In dem zugrunde liegenden Fall kam es im März 2009 in einem Skiort in Österreich zu einem Unfall, als sich ein Zahnarzt in voller Skiausrüstung zwischen einer Gruppe von jugendlichen Skischülern mit ihrem Sportlehrer und einem Bus hindurch schieben wollte. Aus der Gruppe wurde dem Sportlehrer etwas zugeworfen, so dass dieser nach hinten trat. In diesem Moment wollte sich der Zahnarzt an der Gruppe vorbeischieben. Er prallte mit dem Sportlehrer zusammen und beide vielen um. Dabei erlitt der Zahnarzt unter anderem einen Oberschenkelhalsbruch. Nachdem er außergerichtlich einen Schmerzensgeldbetrag von 7.000 Euro erhielt, erhob er Klage auf Zahlung eines weiteren Betrags.
Sowohl das Landgericht Berlin als auch das Kammergericht wiesen die Klage auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes ab. Zwar sei dem Sportlehrer vorzuwerfen gewesen, dass er nach hinten trat ohne sich vorher zu vergewissern, dass der Weg hinter ihm frei war. Jedoch sei dem Zahnarzt ein überwiegendes Mitverschulden an dem Unfall anzulasten gewesen. Denn ein Passant, der eine spielende Gruppe sieht, müsse mit einer einfachen Rückwärtsbewegung einer Person rechnen und darauf reagieren. Zudem sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Zahnarzt aufgrund seiner Skiausrüstung in seiner Ausweichfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Er habe daher verbal auf sich aufmerksam machen müssen oder die mit dem Rücken zu ihm stehende Gruppe weiträumig umfahren müssen. Gegen diese Entscheidung legte der Zahnarzt Revision ein.
Der Bundesgerichtshof entschied zu Gunsten des Zahnarztes und hob daher die Entscheidung der Vorinstanz auf. Die Feststellungen des Kammergerichts haben den Vorwurf eines überwiegenden Mitverschuldens nicht gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang sei zu beachten gewesen, dass eine vollständige Haftung eines Unfallgeschädigten aufgrund eines überwiegenden Mitverschuldens nur ausnahmsweise in Betracht komme.
Soweit das Kammergericht annahm, dass der Zahnarzt durch Warnrufe oder ein Ausweichen den Unfall hätte vermeiden können, hätte es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs Feststellungen dazu treffen müssen, ob der Zahnarzt die Gefahr überhaupt rechtzeitig habe erkennen können. An diesen Feststellungen habe es gefehlt. Zudem hätte das Kammergericht klären müssen, ob der Sportlehrer aufgrund der Ablenkung durch seine Schüler überhaupt auf einen Warnruf rechtzeitig hätte reagieren können.
Darüber hinaus bemängelte der Bundesgerichtshof die Ansicht des Kammergerichts, wonach sich der Zahnarzt nicht zwischen Bus und Schülergruppe habe durchzwängen dürfen, sondern die Gruppe weiträumig habe umfahren müssen. Diese Ansicht habe verkannt, dass eine räumliche Enge aufgrund einer Menschenansammlung auf einer Zufahrtsstraße ohne Durchgangsverkehr für sich genommen keine kritische Situation darstellt und somit auch keine Umfahrungspflicht begründet. Das Kammergericht hätte wiederum Feststellungen dazu treffen müssen, ob der Zahnarzt die potentielle Gefährlichkeit der Situation rechtzeitig habe erkennen können.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 12.06.2015
Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (vt/rb)