18.10.2024
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Dokument-Nr. 5164

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Bundesgerichtshof Beschluss11.09.2007

BGH: Eltern kann Sorgerecht bei Verletzung der Schulpflicht entzogen werdenBesuch einer staatlichen Schule gehört zum staatlichen Erzie­hungs­auftrag

Wenn sich Eltern beharrlich weigern, ihre Kinder der öffentlichen Grundschule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, stellt dies einen Missbrauch der elterlichen Sorge dar. Eltern sind auch dann nicht berechtigt, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen, wenn einzelne Lehrinhalte oder -methoden der Schule ihren Glaubens­über­zeu­gungen entgegenstehen. Der teilweise Entzug der elterlichen Sorge und die Anordnung der Pflegschaft seien im Grundsatz geeignet und auch verhältnismäßig, dem Missbrauch der elterlichen Sorge entge­gen­zu­wirken, entschied der Bundes­ge­richtshof.

Der Bundes­ge­richtshof hatte sich in zwei Fällen mit der Frage zu befassen, welche sorge­recht­lichen Konsequenzen sich für Eltern ergeben, die ihre Kinder aus Glaubensgründen der allgemeinen Schulpflicht entziehen.

In beiden Fällen waren die Eltern Mitglieder einer christlichen Glaubens­ge­mein­schaft und – zusammen mit anderen Mitgliedern dieser Gemeinschaft – als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Sie hatten der öffentlichen Grundschule mitgeteilt, dass sie künftig zwei jüngere ihrer mehreren Kinder zu Hause unterrichten würden, da deren Erziehung und Bildung in der öffentlichen Grundschule mit ihren Glaubens­über­zeu­gungen nicht vereinbar seien. Weder Gespräche mit Schulleitung, Bezirks­re­gierung und Integra­ti­o­ns­be­auf­tragtem noch die Verhängung eines Bußgeldes führten dazu, dass die Eltern ihre Kinder zum Schulunterricht brachten; ein Zwangs­geld­ver­fahren wurde nicht erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin entzog das Familiengericht den Eltern im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge in Schulan­ge­le­gen­heiten sowie das Aufenthaltsbestimmungsrecht für diese Kinder und bestellte die zuständige Stadt P. (Jugendamt) zu deren Pfleger. Mit dessen Einwilligung verbrachten die Eltern die Kinder daraufhin in ein Dorf in Österreich; die Eltern und die Familie behielten ihren Wohnsitz in Deutschland bei. Der Pfleger erwirkte in der Folgezeit nach öster­rei­chischem Recht die Gestattung, dass die Mutter den Kindern Hausunterricht erteilen dürfe. Seither werden die Kinder dort von ihrer pädagogisch nicht vorgebildeten Mutter unterrichtet. Im Haupt­sa­che­ver­fahren bestätigte das Familiengericht seine zuvor getroffene Regelung. Die von den Eltern hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Oberlan­des­gericht zurück. Die zugelassene Rechts­be­schwerde hatte nur zu einem geringen Teil Erfolg.

Wohnsitz der Eltern in Deutschland begründet Zuständigkeit des BGH

Im Hinblick auf den Wohnsitz der Eltern in Deutschland hat der Bundes­ge­richtshof die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ebenso bejaht wie die Frage, ob die Kinder weiterhin der deutschen Schulpflicht unterliegen.

Vermeidung von weltanschaulich geprägten "Paral­lel­ge­sell­schaften"

In der Sache hat der Bundes­ge­richtshof die – auf Ausführungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts gestützte - Auffassung der Vorinstanzen bestätigt, dass der Besuch der staatlichen Grundschule dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erzie­hungs­auftrags diene. Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich geprägten "Paral­lel­ge­sell­schaften" entge­gen­zu­wirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setze dabei auch voraus, dass religiöse oder weltan­schauliche Minderheiten sich nicht selbst abgrenzten und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und –gläubigen nicht verschlössen. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren sei eine wichtige Aufgabe der Grundschule.

