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Dokument-Nr. 1077

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Urteil12.10.2005BundesgerichtshofIV ZR 162/03, IV ZR 177/03 und IV ZR 245/03
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BGHZ 164, 297Sammlung: Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ), Band: 164, Seite: 297
  • DB 2005, 2686Zeitschrift: Der Betrieb (DB), Jahrgang: 2005, Seite: 2686
  • MDR 2006, 204Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2006, Seite: 204
  • NJW 2005, 3559Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2005, Seite: 3559
  • VersR 2005, 1565Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht (VersR), Jahrgang: 2005, Seite: 1565
  • WM 2005, 2279Wertpapier-Mitteilungen Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM), Jahrgang: 2005, Seite: 2279
  • ZIP 2005, 2109Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP), Jahrgang: 2005, Seite: 2109
Für Details Fundstelle bitte Anklicken!
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil12.10.2005

Mehr Rechte für Versicherte - Kunden von Lebenspolicen können mehr Geld bei vorzeitiger Kündigung erwartenRückkaufswerte werden neu berechnet

Der Bundes­ge­richtshof (BGH) hat in einer Grundsatz­entscheidung die Rechte vieler Lebens­versicherungs­kunden nachhaltig gestärkt. Er hat über die Ersetzung unwirksamer Klauseln in den Allgemeinen Bedingungen der kapital­bil­denden Lebens­ver­si­cherung im Treuhän­der­ver­fahren nach § 172 VVG entschieden.

Der BGH erklärte durch zwei Urteile vom 9. Mai 2001 (Bundes­ge­richtshof zur Wirksamkeit von Klauseln in Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen) auf eine Verbandsklage des Bundes der Versicherten Klauseln in Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot für unwirksam. Es handelte sich um Klauseln über die Berechnung der beitragsfreien Versi­che­rungssumme und des Rückkaufswerts, die Verrechnung von Abschlusskosten und einen Stornoabzug. Der BGH sah die im Trans­pa­renz­mangel liegende unangemessene Benachteiligung darin, dass den Versi­che­rungs­nehmern die mit der Beitrags­frei­stellung und der Kündigung insbesondere in den ersten Jahren verbundenen erheblichen wirtschaft­lichen Nachteile nicht deutlich gemacht werden. Sie liegen darin, dass wegen der zunächst vollen Verrechnung der Sparanteile der Prämien mit den im Wesentlichen aus der Vermitt­lungs­pro­vision bestehenden einmaligen Abschlusskosten ("Zillmerung") in den ersten Jahren keine oder allenfalls geringe Beträge zur Bildung einer beitragsfreien Versi­che­rungssumme oder eines Rückkaufswerts vorhanden sind.

Die von den Urteilen unmittelbar betroffenen Lebens­ver­si­cherer ersetzten die für unwirksam erklärten Klauseln mit Zustimmung eines Treuhänders nach § 172 Abs. 2 i.V. mit Abs. 1 des Versi­che­rungs­ver­trags­ge­setzes (VVG) durch inhaltsgleiche, ihrer Meinung nach nunmehr transparent formulierte Klauseln. § 172 VVG wurde im Zuge der europarechtlich gebotenen Deregulierung des Versi­che­rungs­markts im Jahre 1994 in das Versi­che­rungs­ver­trags­gesetz eingefügt. Andere Lebens­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen, deren Allgemeine Bedingungen gleichartige Klauseln enthielten, gingen ebenso vor. Insgesamt dürften davon 10 bis 15 Millionen Verträge betroffen sein, die zwischen Ende Juli 1994 und Mitte 2001 abgeschlossen worden sind.

