18.10.2024
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Bundesgerichtshof Urteil20.10.2016

Bundes­ge­richtshof bejaht mögliche Schadens­ersatz­ansprüche von Eltern bei Verdien­st­ausfall wegen nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellter Kinder­betreuungs­plätzeVerschulden der beklagten Kommune muss aber noch geprüft werden

Der Bundes­ge­richtshof hatte sich in mehreren Entscheidungen mit der Frage zu befassen, ob Eltern im Wege der Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Artikel 34 Satz 1 GG) den Ersatz ihres Verdienst­ausfall­schadens verlangen können, wenn ihren Kindern entgegen § 24 Abs. 2 SGB VIII ab Vollendung des ersten Lebensjahres vom zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt wird und sie deshalb keiner Erwer­b­s­tä­tigkeit nachgehen können.

Die Klägerinnen der drei Paral­lel­ver­fahren beabsichtigten, jeweils nach Ablauf der einjährigen Elternzeit ihre Vollzeit-Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Unter Hinweis darauf meldeten sie für ihre Kinder wenige Monate nach der Geburt bei der beklagten Stadt Bedarf für einen Kinder­be­treu­ungsplatz für die Zeit ab der Vollendung des ersten Lebensjahres an. Zum gewünschten Termin erhielten die Klägerinnen von der Beklagten keinen Betreuungsplatz nachgewiesen.

Klägerinnen verlangen Ersatz für entstandenen Verdien­st­ausfall

Für den Zeitraum zwischen der Vollendung des ersten Lebensjahres ihrer Kinder und der späteren Beschaffung eines Betreu­ungs­platzes verlangen die Klägerinnen Ersatz des ihnen entstandenen Verdien­st­ausfalls (unter Anrechnung von Abzügen für anderweitige Zuwendungen und ersparte Kosten belaufen sich die Forderungen auf 4.463,12 Euro, 2.182,20 Euro bzw. 7.332,93 Euro).

Landgericht gibt Klagen statt - OLG weist Klagen ab

Das Landgericht Leipzig hat den Klagen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlan­des­gericht Dresden die Klagen abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass die beklagte Stadt zwar ihre aus § 24 Abs. 2 SGB VIII folgende Amtspflicht verletzt habe; die Erwer­b­s­in­teressen der Klägerinnen seien von dieser Amtspflicht aber nicht geschützt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Klägerinnen.

BGH bejaht Vorliegen einer Amtspflicht­ver­letzung der beklagten Stadt

Der unter anderem für Rechtss­trei­tig­keiten wegen Schaden­s­er­satz­ansprüchen aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Artikel 34 Satz 1 GG) zuständige III. Zivilsenat des Bundes­ge­richtshofs hat die Urteile des Oberlan­des­ge­richts Dresden aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungs­gericht zurückverwiesen. Er hat im Einklang mit beiden Vorinstanzen das Vorliegen einer Amtspflicht­ver­letzung der beklagten Stadt bejaht. Eine Amtspflicht­ver­letzung liegt bereits dann vor, wenn der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe einem gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII anspruchs­be­rech­tigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Die betreffende Amtspflicht ist nicht durch die vorhandene Kapazität begrenzt. Vielmehr ist der verantwortliche öffentliche Träger der Jugendhilfe gehalten, eine ausreichende Zahl von Betreu­ungs­plätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte - freie Träger der Jugendhilfe oder Tages­pfle­ge­personen - bereitzustellen. Insoweit trifft ihn eine unbedingte Gewähr­leis­tungs­pflicht.

Gesetzgeber beabsichtigte mit Kinder­för­de­rungs­gesetz neben Förderung des Kindeswohls auch Entlastung der Eltern

Entgegen der Auffassung des Oberlan­des­ge­richts bezweckt diese Amtspflicht auch den Schutz der Interessen der perso­nen­sor­ge­be­rech­tigten Eltern. In den Schutzbereich der Amtspflicht fallen dabei auch Verdien­st­aus­fa­ll­s­chäden, die Eltern dadurch erleiden, dass ihre Kinder entgegen § 24 Abs., 2 SGB VIII keinen Betreuungsplatz erhalten. Zwar steht der Anspruch auf einen Betreuungsplatz allein dem Kind selbst zu und nicht auch seinen Eltern. Die Einbeziehung der Eltern und ihres Erwer­b­s­in­teresses in den Schutzbereich des Amtspflicht ergibt sich aber aus der Regelungs­absicht des Gesetzgebers sowie dem Sinn und Zweck und der systematischen Stellung von § 24 Abs. 2 SGB VIII. Mit dem Kinder­för­de­rungs­gesetz, insbesondere der Einführung des Anspruchs nach § 24 Abs. 2 SGB VIII, beabsichtigte der Gesetzgeber neben der Förderung des Kindeswohls auch die Entlastung der Eltern zu Gunsten der Aufnahme oder Weiterführung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit. Es ging ihm - auch - um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben und, damit verbunden, um die Schaffung von Anreizen für die Erfüllung von Kinderwünschen. Diese Regelungs­absicht hat auch im Gesetzestext ihren Niederschlag gefunden. Sie findet sich insbesondere in den Förde­rungs­grund­sätzen des § 22 Abs. 2 SGB VIII bestätigt. Der Gesetzgeber hat hiermit zugleich der Erkenntnis Rechnung getragen, dass Kindes- und Elternwohl sich gegenseitig bedingen und ergänzen und zum gemeinsamen Wohl der Familie verbinden.

Kommune muss für ausreichende Anzahl an Betreu­ungs­plätzen grundsätzlich uneingeschränkt einstehen

Demnach kommt ein Schaden­s­er­satz­an­spruch der Klägerinnen aus Amtshaftung in Betracht, so dass die Berufungs­urteile aufgehoben worden sind. Wegen noch ausstehender tatrich­ter­licher Feststellungen zum Verschulden der Bediensteten der Beklagten und zum Umfang des erstat­tungs­fähigen Schadens hat der Bundes­ge­richtshof die drei Verfahren nicht abschließend entschieden, sondern an das Berufungs­gericht zurückverwiesen. In diesem Zusammenhang hat er auf Folgendes hingewiesen: Wird der Betreuungsplatz nicht zur Verfügung gestellt, so besteht hinsichtlich des erforderlichen Verschuldens des Amtsträgers zugunsten des Geschädigten der Beweis des ersten Anscheins. Auf allgemeine finanzielle Engpässe kann die Beklagte sich zu ihrer Entlastung nicht mit Erfolg berufen, weil sie nach der gesetz­ge­be­rischen Entscheidung für eine ausreichende Anzahl an Betreu­ungs­plätzen grundsätzlich uneingeschränkt - insbesondere ohne "Kapazi­täts­vor­behalt" - einstehen muss.

§ 839 BGB:

Erläuterungen
(1) 1 Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. 2 [...]

[...]

Artikel 34 Grundgesetz:

1 Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verant­wort­lichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. 2 [...]

§ 24 Achtes Buch Sozial­ge­setzbuch (SGB VIII):

(1) [...]

(2) 1 Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tages­ein­richtung oder in Kinder­ta­gespflege. [...]

[...]

§ 22 Achtes Buch Sozial­ge­setzbuch (SGB VIII):

(1) [...]

(2) Tages­ein­rich­tungen für Kinder und Kinder­ta­gespflege sollen

1. die Entwicklung des Kindes zu einer eigen­ver­ant­wort­lichen und gemein­schafts­fähigen Persönlichkeit fördern,

2. die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen,

3. den Eltern dabei helfen, Erwer­b­s­tä­tigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können.

(3) [...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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