21.11.2024
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Dokument-Nr. 32650

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Urteil15.02.2023BundesgerichtshofIV ZR 353/21
Vorinstanzen:
  • Landgericht Berlin, Urteil22.10.2020, 24 O 26/20
  • Kammergericht Berlin, Beschluss09.07.2021, 6 U 1139/20
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Bundesgerichtshof Urteil15.02.2023

Geringfügige Beleh­rungs­fehler können Verstoß gegen Treu und Glauben bei Ausübung des Wider­spruchs­rechts begründenKein Widerruf von Lebens­ver­si­che­rungen bei geringfügigen Beleh­rungs­fehlern

Der Bundes­ge­richtshofs hat über einen Fall entschieden, in dem Versi­che­rungs­nehmer unrichtig über die Form ihrer Wider­spruchs­erklärung informiert worden waren. Der Senat hat in diesem Fall angenommen, dass ein Bereicherung­sanspruch jedenfalls nach § 242 BGB wegen rechts­missbräuch­licher Ausübung des Wider­spruchs­rechts gemäß § 5 a Abs. 1 Satz 1 VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (nachfolgend: a.F.) ausgeschlossen ist, weil den Versicherungs­nehmern durch den im Streitfall geringfügigen Beleh­rungs­fehler nicht die Möglichkeit genommen worden ist, ihr Wider­spruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben.

Die Klägerin machte aus behauptet abgetretenem Recht Ansprüche auf berei­che­rungs­rechtliche Rückabwicklung fondsgebundener Lebens- und Renten­ver­si­che­rungs­verträge geltend. Diese Verträge wurden zwischen den jeweiligen Versi­che­rungs­nehmern und der Beklagten mit Versi­che­rungs­beginn zum 1. November und 1. Dezember 2002 nach dem sogenannten Policenmodell des § 5 a VVG a.F. abgeschlossen. Die Versi­che­rungs­nehmer kündigten die Verträge 2016 und 2017 und erklärten jeweils 2018 den Widerspruch nach § 5 a VVG a.F.

Klage in Vorinstanzen erfolglos

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des Berufungs­ge­richts steht der Geltendmachung des Rückab­wick­lungs­an­spruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers in den Fortbestand des Vertrags komme in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den Schluss darauf zuließen, dass der Versi­che­rungs­nehmer auch in Kenntnis seines Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätte. Dies sei hier der Fall. Der Fehler der Belehrung über die einzuhaltende Schriftform anstelle der ausreichenden Textform für die Wider­spruch­s­er­klärung könne die Versi­che­rungs­nehmer nicht ernsthaft von der Ausübung des Wider­spruchs­rechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung geltenden Frist abgehalten haben. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.

BHG bejahrt Verstoß gegen Treu und Glauben

Der Bundes­ge­richtshof hat entschieden, dass die Ausübung des Wider­spruchs­rechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versi­che­rungs­nehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Wider­spruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Denn dies stellt eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung dar. Rechts­feh­lerfrei hat das Berufungs­gericht dies für den hier zu beurteilenden Fall angenommen, in dem den Versi­che­rungs­nehmern die unrichtige Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch erteilt wurde, obwohl nach § 5 a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 1. August 2001 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte.

Annahme einer rechts­miss­bräuch­lichen Ausübung des Wider­spruchs­rechts steht in Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung

Die Annahme einer rechts­miss­bräuch­lichen Ausübung des Wider­spruchs­rechts in diesem Fall steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU: C:2019:1123 = NJW 2020, 667), sodass eine Vorlage an diesen nicht veranlasst war. Dass der Gerichtshof hiervon mit seinem Urteil vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40) abweichen wollte, ist nicht ersichtlich. Diese Entscheidung bezieht sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbrau­cher­kre­dit­verträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133 S. 66) vorgesehenen zwingenden Angaben fehlt. Insoweit äußert sich der Gerichtshof zu der von ihm im Versi­che­rungs­ver­tragsrecht vorgenommenen Differenzierung nach der Bedeutung des Beleh­rungs­mangels nicht.

Berufung auf Unwirksamkeit nach jahrelanger Durchführung des Vertrages widersprüchlich

Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien der Europäischen Union unvereinbar ist, war ferner nicht entschei­dungs­er­heblich. Auch im Fall einer unterstellten Unions­wid­rigkeit des Policenmodells ist es dem - im Wesentlichen - ordnungsgemäß belehrten Versi­che­rungs­nehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehler­haf­tigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen wider­sprüch­licher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Berei­che­rungs­ansprüche herzuleiten.

Vorlage an EuGH zum Einwand von Treu und Glauben nicht erforderlich

Zum Einwand von Treu und Glauben war eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ebenfalls nicht erforderlich. Die Maßstäbe für dessen Berück­sich­tigung sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt und die Annahme rechts­miss­bräuch­lichen Verhaltens steht in Fällen wie dem vorliegenden damit in Einklang. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zum unions­recht­lichen Grundsatz des Rechts­miss­brauchs in dessen Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a. aaO). Für den Bereich der Lebens­ver­si­che­rungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktritts­rechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können. Das gilt sowohl für die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung als auch für die Richtlinien 2002/83/EG und die Solvabilität II-Richtlinie.

Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben zulässig

Dabei müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a. aaO). Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof im Anschluss an seine Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a. aaO) für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorver­trag­lichen Mittei­lungs­pflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Versi­che­rungs­nehmers auf Rücktritt vom Versi­che­rungs­vertrag bestätigt (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versi­che­rungs­verträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 zur Richtlinie 2002/83/EG). Damit kommt es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechts­miss­brauch und dessen Voraussetzungen hier nicht an, sondern im Bereich der Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien ist ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien - wie hier - nicht beeinträchtigt wird.

Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (pm/ab)

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