Zahlreiche Versi­che­rungs­nehmer haben die Urteile vom 9. Mai 2001 zum Anlass genommen, ihre Lebens­ver­si­cherung zu kündigen und im Wege der Stufenklage den Rückkaufswert ohne Verrechnung mit Abschlusskosten und ohne Stornoabzug geltend zu machen. Sie sind unter anderem der Ansicht, das Verfahren der Klause­ler­setzung nach § 172 VVG sei nur auf reine Risiko­ver­si­che­rungen gemäß § 172 Abs. 1 VVG anwendbar, nicht jedoch auf die kapitalbildende Lebens­ver­si­cherung. Jedenfalls komme eine Klause­ler­setzung bei bereits gekündigten Verträgen nicht mehr in Betracht. Keinesfalls sei es zulässig, eine wegen Intransparenz für unwirksam erklärte Klausel durch eine inhaltsgleiche zu ersetzen. Diese Fragen sind in Literatur und Rechtsprechung umstritten.

Der Bundes­ge­richtshof hat über die Revision gegen drei landge­richtliche Berufungs­urteile entschieden. Das Landgericht Hannover (VersR 2003, 1289) hat den beklagten Versicherer verurteilt, dem Versi­che­rungs­nehmer über die Höhe des Rückkaufswerts ohne Berück­sich­tigung von Abschlusskosten und ohne Stornoabzug Auskunft zu erteilen. Das Landgericht Aachen (VersR 2003, 1022) hat die Klage der Versi­che­rungs­nehmerin abgewiesen. Das Landgericht Hildesheim hat den beklagten Versicherer verurteilt, der Versi­che­rungs­nehmerin Auskunft über die Höhe des Rückkaufswerts ohne Berück­sich­tigung von Abschlusskosten zu erteilen. Seiner Ansicht nach ist es inter­es­sen­gerecht, die Abschlusskosten wie bei der "Riester-Rente" auf einen längeren Zeitraum zu verteilen (nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AltZertG in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung mindestens 10 Jahre; so schon dieselbe Kammer des Landgerichts Hildesheim in einem anderen Urteil, VersR 2003, 1290). Die Landgerichte haben die Revision zugelassen.

Der Bundes­ge­richtshof hat die Urteile der Landgerichte aufgehoben und wie folgt entschieden:

1.

§ 172 Abs. 2 VVG ist auch auf die kapitalbildende Lebens­ver­si­cherung anwendbar und nicht nur auf die Risiko­ver­si­che­rungen im Sinne von § 172 Abs. 1 VVG. Das Gesetz gibt den Lebens­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen das Recht, bei allen Arten der Lebens­ver­si­cherung ohne Zustimmung der Versi­che­rungs­nehmer unwirksame Bestimmungen in den Versi­che­rungs­be­din­gungen mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders durch neue Bestimmungen zu ersetzen, wenn zur Fortführung des Vertrages dessen Ergänzung notwendig ist. Die damit verbundene Einschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten Vertrags­freiheit der Versi­che­rungs­nehmer ist nicht verfas­sungs­widrig. Sie ist im Interesse der Rechts­si­cherheit und der nach § 11 Abs. 2 des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes (VAG) gebotenen Gleich­be­handlung aller Versi­che­rungs­nehmer sachlich notwendig.

2.

Die verfas­sungs­rechtlich geschützten Interessen derjenigen, die von der gesetzlichen Einschränkung der Vertrags­freiheit betroffen sind, müssen jedoch hinreichend gewahrt werden. In verfah­rens­recht­licher Hinsicht ist dies dadurch sichergestellt, dass die neuen Klauseln sowohl im Indivi­du­a­l­prozess als auch im Verbandsprozess der unein­ge­schränkten richterlichen Inhalts­kon­trolle unterliegen. Materiell ist dem Schutzbedürfnis der Versi­che­rungs­nehmer durch eine die Voraussetzungen und Wirkungen des § 172 Abs. 2 VVG präzisierende und einschränkende Auslegung Rechnung zu tragen. Die Ergänzung ist im Sinne von § 172 Abs. 2 VVG zur Fortführung des Vertrages notwendig, wenn durch die Unwirksamkeit der Bestimmung in den Versi­che­rungs­be­din­gungen eine Regelungslücke im Vertrag entsteht. Das ist der Fall, wenn die Unwirksamkeit die Leistungs­pflichten der Parteien betrifft. Da die Unwirksamkeit einer Klausel dazu führt, dass der Vertrag von Anfang an lückenhaft war, wirkt die lückenfüllende Vertrags­er­gänzung auf den Zeitpunkt des Vertrags­ab­schlusses zurück. § 172 Abs. 2 VVG erfasst deshalb auch gekündigte und beitragsfrei gestellte Verträge.