Sorge­rechts­entzug und Pflegschaft sind geeignet und verhältnismäßig

Nach Auffassung des Bundes­ge­richtshofs stellt sich die beharrliche Weigerung der Eltern, ihre Kinder der öffentlichen Grundschule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, deshalb als Missbrauch der elterlichen Sorge dar. Eltern sind auch dann nicht berechtigt, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen, wenn einzelne Lehrinhalte oder –methoden der Schule ihren Glaubens­über­zeu­gungen entgegenstehen. Dies gilt jedenfalls so lange, als der Staat seinem Erzie­hungs­auftrag im Sinne des Grundgesetzes verant­wor­tungsvoll nachkommt. Gegenteiliges sei hier nicht der Fall. Der teilweise Entzug der elterlichen Sorge und die Anordnung der Pflegschaft seien im Grundsatz geeignet und auch verhältnismäßig, dem Missbrauch der elterlichen Sorge entge­gen­zu­wirken. Insoweit hat der Bundes­ge­richtshof die Rechts­be­schwerde der Eltern deshalb als unbegründet zurückgewiesen.

Beanstandet hat der Bundes­ge­richtshof allerdings in beiden Fällen die Bestellung der Stadt P. (Jugendamt) zum Pfleger für die Kinder. Denn dieser Pfleger habe sich offenkundig als in diesen Fällen ungeeignet erwiesen, den Gefahren für das Kindeswohl effektiv zu begegnen. Der Pfleger habe erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kinder nach Österreich umgemeldet worden seien; sodann habe er die Möglichkeit, die Kinder in Österreich dem Hausunterricht zuzuführen, durch eine entsprechende Antragstellung bei den öster­rei­chischen Behörden selbst eröffnet. Damit sei der Erfolg eingetreten, den die Eltern von vornherein erstrebt hätten, nämlich die häusliche Unterrichtung der Kinder durch ihre pädagogisch nicht vorgebildete Mutter – dies allerdings nicht in Deutschland, sondern in Österreich. Es sei nicht ersichtlich, dass die vom Familiengericht – nunmehr im Haupt­sa­che­ver­fahren - verfügte Übertragung des Sorgerechts in Schulan­ge­le­gen­heiten sowie des Aufent­halts­be­stim­mungs­rechts auf die Stadt P. (Jugendamt) an der von der Stadt als Pfleger selbst herbeigeführten Situation etwas ändere. Der Bundes­ge­richtshof hat deshalb die Bestellung der Stadt als Pfleger aufgehoben und die Sache insoweit an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen, damit dieses durch die Auswahl eines geeigneten Pflegers oder durch gerichtliche Weisungen sicherstelle, dass die Kinder ihrer Schulpflicht nachkommen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 175/07 des BGH vom 16.11.2007

der Leitsatz

Identischer Leitsatz für die Entscheidungen mit den Az. XII ZB 41/07 und XII ZB 42/07

BGB §§ 11 Satz 1, 1666, 1666 a;

Brüssel IIa-VO Art. 8 Abs. 1;

NRWSchulG §§ 34, 41;

NRWVerf Art. 8 Abs. 2

Weigern sich Eltern beharrlich, ihre Kinder der öffentlichen Grundschule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, um ihnen statt dessen selbst "Hausunterricht" zu erteilen, so kann darin ein Missbrauch der elterlichen Sorge liegen, der das Wohl der Kinder nachhaltig gefährdet und Maßnahmen des Famili­en­ge­richts nach §§ 1666, 1666 a BGB erfordert.

Die Entziehung des Aufent­halts­be­stim­mungs­rechts und des Rechts zur Regelung von Schulan­ge­le­gen­heiten in Verbindung mit der Anordnung einer Pflegschaft ist in solchen Fällen im Grundsatz zur Abwehr der Gefahr geeignet und verhältnismäßig.

Ein vom Familiengericht bestellter Pfleger ist jedoch zur Wahrnehmung seiner Aufgaben im Einzelfall offenkundig ungeeignet, wenn er bereits im einstweiligen Anord­nungs­ver­fahren zum Pfleger bestellt worden war und in dieser Eigenschaft die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass die Eltern ihre Kinder ins Ausland verbracht haben und ihnen dort nunmehr - wie von ihren Eltern bezweckt - auf Antrag des Pflegers "Hausunterricht" erteilt wird.

Die gleichzeitige Bestellung eines solchen Pflegers stellt zwar die Rechtsmäßigkeit des teilweisen Sorge­rechts­entzugs und der Anordnung der Pflegschaft als solche nicht in Frage. Sie ist, weil sie die Wirksamkeit dieser an sich sachgerechten Maßnahmen unterläuft, aber - für sich genommen - rechts­feh­lerhaft.

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