im Vertrags­a­rztrecht nicht vorgesehen.

Kein durch Verfassung geschütztes Streikrecht

Die dagegen eingelegte Sprungrevision hat ebenfalls keinen Erfolg. Der Kläger hat seine vertrag­s­ärzt­lichen Pflichten schuldhaft verletzt. Vertragsärzte müssen während der angegebenen Sprechstunden für die vertrag­s­ärztliche Versorgung ihrer Patienten zur Verfügung stehen (sogenannte "Präsenzpflicht"). Etwas Anderes gilt etwa bei Krankheit oder Urlaub nicht jedoch bei der Teilnahme an einem "Warnstreik". Dem Kläger steht kein durch die Verfassung oder die Europäische Menschen­rechts­kon­vention geschütztes "Streikrecht" zu. Ein Recht der Vertragsärzte, Forderungen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen im Wege von "Arbeits­kampf­maß­nahmen" durchzusetzen, ist mit der gesetzlichen Konzeption des Vertrags­a­rzt­rechts nicht vereinbar.

Konflikt­lö­sungen von Schiedsämtern vorgesehen

Der Gesetzgeber hat durch die Ausgestaltung des Vertrags­a­rzt­rechts die teilweise gegenläufigen Interessen von Krankenkassen und Ärzten zum Ausgleich gebracht, um auf diese Weise eine verlässliche Versorgung der Versicherten zu angemessenen Bedingungen sicherzustellen. Die gemeinsame Selbst­ver­waltung von Ärzten und Krankenkassen besitzt ein hohes Maß an Autonomie bei der Regelung der Einzelheiten der vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung. Dem entsprechend wird die ärztliche Vergütung zwischen Krankenkassen und Kassen­ärzt­lichen Vereinigungen ausgehandelt. Die Sicherstellung der vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung ist den Kassen­ärzt­lichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts übertragen worden. In diesen Sicher­stel­lungs­auftrag ist der einzelne Vertragsarzt aufgrund seiner Zulassung zur vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung und seiner Mitgliedschaft bei der KÄV eingebunden. Konflikte mit Krankenkassen um die Höhe der Gesamtvergütung werden in diesem System nicht durch "Streik" oder "Aussperrung" ausgetragen, sondern durch zeitnahe verbindliche Entscheidungen von Schiedsämtern gelöst. Die Rechtmäßigkeit des Schiedsspruchs wird im Streitfall durch unabhängige Gerichte überprüft.

Erläuterungen

Hinweise auf die Rechtslage

§ 72 SGB V Sicherstellung der vertrag­s­ärzt­lichen und vertrags­zahn­ärzt­lichen Versorgung

(1) *Ärzte, Zahnärzte, Psycho­the­ra­peuten, medizinische Versor­gungs­zentren und Krankenkassen wirken zur Sicherstellung der vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung der Versicherten zusammen. [...]

§ 75 SGB V Inhalt und Umfang der Sicherstellung

(1) *Die Kassen­ärzt­lichen Vereinigungen und die Kassen­ärzt­lichen Bundes­ver­ei­ni­gungen haben die vertrag­s­ärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 bezeichneten Umfang sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die vertrag­s­ärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. [...]

§ 95 SGB V Teilnahme an der vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung

(1) [...]

(2) [...]

(3) *Die Zulassung bewirkt, dass der Vertragsarzt Mitglied der für seinen Kassenarztsitz zuständigen Kassen­ärzt­lichen Vereinigung wird und zur Teilnahme an der vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung im Umfang seines aus der Zulassung folgenden zeitlich vollen oder hälftigen Versor­gungs­auf­trages berechtigt und verpflichtet ist. [...]

Zulas­sungs­ver­ordnung für Vertragsärzte

§ 24

(1) Die Zulassung erfolgt für den Ort der Niederlassung als Arzt (Vertrags­a­rztsitz).

(2) Der Vertragsarzt muss am Vertrags­a­rztsitz seine Sprechstunde halten.

(3) ...

§ 32

(1) *Der Vertragsarzt hat die vertrag­s­ärztliche Tätigkeit persönlich in freier Praxis auszuüben. 2Bei Krankheit, Urlaub oder Teilnahme an ärztlicher Fortbildung oder an einer Wehrübung kann er sich innerhalb von zwölf Monaten bis zur Dauer von drei Monaten vertreten lassen. [...]

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Art. 9 [Verei­ni­gungs­freiheit]

(1) ...

(2) ...

(3) *Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschafts­be­din­gungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. ²Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. ³Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschafts­be­din­gungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Art. 11 Abs. 1

(1) Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusam­men­zu­schließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten.

(2) ...

Quelle: Bundessozialgericht/ ra-online

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