3.

Die von den beklagten Versi­che­rungs­un­ter­nehmen mit Zustimmung eines Treuhänders vorgenommene Ersetzung der unwirksamen Klauseln durch (ihrer Meinung nach) transparent formulierte inhaltsgleiche Bestimmungen ist unwirksam.

a)

Für die unwirksame Vereinbarung von Abzügen bei Beitrags­frei­stellung und Kündigung (Stornoabzug) gibt es eine Regelung im Gesetz. Nach §§ 174 Abs. 4, 176 Abs. 4 VVG ist der Versicherer zu einem Abzug nur berechtigt, wenn er vereinbart ist. Ist die Vereinbarung wie hier unwirksam, besteht kein Anspruch auf einen Abzug.

b)

Die inhaltsgleiche Ersetzung der unwirksamen Klauseln über die Berechnung der beitragsfreien Versi­che­rungssumme und des Rückkaufswerts bei Kündigung und über die Verrechnung der Abschlusskosten unterläuft die gesetzliche Sanktion der Unwirksamkeit nach § 9 Abs. 1 AGBG, jetzt § 307 Abs. 1 BGB und ist schon deshalb mit den Grundsätzen der ergänzenden Vertrags­aus­legung nicht zu vereinbaren. Bei inhaltsgleicher Ersetzung blieben der Verstoß gegen das Trans­pa­renzgebot folgenlos und die wegen Intransparenz unwirksamen Klauseln mit den verdeckten Nachteilen bei Kündigung und Beitrags­frei­stellung für den Versi­che­rungs­nehmer letztlich doch verbindlich.

4.

Da die Vertrags­er­gänzung nach § 172 Abs. 2 VVG gescheitert ist, hatte der Senat im Wege der richterlichen ergänzenden Vertrags­aus­legung zu entscheiden, ob und auf welche Art die einmaligen Abschlusskosten mit den Beiträgen zu verrechnen sind. Die danach vorzunehmende Inter­es­se­n­ab­wägung führt zu folgendem Ergebnis: Bei vorzeitiger Beendigung der Beitragszahlung bleibt jedenfalls die versprochene Leistung geschuldet; der vereinbarte Betrag der beitragsfreien Versi­che­rungssumme und des Rückkaufswerts darf aber einen Mindestbetrag nicht unterschreiten. Dieser Mindestbetrag wird bestimmt durch die Hälfte des mit den Rechnungs­grundlagen der Prämi­en­ka­l­ku­lation berechneten ungezillmerten Deckungs­ka­pitals. Bereits erworbene Ansprüche aus einer vereinbarten Überschuss­be­tei­ligung werden dadurch nicht erhöht.

Urteile vom 12. Oktober 2005

Vorinstanzen:

IV ZR 162/03 - Amtsgericht Hannover – Entscheidung vom 12.11.2002 - 525 C 5344/02 ./. Landgericht Hannover – Entscheidung vom 12.6.2003 - 19 S 108/02

IV ZR 177/03 - Amtsgericht Düren – Entscheidung vom 30.10.2002 - 45 C 214/02 ./. Landgericht Aachen – Entscheidung vom 10.7.2003 - 2 S 367/02

IV ZR 245/03 - Amtsgericht Hildesheim – Entscheidung vom 28.4.2003 - 49 C 123/02 ./. Landgericht Hildesheim – Entscheidung vom 16.10.2003 - 1 S 54/03

Quelle: ra-online, Bundesgerichtshof

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